Protocol of the Session on July 7, 2011

Rückblickend muss sicherlich noch einmal daran erinnert werden, welche Funktion die Mauer in Berlin bzw. die Abriegelung der DDR-Grenze gegenüber dem Westen hatte und welche sie nicht hatte. Da stand am Anfang die Argumentation, die Mauer sei ein antifaschistischer Schutzwall. Diese These ist an mehreren Stellen absurd, zum einen weil die Grenze zu fast 100 % nach innen gerichtet war. Sie sollte nicht die DDR vor dem Westen beschützen, sondern sie sollte den Massenexodus der DDR-Bevölkerung in den Westen verhindern, vor allen Dingen derjenigen, die gut ausgebildet waren.

Zum anderen stellte die politische Einordnung der Bundesrepublik Deutschland als Kontinuum des faschistischen Reiches eine absurde These dar, die allerdings im kalten Krieg genauso beliebt war wie die umgekehrte These über die DDR als Staat der rotlackierten Faschisten.

Insofern ist es nur zu unterstreichen, wenn die historische Kommission meiner Partei in ihrer Erklärung vom 27. Juni dieses Jahres feststellt:

„Die Mauer als einen antifaschistischen Schutzwall zu rechtfertigen, war ein Missbrauch des wichtigsten demokratischen Legitimationsgutes der DDR.“

Eine weitere These damals lautete, die Errichtung der Mauer habe verhindert, dass der kalte Krieg zwischen den Blöcken an seiner Nahtstelle in einen heißen Krieg umschlägt. Falsch daran ist auf jeden Fall, dass die westlichen Alliierten einen Einmarsch in die DDR im Sinne einer Okkupation vorgehabt hätten und dass man diesen durch eine solche Grenze hätte verhindern können.

Schwieriger würde die Bewertung, wenn man die Frage nach den konkreten historischen Alternativen stellte; denn das politische Herrschaftssystem der DDR wäre bei offenen Grenzen mittel- oder vielleicht schon kurzfristig kollabiert.

Unsicherheiten gab es damals auf allen Seiten. Der berühmte Satz von Kennedy, den Herr Miesterfeldt bereits zitiert hat, bringt zum Ausdruck, dass sich im Jahr 1961 offenbar niemand in seiner Prognose sicher gewesen wäre, wenn die Ereignisse so gekommen wären.

Heute ist es sicherlich müßig, darüber zu spekulieren. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass damals niemand gewusst hat, welche politischen Alternativen sich auf dem Höhepunkt des kalten Krieges wie ausgewirkt hätten. Insofern ist der Vorwurf des Stillhaltens des Westens beim Bau der Mauer vielleicht moralisch berechtigt, aber die Frage, welche Alternativen wirklich zur Debatten gestanden hätten, kann man heute wahrscheinlich kaum noch beantworten.

Unter dem Strich bleibt stehen, dass die Abriegelung der Grenze der DDR nach Westen ganz klar die Funktion hatte, die Menschen im Osten Deutschlands dazu zu zwingen, in der DDR zu bleiben. Damit wurde ihnen eines der grundlegenden Rechte, das Recht auf Freizügigkeit, genommen.

Die individuellen Gründe der Menschen, massenhaft die DDR zu verlassen, waren durchaus vielfältig. Zum einen waren es dezidiert politische Gründe, sich einem System zu entziehen, das sich selbst ausdrücklich als Diktatur definiert hat. Zum anderen waren es auch ökonomische Gründe, die in dem wachsenden Wohlstandsgefälle zwischen der Bundesrepublik und der DDR lagen.

Aus unserer Sicht verbietet es sich jedoch, hier eine Differenzierung oder Bewertung der Fluchtmotive vorzunehmen. Die Freizügigkeit ist ein Menschenrecht, das keiner speziellen Rechtfertigung bedarf.

(Zustimmung bei der LINKEN, bei den GRÜ- NEN und von Minister Herrn Bischoff)

Historische Wahrheit ist es auch, dass die meisten Menschen damals den unmittelbaren Zusammenhang zwischen den politischen und ökonomischen Fehlern in der DDR gesehen haben.

Insofern bleibt festzuhalten, dass der Bau der Mauer die Pervertierung der Idee einer demokratisch strukturierten und auf Emanzipation ausgerichteten Gesellschaft gewesen ist, wie sie die Grundidee des Sozialismus darstellt.

Gerade hierdurch wird deutlich, dass eine Gesellschaft ihre eigenen Ideale dann ad absurdum führt, wenn sie bereit ist, zu ihrer Sicherung Mittel anzuwenden, die diesen Idealen entgegenstehen.

(Zustimmung bei der LINKEN und von Herrn Striegel, GRÜNE)

Die Mauer und die Grenzbefestigungsanlagen haben vielen Menschen den Tod gebracht. Tausende sind nach Fluchtversuchen ins Gefängnis gekommen. Millionen Menschen wurde das Recht auf Reisefreiheit genommen. Zahllose Familien sind getrennt worden. Dafür trägt meine Vorgängerpartei maßgeblich Verantwortung. Auch daran gibt es nichts zu rütteln.

In der Begründung der Aktuellen Debatte der SPD werden wir jedoch aufgefordert, uns nicht nur zu erinnern, sondern auch Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen. An dieser Stelle werden unsere Bewertungen wohl wieder auseinandergehen, wenngleich ich gerade bei der Rede des Kollegen Miesterfeldt gemerkt habe, dass die historische Einordnung inzwischen einen sehr viel größeren Konsens erreicht hat, als wir manchmal glauben.

Natürlich kennen wir die Argumentation, die da lauten wird: Jegliche Alternative zur Marktwirtschaft würde in etwas Ähnlichem wie der Mauer enden. Wir weisen diese Argumentation eindeutig zurück, weil das Streben nach sozialer Gerechtigkeit in einer demokratisch verfassten Gesellschaft, die auf Nachhaltigkeit angelegt ist, eben nichts mit der Legitimation einer Diktatur zu tun hat, wie sie für das politische System der DDR leider kennzeichnend war.

(Zustimmung bei der LINKEN und von Herrn Striegel, GRÜNE)

Dabei handelte es sich übrigens um ein politisches System, dessen Legitimation sehr viel breiter aufgestellt war, als dass man es heute nur auf die SED beschränken könnte. Es handelte sich um ein politisches System, das deswegen relativ lange und relativ reibungslos funktioniert hat, weil es sich politischer Mechanismen bedient hat, die nicht allein in der DDR eine Rolle gespielt haben. Deswegen finden wir die Aufforderung in der Begründung der Aktuellen Debatte völlig richtig, auch Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen.

Welche Schlussfolgerungen sind das, die man 50 Jahre nach dem Bau der Mauer ziehen kann?

- Man kann durchaus würdigen, dass die Grenzen in Europa weitgehend durchlässig geworden sind. Insofern ist das Menschenrecht auf Freizügigkeit hier umgesetzt worden. Wir befinden uns aber nicht nur in Europa - das sagen wir uns gerade hier in diesem Landtag oft genug -, wir befinden uns in einer globalisierten Welt.

Wenn Freizügigkeit ein universelles Menschenrecht ist, kann es dann an den Grenzen Europas seine Gültigkeit verlieren?

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Man mag durchaus der Meinung sein, dass das Verhindern einer Einreise moralisch etwas anderes als das Verhindern einer Ausreise sei. Die Konsequenz für das Individuum ist in beiden Fällen die gleiche.

(Herr Leimbach, CDU: Nein!)

Deswegen glaube ich nicht, dass man eine solche Differenzierung wirklich durchhält.

Wenn wir uns einmal die Europäische Union in ihrer Abschottung gegenüber Einwanderern aus anderen Staaten genauer anschauen, dann sage ich: Die Europäische Union ist dabei noch nicht einmal stehen geblieben. Bis vor Kurzem ist Gaddafi von der Europäischen Union noch massiv unterstützt worden, damit er eine Ausreise in Richtung Europa verhindert.

(Herr Leimbach, CDU: Das hat doch damit nichts zu tun!)

Wenn wir also universelle politisch-moralische Bewertungskriterien anwenden, die völlig richtig zur politisch-moralischen Verurteilung des Mauerbaus führen, dann müssen wir uns auch kritische Fragen im Heute, Hier und Jetzt stellen.

(Herr Daldrup, CDU: Das ist richtiggehend falsch!)

Alles andere stellt nur eine taktische Verwendung von politisch-moralischen Bewertungsmaßstäben dar. Das ist unglaubwürdig, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Auch die generelle Frage, inwiefern beispielsweise der Schutz der so genannten freiheitlich-demokratischen Grundordnung - der Begriff selbst stellt schon eine Einschränkung gegenüber dem Grundgesetz dar - die Einschränkung von Freiheitsrechten rechtfertigt, verlangt unserer Meinung nach heute eine deutlich höhere Sensibilität.

Wir sehen mit Verwunderung, dass die Gleichen, die eine radikale und radikalste Beurteilung des politischen Systems der DDR vornehmen und diesem nicht selten eine Wesensgleichheit mit dem Nazi-Terror unterstellen, an die Frage, ob man die

Freiheitsrechte heute einengen könne, um sie zu schützen, oftmals mit anderen Maßstäben herangehen. Auch das ist nicht glaubwürdig, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Für uns gilt, dass die Mauer, die vor 50 Jahren errichtet worden ist, politisch und moralisch zu verurteilen ist und dass sie die Idee des Sozialismus radikal diskreditiert hat. Wir wollen aber auch, dass diese moralisch-politischen Bewertungsmaßstäbe in unserer heutigen Gesellschaft universelle Bedeutung haben. Wir sind der festen Überzeugung, dass nur dadurch wirkliche Glaubwürdigkeit entsteht. - Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Gallert. - Als Nächster spricht für die CDU-Fraktion der Fraktionsvorsitzende Herr Schröder.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesem Jahr jährt sich der Bau der Mauer zum 50. Mal. Sie wurde im Jahr 1961 gebaut, und im Jahr 1989 wurde sie niedergerissen.

Manche sagen heute, die Mauer sei gefallen. - Die Mauer ist nicht gefallen. Die Mauer wurde vom Freiheitswillen der Menschen niedergerissen, und zwar von Osten nach Westen.

Im Jahr 1990 wurde Deutschland wiedervereinigt. Mit der Wiedervereinigung wurde auch die Spaltung unseres Landes überwunden, für die die Mauer stand.

Gestatten Sie mir nach der Rede von Herrn Gallert, ein wenig stolz darauf zu sein, einer Partei anzugehören, die an die Einheit in Freiheit und Gleichheit über die Jahrzehnte hinweg geglaubt hat und bis heute darauf verzichtet, eine Kommunismusdebatte zu führen.

(Beifall bei der CDU - Herr Tögel, SPD: Aber nicht in allen Teilen der Republik, Herr Schröder! - Unruhe bei der LINKEN)

Die Berliner Mauer besitzt einen hohen Symbolwert. Ihre Errichtung markiert einen traurigen Höhepunkt des kalten Krieges. Die Öffnung der Mauer steht sinnbildlich für den Sturz des Kommunismus in Mitteleuropa und die die damit beginnende deutsche und europäische Einigung.

Überreste der Mauer haben einen makabren Sammlerwert. Sie werden von Touristen erworben und weltweit ausgestellt - an den verrücktesten Orten.

Die Mauer war dennoch ein Ort des Todes - ein Ort des Todes für Menschen, die aus ganz unter

schiedlichen Gründen in ihre Nähe kamen. Manche wollten ein Zeichen gegen die totalitäre DDR setzen. Viele wollten aus einer unbefriedigenden Lebenssituation fliehen. Nicht wenige kamen an die Mauer, weil sie bei den DDR-Grenztruppen Dienst schoben.

Die Angaben über die Zahl der Opfer schwanken. Die Staatsanwaltschaft in Berlin registrierte 270 Tote. Die zentrale Ermittlungsbehörde für Regierungs- und Vereinigungskriminalität registrierte 421 Tote. Die Arbeitsgemeinschaft 13. August erfasste sogar 957 Tote an der innerdeutschen Grenze einschließlich der Fluchtversuche über das Ausland. Hinzu kommen 100 000 Verhaftungen wegen Fluchtversuchs und mehr als 200 000 politische Gefangene. Wenn man die Haftstrafen aus politischen Gründen in der DDR überschlägig addiert, dann kommt man auf 250 000 Gefängnisjahre.