Spätestens mit der nach dem 30. Januar 1933 von der Hitler-Regierung erzwungenen Notverordnung und der vom Reichspräsidenten illegal verfügten Auflösung des Reichstages am 1. Februar 1933 hätte sich zum Beispiel für den deutschen Juristenstand genügend Gelegenheit geboten, die vielfachen Gesetzes- und Verfassungsbrüche zu diagnostizieren und zu beanstanden. Auch alle weiteren im Februar 1933 erlassenen Notverordnungen brachen geltendes Recht. Entsprechende Klagen wurden aber zum Beispiel durch das Reichsgericht nicht angenommen und entschieden.
Auch die Strafgerichte zeigten sich bereits seit Mitte der 20er-Jahre unfähig und unwillig, die ausufernden rechten Gewalttaten abzuurteilen. Allerorten - so Beatrix Herlemann - begünstigten Richter die Täter, meist SA-Männer, und missachteten die Angaben der Opfer, ja, verkehrten in nicht wenigen Fällen die Vorgänge ins Gegenteil.
Ungenierte Rechtsbeugung zugunsten gewalttätiger Nazis war nicht nur an den Landgerichten Magdeburg, Halberstadt und Stendal an der Tagesordnung. Wo auf Gerichte kein Verlass mehr ist, wo Recht zu Unrecht wird, kommt Bürgerinnen und Bürgern, kommt der Zivilgesellschaft besondere Verantwortung zu.
Es gab auch in den Jahren vor 1933 eine Vielzahl von Menschen, die bereit waren, die Republik und ihre demokratischen Errungenschaften friedlich, im Falle gewalttätiger Angriffe aber auch mit der Waffe in Hand zu verteidigen.
Erinnert sei zum Beispiel an das im Jahr 1924 in Magdeburg gegründete und ansässige, reichsweit mehr als drei Millionen Menschen vereinende Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. In den entscheidenden Sommermonaten des Jahres 1932 vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten versagte jedoch auch das Reichbanner und mit ihm die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie.
Nach der Wiederzulassung von SA und SS am 14. Juni 1932 und mit der verfassungswidrigen Amtsenthebung der preußischen Staatsregierung durch Reichskanzler von Papen am 20. Juli 1932 stellte sich insbesondere der Arbeiterschaft die Frage nach aktivem Widerstand gegen diejenigen, die die Zerstörung der parlamentarischen Demokratie und der Republik betrieben.
Doch der Staatsstreich der Regierung von Papen blieb folgenlos, auch wenn allerorten Arbeiter zum Kampf aktiviert waren und der Magdeburger Oberbürgermeister Ernst Reuter Bereitschaftspolizei und Reichsbanner nach Berlin zu schicken bereit war.
„Es lag... (den Führern von Partei und Ge- werkschaften) einfach nicht, auf die spontane Kraft einer außerparlamentarischen Aktion zu setzen... und auch die kommunistische Anhängerschaft, die keineswegs durchweg glücklich war mit der Bruderkampfpolitik ihrer Partei, mitzureißen und die in ihrer Haltung nicht vorherbestimmbare Reichswehr zu neutralisieren.“
Erfolgreich hätte dies sein können; denn von Papen wurde nur von einem einzigen Reichswehrregiment unterstützt. Es bleibt nur tragisch zu nennen, dass der Widerstand gegen diejenigen, die die Republik verabscheuten, zu Beginn der 30erJahre nicht breiter auf die Straße getragen wurde.
Es mahnt uns auch heute, das Engagement derjenigen zu achten und zu unterstützen, die friedlich und entschieden für Demokratie, Menschenrechte und gegen Neonazis auf die Straße gehen und die dies im Zweifelsfall auch mit Formen des zivilen Ungehorsams tun.
Kommen wir noch einmal auf das Parlament, auf den Reichstag zurück. Dort verfügten die NSDAP und ihre deutsch-nationalen Verbündeten am 23. März 1933 zwar über eine einfache, nicht aber über eine Zweidrittelmehrheit, die zur Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes notwendig war.
Es beschämt mich als Katholiken bis heute, dass auch die Abgeordneten des katholischen Zentrums Hitler ihre Stimme gaben, Krieg und Vernichtung damit möglich machten und damit das Parlament und sich selbst aufgaben. Oder um es mit Sebastian Haffner auszudrücken:
„Der eigentlich selbstmörderische Akt, der auch den moralischen Untergang (des Zen- trums) besiegelte, bestand darin, Hitler nach dem Reichstagsbrand, nach der Errichtung von Konzentrationslagern, nach einer ganzen Serie von schamlosen Meineiden, offensichtlichen Verfassungsbrüchen und heiligen Schwüren - aufgrund bloßer... mündlicher Zusicherungen die Regierungsgewalt zu übertragen.“
Das Ermächtigungsgesetz zeugt in besonders drastischer Weise vom Unvermögen weiter Teile eines Parlaments, sich selbst ernst zu nehmen und in unbedingter Weise die Verfassung, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen.
Vermeintliche Alternativlosigkeit politischer Art ist jedoch kein Spezifikum der Weimarer Republik. Sie lebt auch in unseren Zeiten immer wieder unter
Die parlamentarische Demokratie braucht gestern wie heute die freie und äußerlich unbeeinflusste Entscheidung der Abgeordneten. Sie braucht die mutigen Stimmen für Alternativen, auch und gerade in Zeiten behaupteter Alternativlosigkeit. Sie braucht ein starkes, sich der eigenen Rolle bewusstes und die Regierung umfassend kontrollierendes Parlament.
Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten, die die Menschenrechte und die Werte der Verfassung im Parlament und im Alltag leben und verteidigen.
Ich bin mir unsicher, ob Demokratie auch Verbote braucht - manche vielleicht schon. Ich glaube, beim Thema NPD-Verbot müssen wir darüber streiten, ob das die richtige Lösung ist. Ich bezweifle es. Denn es geht dabei letztlich nicht um eine antifaschistische Mutprobe, sondern es geht um die nüchterne Betrachtung der juristischen Fakten. Ich habe große Zweifel daran, dass es uns gelingt, in Karlsruhe und im Zweifelsfall vor dem EGMR ein Verbot der NPD zu erreichen. Ich glaube, wir müssen andere Mittel zur Auseinandersetzung mit Neonazis finden.
Demokratie und Menschenrechte bleiben auch in vermeintlich gefestigten Demokratien wie der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Bonn war und Berlin ist nicht Weimar. Die derzeitige Krise der parlamentarischen Demokratie, der Verlust von Vertrauen in politische Institutionen und demokratische Konfliktlösungsmechanismen, den wir konstatieren müssen, zeigt aber, wie notwendig die tägliche Neuerfindung und Belebung von Demokratie ist.
Dafür bedarf es neben einem starken und selbstbewussten Parlament auch anderer und neuer Formen unmittelbarer Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger. Demokratie und Menschenrechte bleiben prekär, solange Neonazis, Rassisten und Antisemiten sie durch ihr Tun und Handeln bedrohen.
13 Menschen starben allein in Sachsen-Anhalt seit 1990 durch rechte Gewalt. Hunderte wurden durch Nazis und rechte Schläger verletzt. Wir müssen diese Bedrohung unseres friedlichen Zusammenlebens noch konsequenter bekämpfen und umfassend gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit aktiv werden, die nicht nur an den Rändern, sondern in der Mitte unserer Gesellschaft vorkommen und um sich greifen. Auch daran, meine Damen und Herren, gemahnt uns der 23. März 1933.
Danke schön, Herr Abgeordneter Striegel. - Damit ist das erste Thema der Aktuellen Debatte für heute abgeschlossen. Beschlüsse in der Sache werden nach § 46 der Geschäftsordnung des Landtages nicht gefasst.
Es wurde folgende Reihenfolge der Redebeiträge vereinbart: DIE LINKE, CDU, GRÜNE, SPD. Als Erster spricht für die einbringende Fraktion Herr Fraktionsvorsitzender Gallert.
Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am 14. März 2003 hat der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Regierungserklärung abgegeben, in der er versprochen hat, einen radikalen Umbau des Sozialstaates der Bundesrepublik Deutschland vorzunehmen, einen radikalen Umbau eines aus seiner Perspektive seit 50 Jahren leider verkrusteten Systems.
Man kann dem Kollegen Schröder vieles vorwerfen; eines sollte man ihm aber nicht vorwerfen: Er habe damals hochgestapelt. Jawohl, er hat den grundlegendsten Umbau des sozialstaatlichen Systems der Bundesrepublik Deutschland seit 50 Jahren auf den Weg gebracht. Er hat dies in einer Radikalität getan, von der die Menschen damals, zum Zeitpunkt seiner Rede, offensichtlich nichts ahnten.
In der heutigen Debatte wird von den Akteuren dieser Agenda 2010 und ihren Autoren oftmals beklagt, dass diese Agenda 2010 lediglich auf Hartz IV reduziert wird. Ich stimme dem ausdrücklich zu. Dies wäre zu kurz gesprungen; denn dieses Umbauprogramm Agenda 2010 war sehr viel breiter angelegt und es war sehr viel substanzieller.
Ich möchte versuchen, zumindest die wichtigsten politischen Rahmendaten und die wichtigsten politischen Maßnahmen in Erinnerung zu bringen. Ich beginne mit dem totalen Umkrempeln des Arbeitsmarktes in der Bundesrepublik Deutschland zu diesem Zeitpunkt.
Erstens gibt es eine Reihe von Maßnahmen - dazu gehört auch dieses Hartz-IV-Gesetz -, die zu einer massiven Verschlechterung der Situation von Arbeitnehmern geführt haben, für den Fall, dass sie arbeitslos wurden. Das beginnt damit, dass der
Bezugszeitraum für das ALG I, für das klassische Arbeitslosengeld, massiv gekürzt worden ist. Das ging weiter mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die sich zumindest noch im Ansatz an dem alten Bruttolohn orientiert hat.
Es setzte sich fort mit der faktischen Abschaffung fast aller Zumutbarkeitskriterien für die notwendige Wiederaufnahme einer Arbeit und mit einem völlig neuen Prinzip: Während bis zu diesem Zeitpunkt Sozialhilfe statt Arbeit gezahlt wurde, fing man jetzt an, Sozialhilfe für Arbeit zu zahlen bzw. das Ausreichen von Sozialhilfe oder Hartz IV daran zu knüpfen, dass die Menschen zumindest zum Teil Arbeit aufnahmen.
In diesem Kontext gab es eine zweite große Schiene, und zwar die Reduzierung der Zahl der klassischen unbefristeten Vollzeitarbeitsplätze in tarifgesicherten Bereichen zugunsten prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Dazu zählten die Ausweitung der Befristungsmöglichkeiten, die Präferierung der Leiharbeit und die Aufweichung des Kündigungsschutzes.
Es gab einen dritten Bereich, nämlich die Entwertung des Flächentarifvertrages zugunsten einzelbetrieblicher Lösungen.
Das war der Kern der Arbeitsmarktreform unter dem Begriff Agenda 2010. Ich sage ganz klar: All diese Maßnahmen waren aus der Sicht der Arbeitnehmer und der gesamten Gesellschaft fatale Fehler.
Welche Wirkungen hatten diese Maßnahmen auf Sachsen-Anhalt? - Ich sage mit aller Deutlichkeit: Diese Maßnahmen hatten in Sachsen-Anhalt massive Auswirkungen. Dieser Bestandteil der Agenda 2010 hatte in Sachsen-Anhalt massiven Erfolg.
Ich verwende den Begriff Erfolg ausdrücklich deshalb, weil es schon zum Zeitpunkt der Verkündung dieser Maßnahmen, schon zum Zeitpunkt dieses Beschlusses massenhaft Gewerkschafter und unter anderem einen Aufruf von 400 Wissenschaftlern aus diesem Bereich gegeben hat, die gesagt haben: Es gibt ganz klar ein Ziel, eine Konsequenz dieser Maßnahmen, und zwar die Verbilligung des Faktors Arbeit, das Drücken von Löhnen, das Drücken von Arbeitseinkommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen heute leider einschätzen, dass dies in Sachsen-Anhalt ein voller Erfolg gewesen ist.
Diese Situation haben wir heute. Wir haben die Situation, dass der Verdienst von 22 % der Menschen in Sachsen-Anhalt selbst unter der ostdeutschen Niedriglohnschwelle von 1 300 € brutto liegt. Wir haben die Situation, dass 42 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Sachsen-Anhalt
Wir haben - das ist vielleicht das krasseste Beispiel - sage und schreibe mehr als 67 000 Menschen in Sachsen-Anhalt, die Hartz IV beziehen müssen, obwohl sie arbeiten, weil ihre Arbeitseinkommen so niedrig sind, dass sie nicht einmal für den notwendigsten Lebensunterhalt ausreichen. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Skandal.