Protocol of the Session on March 22, 2013

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung von Frau Lüddemann, GRÜNE)

Allerdings gibt es - auch das sage ich ganz klar - ein Ziel, das vorgegeben wurde, das aber in Sachsen-Anhalt nicht erreicht worden ist. Das war das angebliche Ziel, man wolle mehr Arbeit schaffen. Es gibt eine Statistik des Statistischen Landesamtes, die wir am Mittwoch, dem 19. März 2013, also in dieser Woche, bekommen haben. In dieser Statistik wird verglichen: Wie viel Millionen geleistete Arbeitsstunden gab es im Jahr 2000 in Sachsen-Anhalt und wie viele gab es im Jahr 2012?

Ich kenne die ganzen Reden, die sich darauf bezogen haben, dass wir in Sachsen-Anhalt eine sinkende Arbeitslosigkeit zu verzeichnen haben - natürlich nachdem die Arbeitslosenstatistik bei der Endfassung inzwischen fünf- oder sechsmal geändert worden ist und natürlich vor dem Hintergrund, dass wir wissen, dass der demografische Kontext im Land Sachsen-Anhalt in diesen Arbeitslosenstatistiken überhaupt nicht auftaucht.

Ich zeige Ihnen einmal den Vergleich auf: In dem Zeitraum zwischen 2000 und 2012 sank der Umfang der geleisteten Arbeitsstunden um sage und schreibe 11 %. Das bedeutet: Die Arbeit hat proportional zur Bevölkerungsentwicklung abgenommen. Durch diese Arbeitsmarktreform ist nicht mehr Arbeit entstanden, sondern die Leute wurden einfach schlechter bezahlt. Das ist die Konsequenz für Sachsen-Anhalt. Deswegen ist dies falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das hat aber nicht nur für den Lohn Konsequenzen gehabt. Die Ausweitung der prekären Beschäftigung hatte noch ganz andere Konsequenzen.

Bundeskanzler Schröder hat damals gesagt: Wir wollen zum Beispiel die Befristung von Arbeitsverträgen so weit wie möglich ausdehnen, um älteren Arbeitnehmern die Chance zu geben, in Arbeit zu kommen.

Wissen Sie, was heute die Realität ist? - Für die Hälfte der unter 35-jährigen Arbeitnehmer ist ein befristeter Arbeitsplatz inzwischen bundesweit Realität. Alle Prognosen und Erhebungen besagen, dass dies in Sachsen-Anhalt noch stärker der Fall ist. Die Befristung hat dazu geführt, dass Men

schen, die in den Arbeitsmarkt kommen, kaum noch eine Chance haben, unbefristete Arbeitsplätze zu erhalten. Vielmehr bekommen sie fast nur noch befristete Arbeitsplätze.

Ich weiß, dass wir hier im Parlament massenhaft darüber diskutiert haben, welche Probleme wir mit der demografischen Entwicklung unter anderem im Land Sachsen-Anhalt haben. In diesem Zusammenhang wird über alles Mögliche geredet. Aber der glasklare Zusammenhang, dass sich junge Menschen, die keinen sicheren, dauerhaften Arbeitsplatz haben, in der Tendenz eher gegen Kinder als für Kinder entscheiden, ist einer der wesentlichen Gründe für unser demografisches Problem.

Deswegen sage ich: Die Verunsicherung am Arbeitsmarkt, gerade für junge Menschen, führt dazu, dass die Leute zu wenig Kinder bekommen. Wenn wir dieses Problem angehen wollen, dann müssen wir wieder gesicherte, dauerhafte und tariflich gebundene Arbeitsplätze schaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist viel wichtiger als viele andere Dinge, über die hier diskutiert wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einen zweiten großen Komplex zu sprechen kommen - er wird oftmals unterbelichtet -, nämlich auf die Steuerreform. Unter der Regierung Schröder/Eichel/Fischer gab es eine beispiellose Entlastung von Kapitaleignern, von Unternehmen, bei Kapitaltransfersteuern, im Bereich Erbschaftsteuer und massive Entlastungen unter anderem im Bereich der Zinseinnahmen.

Ich möchte Ihnen einmal die Dramatik vor Augen führen, auch aus der Perspektive Sachsen-Anhalts. Vom Jahr 2001 bis zum Jahr 2004 sank die Steuerquote in der Bundesrepublik Deutschland von 22,7 auf 20,0 %. Was bedeutet das? - Man hat innerhalb von drei Jahren auf etwa 10 % der Steuereinnahmen verzichtet. Es gab zwar einen realen Rückgang, aber der war natürlich nicht so klar, weil es trotzdem eine wirtschaftliche Entwicklung gegeben hat, inklusive einer Inflation. Aber man hat innerhalb von drei Jahren 10 % der Steuern an Reiche, Vermögende, Unternehmen und - dies sage ich ganz deutlich - Spekulanten, Versicherungen und Banken verschenkt. Das war die Situation, mit der wir es zu tun hatten.

Wenn wir heute über Verschuldung reden, auch in Sachsen-Anhalt, dann möchte ich einmal ausrechnen, was 10 % bedeuten. Wir hatten damals bundesweit inflationsbereinigt aus heutiger Perspektive etwa 500 Milliarden € an Steuereinnahmen. Jeder, der sich ein bisschen mit Finanzen auskennt, weiß, dass für Sachsen-Anhalt eine 3%Quote gilt: Hier leben rund 3 % der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, also haben wir etwa 3 % der Steuereinnahmen. 3 % von 500 Mil

liarden € - das ist relativ leicht auszurechnen - sind 15 Milliarden €. Das ist das, was vom Bund in dieses Land geht, zum Teil über den Umweg der EU. Das ist das, was sich im Landeshaushalt und bei den Kommunen niederschlägt.

10 % davon sind 1,5 Milliarden €. Das heißt, 1,5 Milliarden € sind im Bereich der Steuereinnahmen verloren gegangen. Das ist die Situation, die uns heute unter anderem zu dieser Verschuldung führt. Das ist die Situation, vor deren Hintergrund wir heute diskutieren.

Nun sage ich ausdrücklich: Dann gab es massenhaft Einbrüche im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge. Seitdem diskutieren wir nur noch nach unten: Abbau, Abbau, Abbau.

Aber ich sage auch: Es gab zumindest einmal eine Korrektur, und zwar eine bemerkenswerte Korrektur.

(Herr Borgwardt, CDU: Mehrere!)

Man hat gemerkt, dass die öffentlichen Haushalte auf diese Weise definitiv an die Wand fahren, und zwar ganz schnell. Dann gab es eine Korrektur, die vielen in Erinnerung geblieben ist: Zum 1. Januar 2007 erhöhte sich die Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte. Jawohl, das war eine der Ausgleichsmaßnahmen für die massenhaften Steuergeschenke an hohe Einkommen, an Unternehmen und in Bezug auf Kapitaltransfers.

Fragen Sie bitte einmal einen Studenten im ersten Semester einer Volkswirtschaft, was das ist. - Das ist das ganz klassische Modell der Umverteilung von unten nach oben. Ich senke die Steuern für die Wohlhabenden, ich senke die Steuern für die Unternehmen und ich erhöhe die Verbrauchsteuern. Das ist die ganz klassische Formel der Umverteilung von unten nach oben. Und das ist der Kern der Agenda 2010, die dazu geführt hat, dass wir noch heute die öffentliche Daseinsvorsorge abbauen und dass es eine Umverteilung von unten nach oben gibt.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Agenda 2010 wirkt heute weiter. Wir hatten in dieser Woche Diskussionen und Debatten, die auch weitergeführt werden. Dabei kommen der Ministerpräsident und sein Stellvertreter unisono zu der Position: Das Land Sachsen-Anhalt hat kein Einnahmenproblem; wir haben nicht zu wenig Einnahmen für die öffentliche Daseinsvorsorge. Nein, wir geben nur zu viel aus.

Wir geben zu viel für die Bildung in den Schulen aus. Wir geben zu viel für die Hochschulen aus. Wir geben zu viel für die Sicherheit aus. Wir geben zu viel für die Infrastruktur aus. Wir geben zu viel für Soziales aus. Das ist unser Problem.

Sie sehen es nicht so, dass wir eventuell einmal schauen müssten, wie mehr Steuern für den Erhalt

und den Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge eingenommen werden könnten. Nein, Sie sehen unser Problem darin, dass wir noch nicht genug abgebaut haben. Dazu sage ich: Das ist der ideologische Erfolg der Agenda 2010, den wir bekämpfen. Das muss gesagt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen glauben wir, dass diese Dinge bis heute verheerende Folge haben und dass sie eben mitnichten aufgearbeitet worden sind.

Wir glauben, dass es dazu sehr wohl Alternativen gibt. Übrigens hatte ich den Kollegen Steinbrück bisher auch immer so verstanden, dass er als Kanzlerkandidat gesagt hat, er werde wieder mehr Steuern in den Bereichen der Unternehmen, der höheren Einkommen und der Vermögen erheben.

Aber offensichtlich glauben weder der Ministerpräsident noch sein Stellvertreter daran, dass er das wirklich tun wird; denn ansonsten müssten sie andere mittelfristige Finanzplanungen vorlegen. Dazu sage ich: In diesem Punkt stimme ich Ihnen beiden übrigens ausdrücklich zu, lieber Herr Kollege Bullerjahn. Diese Skepsis teile ich.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte kurz auf einen dritten Bereich eingehen: die Schwächung der solidarischen Sicherungssysteme. Ausdrücklich angesagt war: Wir wollen raus aus den klassischen sozialen solidarischen Umlagesystemen, hin zur privaten Vorsorge, also hin zur Privatisierung von Lebensrisiken und zur Privatisierung von Vorsorge. Es kamen die Riester-Rente, die Zuzahlung, die Praxisgebühr usw.

Auch das war eine klare Fehlentwicklung. Wir wissen doch heute, wie sicher kapitalgedeckte Rentenversicherungssysteme sind. Das haben wir mit der Geschichte im Jahr 2009 erlebt. An der Riester-Rente verdient nur einer wirklich gut, nämlich die Banken und Versicherungen, die sie abschließen; nicht aber die Menschen, die dafür zahlen und schon gar nicht der Steuerzahler, der es finanziert.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gab einen nächsten Tabubruch, auch der darf nicht vergessen werden: die Aufkündigung der Parität. Bisher gab es immer eine paritätische Finanzierung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber in diesem Bereich. Mit der Agenda 2010 ist diese paritätische Finanzierung erstmals aufgehoben worden. Die Lasten sind ausschließlich einer Seite, nämlich dem Arbeitnehmer, auferlegt worden und nicht mehr dem Arbeitgeber.

Auch das sind übrigens Dinge, die von der CDU und der FDP dankbar aufgenommen und weiter

entwickelt worden sind. Auch das ist eine Fehlentwicklung für eine solidarische Gesellschaft. Deswegen wollen wir zur Parität zurück.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich komme zum Fazit, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Agenda 2010 hat zu einer Erosion der gesellschaftlichen Solidarität, zu einer Reduzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, zu einer Umverteilung von unten nach oben und zu einem massiven Abbau von Arbeitnehmerrechten geführt. Sie führte zu einer Polarisierung der Gesellschaft. Dies bezeichnen wir heute als neoliberalen Umbau. Wir lehnen diese Entwicklung bis heute grundsätzlich ab. Wir haben für alle diese Wege alternative Konzepte aufgelegt und alternative Konzepte vorgestellt.

Eines sage ich ganz klar: Wer sich heute hinstellt und sagt, er sei für eine solidarische Gesellschaft und für die Teilhabe eines jeden, aber gleichzeitig diesen neoliberalen Umbau der Agenda 2010 verteidigt, der ist zutiefst unglaubwürdig. Man kann sich dafür entscheiden. Man kann sich auch, wenn man heute inzwischen so weit ist, dagegen entscheiden. Aber eines geht nicht: beides miteinander zu vereinbaren. Das ist unglaubwürdig und das merken die Menschen draußen im Land. - Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke schön, Herr Abgeordneter Gallert. - Wir fahren in der Debatte fort. Für die Landesregierung spricht Herr Minister Bischoff.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Agenda 2010 ist ziemlich genau zehn Jahre alt. Übrigens ist die letzte Stufe der Agenda 2010 im Jahr 2005 in Kraft getreten. Vorher sind andere Maßnahmen in Kraft getreten, auf die Herr Gallert eben hingewiesen hat.

Ich möchte zwei Dinge vorweg sagen. Ich rede für die Landesregierung. Wenn heute nicht der Bundesrat tagen würde und der Ministerpräsident hier wäre, würde er hier vorn stehen. Da er aber nicht anwesend ist, rede ich jetzt für die Landesregierung. Es ist immer ein bisschen schwierig, wenn man als Sozialdemokrat gleichzeitig - das kennen die GRÜNEN auch - für die Koalition und für die Regierung redet. Ich werde trotzdem versuchen, es differenziert zu machen.

Für mich ist jedenfalls klar - das ist so, solange ich in der Politik bin -: Es gibt Entwicklungen, die kann man im Nachhinein kritisieren, die kann man im Nachhinein anders sehen - dann muss man umsteuern. Keine der Fraktionen und Parteien hier im Land lässt sich allein auf die Vergangenheit fest

legen und sagt: Weil in der Vergangenheit einmal falsche Weichenstellungen vorgenommen worden sind, muss das immer so bleiben. Dann muss man sie korrigieren. Das möchte ich zuerst sagen. Das gehört, glaube ich, zur Redlichkeit dazu.

In meiner Erinnerung war der Vorläufer der Agenda 2010 ein Papier von Schröder und Blair. Ich weiß, dass das unter Sozialdemokraten auch ziemlich umstritten war; denn es hatte dieselbe Tendenz: mehr Selbstverantwortung übernehmen, weniger Staat, mehr Fordern und Fördern und bestimmte Maßnahmen, die wir heute auch kritisch sehen.

Ich komme zu einer zweiten Vorbemerkung. Man muss das auch ein Stück weit im Kontext der Entwicklung in diesen Jahren sehen. Es gab damals die Angst - das kann ich noch nachvollziehen -, dass die Arbeitslosigkeit enorm zunimmt. Das war in anderen europäischen Ländern, in Deutschland und auch in Sachsen-Anhalt so.

Die Agenda 2010 war der Versuch, durch Fordern und Fördern und durch einen Umbau tatsächlich mehr Möglichkeiten zu bekommen, um Menschen in Arbeit zu bringen. Das war zumindest in diesem Kontext so. Die Zahlen dazu möchte ich nicht vortragen, aber das lässt sich belegen.

Zu den negativen Dingen gehörte, dass im Saldo die Arbeitslosigkeit damals bei 22 % lag und noch anstieg. Sie fiel letztlich auf den heutigen Stand von teilweise unter 10 %. Das ist natürlich mit einigen negativen Dingen erkauft worden, die eben schon angesprochen worden sind.