Protocol of the Session on July 7, 2011

Die Angaben über die Zahl der Opfer schwanken. Die Staatsanwaltschaft in Berlin registrierte 270 Tote. Die zentrale Ermittlungsbehörde für Regierungs- und Vereinigungskriminalität registrierte 421 Tote. Die Arbeitsgemeinschaft 13. August erfasste sogar 957 Tote an der innerdeutschen Grenze einschließlich der Fluchtversuche über das Ausland. Hinzu kommen 100 000 Verhaftungen wegen Fluchtversuchs und mehr als 200 000 politische Gefangene. Wenn man die Haftstrafen aus politischen Gründen in der DDR überschlägig addiert, dann kommt man auf 250 000 Gefängnisjahre.

Es ist eigentlich ganz gleich, welche Zahlen man bemüht. In jedem Fall zeigt sich die unerbittliche Konsequenz, mit der die SED ihr totalitäres System durchsetzte und Widerstand brach.

Für die Jüngeren ist Krieg in der Europäischen Union zu Recht völlig undenkbar geworden. Wir dürfen nie vergessen, dass uns die europäische Einigung einen Frieden gebracht hat, von dem man über Jahrhunderte in Europa nur träumen konnte. Auch das ist eine Lehre, die wir aus der Geschichte der Berliner Mauer ziehen müssen: Europa ist und bleibt im deutschen Interesse.

(Zustimmung bei der CDU)

Die Mauer gehört nunmehr seit mehr als 20 Jahren der Vergangenheit an, weil sich die Menschen in der DDR mit diesem Monument der Unfreiheit letztlich nicht abfinden wollten. Diese positive Tatsache färbt unweigerlich unsere Erinnerung an die Mauer. Ihre Geschichte ist dennoch eine traurige Geschichte und muss als solche in Erinnerung bleiben. Sie hat aber ein gutes Ende gefunden, und das ist ein Glücksfall deutscher Geschichte.

Erinnern und Gedenken brauchen einen Ort. In Berlin sind es das Mauermuseum an der Bernauer Straße, der Checkpoint Charlie - wer kennt ihn nicht? - oder die Gedenkstätte Hohenschönhausen.

In Sachsen-Anhalt sind es die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn oder das Grenzdenkmal in Hötensleben. Sie wurden von einstigen Bollwerken der Trennung zu Orten der Begegnung.

Die Gedenkstätte Moritzplatz in Magdeburg-Neustadt wandelte sich von einer U-Haftanstalt der Stasi zu einem Dokumentations- und Beratungszentrum.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Stiftung „Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt“ vermittelt wichtige Kenntnisse über die Menschenrechtsverletzungen zu Zeiten der sowjetischen Besatzungs

zone und der SED-Diktatur. Diese Arbeit ist wichtig und sollte hervorgehoben werden!

(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Frau Frederking, GRÜNE)

Wenn heute die mangelnde Kenntnis mancher Schülerinnen und Schüler über die DDR beklagt wird, dann sollten die Kritiker nicht vergessen, dass Geschichte keine Holschuld der Jungen, sondern eine Bringschuld der Älteren ist.

(Zustimmung bei der CDU und von Frau Frederking, GRÜNE)

Es ist unsere Aufgabe zu sagen, was war. Ein Land, das es versäumt, seiner Jugend die eigene Geschichte zu vermitteln, läuft Gefahr, Fehler der Vergangenheit in der Zukunft zu wiederholen. An die Vergangenheit erinnern und Demokratie gestalten, das gehört zusammen. Das zeigt, denke ich, auch diese Debatte.

Ich sage es deutlich für unsere Fraktion: Unsere Landeszentrale für politische Bildung hat deshalb in der weiteren Kenntnisvermittlung und Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit auch in der Zukunft ein wichtiges Betätigungsfeld.

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Im Vorfeld unserer heutigen Debatte haben alle CDU-/CSU-Fraktionsvorsitzenden in Deutschland in einer gemeinsamen Entschließung erklärt - ich zitiere -:

„Die Erinnerung an den 13. August 1961 ist unauslöschlicher Bestandteil deutscher Geschichte. Sie macht den unverzichtbaren Wert von Demokratie und Freiheit bewusst und soll einen Beitrag dazu leisten, dass es auf deutschem Boden nie wieder Diktatur und Unfreiheit geben darf.

Wir fordern dazu auf, allen Versuchen, den Diktaturcharakter der DDR und die fundamentalen Unterschiede zum demokratischen Rechtsstaat zu verwischen, entschieden entgegenzutreten. Dies gilt auch für relativierende Bewertungen des menschenrechtsverachtenden Charakters des Unrechtsstaates DDR. Das Thema SED-Diktatur muss als elementarer Bestandteil in jeden Geschichtsunterricht aufgenommen werden.“

(Zustimmung bei der CDU und von Frau Frederking, GRÜNE)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir müssen den Betroffenen zuhören und den Zeitzeugen das Wort geben. Wir brauchen darüber hinaus eine historische Analyse. Bei der Aufarbeitung von Unrecht leisten Behörden, Opferverbände, Geschichtswerkstätten und Museen eine wertvolle Arbeit, eine Arbeit, die, wie ich glaube, - das ist vielleicht die Überleitung zu dem nächsten Thema der Aktuellen Debatte - nie ganz erledigt

sein wird, weil die Gefahr totalitärer Ideen nie gebannt ist.

Wir sollten auch einer Verklärung der DDR entgegenwirken. Menschen, die von sozialen Errungenschaften der DDR schwärmen und den Kommunismus noch immer als das erstrebenswerte Gesellschaftsideal ansehen, lassen sich nicht durch Verweise auf den Diktaturcharakter des DDR-Systems beeindrucken. Deswegen - das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen - brauchen wir - das ist der Blick nach vorn - zukunftsfähige Antworten auf Fragen wie die nach dem sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, nach der Gerechtigkeit, nach fairer Teilhabe am Arbeitsmarkt und auf viele andere wichtige Kernfragen unserer heutigen Gesellschaftsordnung.

Herr Kollege Schröder, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Am Ende der Rede, bitte. - Wichtig ist, wenn wir um diese zukunftsfähigen Antworten ringen, der Konsens - ich hoffe, diesen gibt es auch in diesem Hohen Haus -, dass es letztlich nur eine demokratische, freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung sein kann, die die richtigen Antworten auf diese Fragen findet. - Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Schröder. Es gibt zwei Fragen, und zwar von Herrn Gallert und von Herrn Striegel. Ich gehe davon aus, dass Sie die Fragen beantworten möchten.

Herr Gallert, bitte.

Herr Schröder, eine solche Debatte ist immer auch eine Debatte über die historische Verantwortung, und sie ist auch dazu angetan, eine kritische Selbstreflektion zu realisieren. Sie haben vorhin eine historische Einschätzung der Position Ihrer Partei zur Mauer fortwährend und allgemein gültig formuliert. Diese trifft für die Ost-CDU hundertprozentig und definitiv nicht zu.

(Zustimmung bei der LINKEN - Widerspruch bei der CDU)

Entnehme ich Ihren Worten, dass die Ost-CDU in Ihrer Perspektive nichts, aber auch gar nichts mehr mit Ihrer eigenen Partei zu tun hat und dass Sie

demzufolge keine Nachfolgepartei der Ost-CDU mehr sind?

(Zurufe von der CDU)

Ich kann die Frage leicht beantworten: Ihre Schlussfolgerung ist falsch. Würden Sie suggerieren - ich unterstelle Ihnen das nicht, ich möchte das aber deutlich sagen -, dass die Ost-CDU mit wehenden Fahnen in die Gleichschaltung einer Nationalen Front gegangen ist, würden Sie ein Zerrbild der CDU zeichnen, auch der Ost-CDU.

(Zustimmung bei der CDU - Zuruf von Frau Bull, DIE LINKE)

Wir haben uns mit der Ost-CDU inhaltlich auseinandergesetzt. Die CDU hat sich Anfang der 90erJahre sehr stark - mit vielen Initiativen und Papieren - mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt. Das geht hin bis zum Verzicht auf materielle Werte, betrifft aber auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Rolle in der ehemaligen DDR. Insofern kann man für meine Partei, die heute übrigens im Landesverband Sachsen-Anhalt mehrheitlich aus nach 1990 eingetretenen Mitgliedern besteht, in der inhaltlichen Auseinandersetzung, auch mit unserer Rolle in der DDR, solche Schlussfolgerungen nicht ziehen. Dagegen würde ich mich verwahren. Ich möchte das an dieser Stelle deutlich sagen.

(Zustimmung bei der CDU)

Als nächster Fragesteller hat Herr Striegel das Wort.

Meine Frage geht in eine ähnliche Richtung wie die Frage von Herrn Gallert. Sie haben zu Recht auf die Rolle der CDU, jedenfalls der West-CDU, im Einigungsprozess und auch in den Jahren zuvor verwiesen. Sie haben zu Recht erwähnt, dass es auch darum geht, die Diktatur der DDR in der Schule aufzuarbeiten und auch die Rolle der SED dabei klar und unmissverständlich zu integrieren.

Ich frage Sie: Gilt Selbiges auch für die Rolle der anderen Blockparteien, insbesondere für die CDU? Hierbei stellt sich die Frage: Wird deren Rolle in allen Ambivalenzen, die sie hatte - das ist klar -, schon jetzt ausreichend gewürdigt? Haben Sie vor, auch die Rolle der Ost-CDU in den Geschichtsbüchern differenzierter darzustellen?

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wir können die Aktuelle Debatte gern für interessante, detailscharfe Auseinandersetzungen auch

über die Frage nutzen, worin der fundamentale Unterschied zwischen dem heutigen Rechtsstaat und der früheren DDR besteht. Gerade diese Situation, dieses Selbstverständnis der DDR, das Sie nennen, nämlich eine Diktatur des Proletariats zu sein mit dem Anspruch, dass sozialistische Demokratie Interessenübereinstimmung bedeutet, und wer nicht mitzieht, der hat einen Mangel an Aufklärung und der möge doch mitgenommen werden, führt automatisch zur Blockbildung in der Nationalen Front, in das Blocksystem unter dem Führungsanspruch der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.

Das ist ein fundamentaler Unterschied zu der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wie wir sie verteidigen und vertreten; und dazu haben wir, denke ich, allen Grund. Darüber sollten wir uns auch in der heutigen Debatte klar werden.

(Beifall bei der CDU)

Weitere Nachfragen gibt es nicht. Vielen Dank, Herr Kollege Schröder. - Als Nächster spricht für die Fraktion GRÜNE der Abgeordnete Herr Herbst.

Zuvor begrüßen wir auf der Besuchertribüne Schülerinnen und Schüler des Kurfürst-Friedrich-Gymnasiums in Wolmirstedt.

(Beifall im ganzen Hause)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, um mich bei den Kolleginnen und Kollegen der SPD dafür zu bedanken, dass sie das Thema „50 Jahre Bau der Berliner Mauer“ heute auf die Tagesordnung gesetzt haben. Nach meinem Empfinden ist dieses Thema von seiner Bedeutung her einer Aktuellen Debatte geradezu im Wortsinn angemessen.

Dieses historische Ereignis mit all seinen Folgen ist gesellschaftspolitisch wie auch individuell von einer derart dramatischen Bedeutung, dass wir eine aktuelle Debatte darüber in der Gesellschaft führen müssen, in der Gesellschaft brauchen, die über den Pflichtcharakter zyklisch wiederkehrender Gedenktage hinausgeht.