Protocol of the Session on November 15, 2013

Vielen Dank, Herr Grünert. - Damit ist die Debatte zu Tagesordnungspunkt 15 abgeschlossen. Es wurde eine Überweisung des Antrages in den Innenausschuss beantragt. Wer stimmt dem Antrag zu? - Das sind alle Fraktionen. Stimmt jemand dagegen? - Enthält sich jemand der Stimme? - Das ist nicht der Fall. Damit ist der Antrag einstimmig zur Beratung in den Innenausschuss überwiesen worden. Der Tagesordnungspunkt 15 ist somit beendet. Der Tagesordnungspunkt 16 wurde bereits gestern behandelt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Erste Beratung

Für eine notwendige Weiterentwicklung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion hin zu einer Europäischen Sozialunion

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 6/2553

Einbringer ist Herr Czeke. Bitte schön, Herr Czeke, Sie haben das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist nun fast ein Jahr her, dass die Europäische Kommission ein Konzept für eine vertiefte und echte Wirtschafts- und Währungsunion angenommen hat, in dem sie ihre Vision für eine starke und stabile Architektur

der politischen, finanziellen und wirtschaftlichen Komponenten der Wirtschafts- und Währungsunion darlegte.

Der Rat machte im Juni dieses Jahres wiederum darauf aufmerksam, dass die soziale Dimension verstärkt werden sollte. Er wies insbesondere auf die Berücksichtigung und Überwachung der sozial- und beschäftigungspolitischen Indikatoren hin und unterstrich die Rolle der Sozialpartner und des sozialen Dialogs auf europäischer und nationaler Ebene. Das Europäische Parlament sprach sich anschließend für einen Sozialpakt aus.

Das Vertrauen der Menschen in die europäische Politik und die EU-Institutionen ist aber ein wenig gestört und muss wieder gewonnen werden. Europa braucht eine gerechtere Politik zur Bewältigung der Krise und eine Ausweitung der demokratischen Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments und der Bürgerinnen und Bürger.

Viele Bürgerinnen und Bürger erleben die Europäische Union im Augenblick als eine Institution, die ihnen ihre soziale Sicherheit nimmt. Die Arbeitslosigkeit erreichte im Jahr 2013 Werte, die es seit 20 Jahren nicht mehr gegeben hat. Die Einkommen der Haushalte sind geschrumpft und Armuts- und Ausgrenzungsrisiko steigen. Wenn man sich einmal anschaut, wie enorm die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit in den südeuropäischen Ländern gestiegen ist, kann man das nachvollziehen.

Ich glaube, bevor wir mit der notwendigen wirtschaftlichen Integration weitergehen können, müssen wir dringend mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber ins Gespräch kommen, wie wir das Vertrauen wieder herstellen und Maßnahmen ergreifen können, die ihre soziale Sicherheit stabilisieren. Ohne soziale Mindeststandards, die die wirtschaftliche Integration begleiten, wird das Projekt der Europäischen Union scheitern.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Es ist aus meiner Sicht ein Friedensprojekt, das weit über eine ökonomische Integration hinausgeht. Aber es darf nicht zulasten der sozialen Sicherheit gehen. Wenn die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, dass sie allein in einer Krisensituation bezahlen, dann wird dieses Projekt scheitern. Ich denke, wir müssen alles dafür tun, dass das nicht passiert.

(Zustimmung von Frau Tiedge, DIE LINKE)

Deshalb fordern wir die Neubegründung einer Europäischen Sozialunion und damit die deutliche Stärkung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion. Es geht darum, das Gleichgewicht möglichst wieder herzustellen.

Der Wirtschafts- und Stabilitätspakt muss durch einen Sozialpakt ersetzt werden, der die Mitglied

staaten entsprechend ihrer Wirtschaftskraft zu verbindlichen Sozialausgaben verpflichtet. Es bedarf europaweiter Mindesteinkommen, die mindestens 60 % des nationalen Durchschnittseinkommens betragen. Eine vertragliche soziale Fortschrittsklausel sollte das Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen Freiheiten und sozialen Grundrechten, wie dem Tarif-, dem Streik- und dem Mitbestimmungsrecht, herstellen.

Wirtschaftliche Freiheiten dürfen nicht weiterhin Vorrang vor sozialen Grundrechten und sozialem Fortschritt haben und müssen im Konfliktfall sozialen Rechten den Vorrang geben. Die wirtschaftlichen Freiheiten sollten so formuliert sein, dass nationale Sozial- und Beschäftigungsgesetze nicht nur unter dem Vorwand unternehmerischer Freiheiten aufgeweicht und umgangen oder unlautere Wettbewerbsbedingungen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen herbeigeführt werden können.

Es müssen energische Schritte gegen Ausbeutung von Wanderarbeitern und Lohndumping ergriffen werden. Lohnsklaverei ist in der Bundesrepublik weit verbreitet und Schlupflöcher gibt es in Branchen ohne Mindestlohn und ohne allgemein verbindlichen Tarifvertrag. Die Beschäftigten haben die Wahl. Entweder sie arbeiten zwölf bis 14 Stunden, was häufig verlangt wird, oder sie sind ihren Job los.

Es sind Fälle aus der Fleisch- und Nahrungsmittelindustrie, der Baubranche, der Gebäudereinigung, dem Transport-, Lager- und Logistikgewerbe sowie aus der häuslichen Pflege zu verzeichnen. Viele der Beschäftigten stammen aus Ost- und Südeuropa, sprechen wenig deutsch und sind nicht in der Lage, sich selbst zu wehren. In erster Linie brauchen wir den gesetzlichen Mindestlohn.

(Beifall bei der LINKEN)

Behörden sollten so ausgerüstet werden, dass sie Schwarzarbeit, Lohnwucher und Missachtungen der Arbeitszeit- und der Arbeitsschutzbestimmungen effektiv verfolgen können. Es bedarf Beratungsstellen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterstützen, um sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt zurechtzufinden und sich ihrer Rechte bewusst zu werden. Die Schaffung einer EUweiten Arbeitslosenversicherung ist als Grundsicherung zwingend notwendig.

Der Bundesrat hat der Einführung einer europäischen Arbeitslosenversicherung in seinem Beschluss vom 3. Mai 2013 zunächst auf der Grundlage der geltenden Verträge eine Absage erteilt. Im Zuge künftiger Vertragsänderungen muss dieses Thema unbedingt erneut aufgegriffen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Die EU-weite Mobilität, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, muss durch weitere Verbesserungen

der gegenseitigen Anerkennung der in den EUStaaten erworbenen Abschlüsse gestärkt werden. Zudem müssen die Ruhestandssysteme in den EU-Staaten durch die Förderung des aktiven Alterns zum Wachstum in Europa beitragen. Gleichzeitig muss die Alterssicherung jedoch ein angemessenes und nachhaltiges Instrument sowie ein Kernstück des europäischen Sozialmodells bleiben, um den Lebensstandard für ältere Menschen in Europa aufrechtzuerhalten.

Öffentliche Dienstleistungen wie Bildung und medizinische Versorgung müssen ausgebaut und kostenlos erbracht werden, insbesondere auch im ländlichen Raum. Statt eines Lohn- und Steuerwettbewerbes muss es einen Kampf um hohe Sozialstandards in der EU geben.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Die Europäische Sozialbank muss demokratisch kontrolliert und auf die Ziele Beschäftigung und Nachhaltigkeit verpflichtet werden. Statt einer Rüstungsagentur bedarf es einer Abrüstungsagentur und einer solidarischen Entwicklungspolitik.

Wir lehnen es ab - das haben wir gestern bereits besprochen -, dass die knappen EU-Mittel zu Lasten der Landwirtschaft und der Regionalförderung und zugunsten des Ausbaus der Außen- und Sicherheitspolitik umgeschichtet werden. Ich erwähne hier nur, dass ganz still und heimlich Riesenbeträge dem Agrarteil entnommen und für das Vorhaben „Galileo“ geparkt wurden.

In Sachsen-Anhalt müssen die ab dem Jahr 2014 weniger werdenden EU-Mittel stärker für Soziales und für den Arbeitsmarkt eingesetzt werden.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Die Bevölkerung ist effektiver vor gesundheitsschädlichen Produkten und Lebensmitteln zu schützen. Das Vorsorgeprinzip und der Gesundheitsschutz müssen durch effektive Kontrollen gewährleistet werden. Dazu müssen die Veterinär- und Lebensmittelaufsichtsämter personell und finanziell aufgestockt werden.

Jüngste Entwicklungen in Brüssel zeigen eindrucksvoll, wie Solidarität in Europa weiter abgebaut wird und Sparzwänge und Sanktionen in den Vordergrund rücken. Im Ausschuss für regionale Entwicklung des Europaparlaments wurde die allgemeine Verordnung für die Fördermittelpolitik abgestimmt.

Sollte dieser Bericht in der nächsten Woche so im Plenum die Mehrheit finden, dann hat das letzte Stündlein für die solidarische Fördermittelpolitik geschlagen. Denn dann gibt es größtenteils nur noch Fördermittel für Mitgliedstaaten, die die europäischen Verschuldungskriterien einhalten. Das bringt Projektträger und Projektfinanzierer in große Unsicherheiten. Sie müssen nun fürchten, dass

Fördermittelzusagen von der EU-Seite gestrichen werden.

Angesichts der alle Ebenen der EU betreffenden Feststellungen zur Notwendigkeit der Stärkung der sozialen Dimension steht der Landtag in der Verantwortung, sich nicht nur hiermit zu befassen, sondern auch die Landesregierung in die Pflicht zu nehmen, konkrete Initiativen gegenüber dem Bund, im Bundesrat und in den Mitwirkungsgremien der EU zu ergreifen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Dies kann und muss unter regelmäßiger Einbeziehung der Sozialpartnerinnen auf regionaler und kommunaler Ebene mit dem Ziel der Neubegründung einer Europäischen Sozialunion erfolgen. Ansonsten wird sie scheitern.

Das Prinzip der Solidarität gilt doch neben Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Frieden als einer der elementaren Werte der Europäischen Union. Der Markt für sich genommen produziert keine Solidarität unter den Regionen und Mitgliedstaaten in Europa.

Die Solidarität und das Zusammengehörigkeitsgefühl sind aber die Grundlage der europäischen Einigung und der Weiterentwicklung der Europäischen Union. Beginnen wir also hier in SachsenAnhalt weltoffen und im Herzen Europas. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Czeke. - Für die Landesregegierung spricht jetzt Staatsminister Herr Robra. Bitte schön, Herr Minister.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Sitzung des Europäischen Rats im Oktober dieses Jahres begrüßten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die Mitteilung der Europäischen Kommission zur sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion, auf die der Antrag Bezug nimmt.

Sie bekräftigten ein weiteres Mal, welche Bedeutung der Beschäftigung und der sozialen Entwicklung zukommt. Schon zuvor hatten sie sich in fast jeder Sitzung des Europäischen Rats mit den sozialen Folgen gerade auch der Krise und der unakzeptablen hohen Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit, auseinandergesetzt.

Ich sage das eingangs, um darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei nicht um ein strittiges Thema handelt. Die soziale Dimension gehört zu den Grundpfeilern der Europäischen Union.

Der soziale Fortschritt ist Bestandteil der nachhaltigen Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft. So ist es im Artikel 3 des EUVertrages, der die Ziele der Union näher bestimmt, festgelegt. So ist es auch Gegenstand der Strategie Europa 2020. In der angesprochenen Mitteilung heißt es dazu - ich zitiere -:

„Durch die Annahme der Strategie Europa 2020 wurde die Sozialpolitik erstmals ins Zentrum der wirtschaftspolitischen Strategie der EU gerückt. Mit Europa 2020 hat die EU Kernziele zur Anhebung des Beschäftigungsniveaus, zur Verringerung der Anzahl früher Schulabgänger, zur Erhöhung des Anteils der Personen mit Hochschul- oder gleichwertigem Abschluss sowie zur Senkung der Zahl armutsgefährdeter Menschen um mindestens 20 Millionen festgelegt.

Diese Ziele stehen im Mittelpunkt der Strategie … und prägen bereits die Sozialpolitik in der EU. So werden auf EU-Ebene angenommene Schlüsselstrategien und Maßnahmen umgesetzt, wie das im April 2012 vorgestellte Beschäftigungspaket, das Paket zur Jugendbeschäftigung von Dezember 2012 oder auch das Paket zu sozialen Investitionen von Februar 2013.“

Die Europäische Kommission schlägt in ihrer Mitteilung vom 2. Oktober 2013 die Einführung eines Scoreboards, also eines Analyseinstrumentes für das Monitoring der wichtigsten beschäftigungs- und sozialpolitischen Entwicklungen vor, um im Rahmen des jährlichen wirtschaftspolitischen Zyklus der EU und seiner Koordinierung - das ist das sogenannte europäische Semester - größere Probleme bereits im Ansatz zu identifizieren und besser zu analysieren.