Protocol of the Session on November 13, 2015

Ob diese Zuwanderung die Sozialsysteme in dieser Art belasten wird, wissen wir erst, wenn wir überhaupt Integration versucht haben

(Zurufe von der CDU)

und wenn wir sehen, wie viele Menschen, die zu uns kommen, hier ihre Heimat finden wollen, sich hier ausbilden lassen wollen, in die Schule gehen wollen und arbeiten wollen. Das wissen wir heute noch nicht. Deshalb halte ich es für falsch, diese Ängste zu produzieren.

(Beifall bei der SPD, bei der LINKEN und bei den GRÜNEN - Zuruf von der CDU)

Ein zweiter Kommentar trägt den Titel „Angstmacher“. Er setzt sich mit dem Schäuble-Vergleich auseinander, dass die anhaltende Flüchtlingsbewegung eine Lawine mit nicht abschätzbaren negativen Folgen sei, und sagt ganz klar, das sei so nicht in Ordnung, man müsse auf die Sprache achten; hierbei hätten Politikerinnen und Politiker eine Verantwortung; damit schüre man Ängste und das sei unangebracht.

Schaut man sich die Bilder der beiden Kommentatorinnen an, liegen zwischen ihnen, wenn ich es einschätzen sollte, 20 bis 30 Lebensjahre. Vielleicht, meine Damen und Herren, - vielleicht! - haben wir auch unter uns einen Generationenkonflikt. Vielleicht sind jüngere Mengen sehr viel offener,

weil sie in einer offeneren Gesellschaft aufgewachsen sind, weil sie auch mehr Menschen, die zugewandert sind, kennen. Bei meinen Kindern ist das so. Ich kenne viele, die Kinder in dem Alter haben, die auch sagen, dass ihre Kinder damit ganz anders umgehen.

Es besteht vielleicht die Hoffnung, dass es mehr Offenheit in einer nachwachsenden Generation gibt und dass wir so gemeinsam die Integration schaffen.

(Starker Beifall bei der SPD - Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren! In den nächsten Wochen und Monaten wird sich entscheiden, ob im März 2016 wieder Feinde der Demokratie in den Landtag von Sachsen-Anhalt einziehen können. Der Landesvorstand meiner Partei hat am Dienstag in einem Beschluss jede Zusammenarbeit mit der AfD, der NPD und anderen offen rassistischen oder rechtsextremen Parteien ausgeschlossen.

(Starker Beifall bei der SPD, bei der LINKEN und bei den GRÜNEN - Zustimmung von Herrn Scheurell, CDU)

Ich würde gern alle im Landtag vertretenen Parteien dazu einladen, eine solche Haltung in dem anstehenden Wahlkampf gemeinsam zu vertreten. - Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Starker, langanhaltender Beifall bei der SPD - Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe bis jetzt bei keinem der Redner das Gewaltmonopol im Falle einer Überschreitung der Redezeit in Anspruch genommen. Ich werde dies auch bei den nächsten beiden Rednern nicht tun, weil die Debatte einfach sehr wichtig ist.

Wir freuen uns, Schülerinnen und Schüler des Herder-Gymnasiums in Halle zu begrüßen.

(Beifall im ganzen Hause)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht jetzt Herr Kollege Striegel. Bitte, Herr Abgeordneter.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist gut drei Jahre her - am 20. September 2012 -, dass der Landtag von SachsenAnhalt der pogromartigen Ausschreitungen gegen eine Unterkunft von Asylbewerberinnen in Quedlinburg im Jahr 1992 gedachte und die rassistischen Pogrome der beginnenden 90er-Jahre in Ostdeutschland thematisiert hat. Ich bin entsetzt,

dass wir uns heute erneut mit einer rassistischen Mobilisierung auseinandersetzen müssen, die in Teilen an die der 90er-Jahre anschließt, die ihre Militanz auf diese aufbaut und die in ihrer Breitenwirkung, jedenfalls in Ostdeutschland, über sie hinausgeht.

In den ersten neun Monaten des Jahres 2015 gab es bundesweit 9 595 rechte Straftaten, darunter deutlich mehr als 600 Gewalttaten. In SachsenAnhalt sprechen wir im selben Zeitraum von mehr als 1 000 Straf- und Gewalttaten. Das lässt die Dimension des Problems erahnen.

Für alle, die sich seit Jahren mit den Phänomenen Neonazismus, Rassismus und Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit auseinandersetzen, ist die Erkenntnis, dass insbesondere rassistische Ressentiments in Ostdeutschland und Bayern auf einen großen Resonanzraum treffen, nicht neu. Wir müssen davon ausgehen, dass rund ein Drittel der Ostdeutschen über rassistische Einstellungsmuster verfügt.

Der Thüringen-Monitor hat vor wenigen Tagen die Erkenntnis erbracht, dass 25 % der Bevölkerung in Thüringen rechtsextreme Einstellungen haben. Es gibt keine Hinweise darauf, dass das in SachsenAnhalt wesentlich anders ist.

Angesichts der in der letzten Woche bekannt gewordenen Entgleisungen zweier Vorsitzender des Philologenverbandes zeigt sich in erschreckender Klarheit, dass kulturrassistische Ressentiments, Sexismus und neurechte Ideologieelemente bei Weitem kein Privileg der Dummen sind. Sie finden in der aktuell zugespitzten Situation auch Platz in der öffentlichen Argumentation formal hoch gebildeter Menschen, denen es aber offenbar an Herzensbildung und einer tatsächlich gelebten Praxis universaler Menschenrechte fehlt.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Wir haben es in den letzten eineinhalb Jahren erlebt, dass diese Ressentiments in den zu uns kommenden Geflüchteten einen Kristallisationspunkt gefunden haben. Rassistische Bürgerbewegungen setzen auf dieses Thema. Organisierte Neonazis von NPD, „Die Rechte“, „Der dritte Weg“ und Kameradschaften haben zum Teil strategisch angelegte Kampagnen begonnen, mit denen sie gegen die Unterbringung von Geflüchteten mobilmachen.

Aber, Herr Ministerpräsident, die rassistische Gewalt wird nicht durch Flüchtlinge ausgelöst, sondern durch Neonazis und Rassisten verantwortet. Insofern fand ich Ihre Rede hier heute sehr schwierig.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN - Zurufe von der CDU)

In erinnere in diesem Zusammenhang an den vom sogenannten Dritten Weg veröffentlichten und breit gestreuten Leitfaden, mit dem Nachbarinnen zukünftiger Flüchtlingseinrichtungen Informationen und ein Methodenset an die Hand bekommen, um die Errichtung von Unterbringungseinrichtungen mithilfe politischer Aktionen und juristischer Expertise systematisch zu untergraben.

In Dresden laufen derweil seit mehr als einem Jahr Tausende, zum Teil Zehntausende, unter „Lügenpresse“-Rufen einem vorbestraften Kleinkriminellen hinterher, der gegen die vermeintliche Islamisierung hetzt. In vielen ostdeutschen und wenigen westdeutschen Städten finden sich Ableger dieser Gida-Bewegung. Auch dort werden Unzufriedenheit, Verdrossenheit, Demokratieferne und Rassismus mit Verschwörungstheorien vermengt und zu einer gefährlichen Mischung zusammengekocht. Mit der AfD hat die bei Pegida aktive Bevölkerungsgruppe erstmals eine parteipolitische Ausformung erhalten, die vom völkischen Nationalismus eines neurechten Björn Höcke oder André Poggenburg getragen und nur von Rassismus zusammengehalten wird.

Wir haben es in den letzten Monaten erlebt, dass aus rassistischem Gedankengut Hetze im Netz und auf der Straße wurde. Die Zahl der rassistischen Versammlungen und Demonstrationen, organisiert durch AfD, NPD, „Die Rechte“ und rassistische Bürgerinitiativen ist in Sachsen-Anhalt auf einem Höchststand.

Wir erleben, dass rechte und rassistische Gewalt, die in unserem Bundesland seit Jahren ein Problem ist, massiv ansteigt. Die Zahl der Angriffe hat sich nach den Zahlen der Mobilen Opferberatung wie denen der Polizei mehr als verdoppelt. In Magdeburg sollten Bürgerwehren gegründet werden. Zudem haben sich Hooligans zu einer kriminellen Vereinigung zusammengetan und sich zu einem massiven Angriff auf Geflüchtete verabredet.

Das ist kein Einzelfall. Wir erleben, dass hier und an andere Stelle Geflüchtete, Flüchtlingshelferinnen und auch demokratische Politikerinnen und Politiker ins Fadenkreuz von Neonazis geraten. Auch dies geschah zuletzt in Magdeburg, als mein Fraktionskollege Sören Herbst und Politikerinnen der LINKEN konkrete Todesdrohungen erhielten und ihr Eigentum beschädigt wurde.

Der Angriff ist einer von rund 500 in den vergangenen fünf Jahren. Es sind Angriffe, von denen besonders Politikerinnen und Politiker der LINKEN, der SPD und der GRÜNEN betroffen waren, die darauf zielen, das Engagement dieser demokratischen Akteure für Geflüchtete und gegen Nazis und Rassismus zu brechen. Das Attentat eines Rechtsterroristen gegen die damalige Bürgermeisterkandidatin Henriette Reker in Köln bedeutete eine weitere Eskalation dieser Angriffe.

Wir beklagen auch nahezu tägliche Angriffe auf geplante, bereits fertiggestellte und auch bewohnte Flüchtlingsunterkünfte. In Sachsen-Anhalt stieg die Zahl dieser Angriffe nach offiziellen Zahlen um den Faktor zehn. Wir erleben besonders in Sachsen, dass Unterkünfte für Geflüchtete belagert werden und dass ein rassistischer Mob versucht, die Belegung von Immobilien unmöglich zu machen.

In diesem ostdeutschen Herbst ist die Erosion der politischen Mitte in vollem Gange. Teile der Gesellschaft scheinen inzwischen weitgehend von demokratischen politischen Prozessen und demokratischen Akteuren entkoppelt zu sein. Wir stehen angesichts der Wahlerfolge der AfD in Sachsen, Thüringen und Brandenburg und der aktuellen ostdeutschen Umfragewerte der Partei im deutlich zweistelligen Bereich vor der Herausbildung eines stabilen rechtspopulistischen Blocks in der Bundesrepublik Deutschland. Die im Entstehen begriffene neurechte Bürgerbewegung entpuppt sich dabei als dunkler Teil der Zivilgesellschaft, in der, getragen durch eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, fundamentale Menschenrechte und demokratische Standards nicht mehr als gesichert gelten können.

Sich selbst als besorgte Bürger bezeichnende Menschen, Neonazis und Hooligans bauen auf den Straßen und vor den Unterkünften rassistische Bedrohungsszenarien auf. Gerade die Hooligan- und Neonaziszene greift dabei auf Gewalt zurück und sieht sich in ihrem Handeln als Vollstrecker eines vermeintlichen Volkswillens. Politische Gegner werden als Volksverräter gebrandmarkt. Einzelne Beteiligte sind dabei in der Lage, auf Erfahrungen aus den 90er-Jahren zurückzugreifen, wo sie beispielsweise an den Magdeburger Himmelfahrtskrawallen beteiligt waren.

Der Lack der Zivilisation scheint angesichts von Galgen vor Unterkünften, breit geteilten Aufrufen zur Selbstjustiz und allgemeinen Verleumdungen von Geflüchteten auf zum Teil eigens dafür eingerichteten Plattformen außerordentlich dünn geworden zu sein. Staat und Gesellschaft, also wir, haben auf diese Bedrohung von Demokratie und Menschenrechten noch keine Antwort gefunden.

Ich frage mich, weshalb in Sachsen-Anhalt Polizei und Justiz gegenüber solchen Entwicklungen so zurückhaltend reagieren. Wo bleibt die klare und konsequente Antwort des Rechtsstaates auf die öffentliche Verabredung zu Straftaten? Wo bleibt der Ermittlungsdruck auf Portalbetreiber, die ausschließlich Hass und Hetze verbreiten,

(Zurufe von der CDU und von Ministerin Frau Prof. Dr. Kolb - Unruhe bei der CDU)

wie der ehemalige „Blood & Honour“-Kader in Halle? - Während in Berlin inzwischen Dutzende Tatverdächtige Hausbesuche erhielten und Computer beschlagnahmt wurden, teilten Ermittlungsbehör

den in diesem Land viel zu oft mit, man könne nichts gegen die Hetze tun. Das ist falsch. Ich erwarte, dass zum Beispiel das Cyber Crime Competence Center endlich auch hierzulande konsequent auch in diesem Straftatenbereich ermittelt.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Rassistische Täter müssen, egal ob online oder offline, die Härte und Konsequenz des Rechtsstaates erfahren. Gesellschaftlich droht uns die Sprechfähigkeit über politische Differenzen hinweg abhanden zu kommen. Moralische Appelle laufen zunehmend ins Leere. Es fehlt an einer tatsächlich geübten demokratischen Praxis, die sich in Ostdeutschland ganz offenbar auch in den letzten 25 Jahren nicht hat etablieren können. Wenn gut die Hälfte der Bevölkerung für die Beteiligung an Wahlen nicht mehr mobilisiert werden kann, dann halte ich das für ebenso dramatisch wie den immer wieder spürbaren Mangel an Konfliktfähigkeit in der ostdeutschen Gesellschaft. Der ist - Kollegin Budde hat darauf verwiesen -

(Frau Feußner, CDU: Oh!)

vielleicht auch eine Frage von Generationen.

Was aber sind Aktivierungskräfte für die Demokratie? - Es sind ganz sicher nicht die von der Landesregierung initiierten Kampagnen zur Hebung der Wahlbeteiligung. Wer in diesen Tagen die Demokratie stärken will, der muss sich auf die Suche begeben, wo und von wem demokratische Grundwerte und universale Menschenrechte verteidigt werden. Hier lohnt der Blick auf die Tausenden, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit engagieren und die unsere tatsächliche Unterstützung brauchen,

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

die von Neonazis dafür angefeindet und von ihrem eigenen sozialen Umfeld hinterfragt werden, weil sie sich für „die Falschen“ engagieren, sich also nicht für Angehörige des eigenen Volkes starkmachen, die ihren Urlaub aufbrauchen, um mit Geflüchteten Behördenbesuche zu organisieren, oder die im Ruhestand aktiv werden, um als Arzt in der ZASt in Halberstadt Untersuchungen durchzuführen. Diese Menschen halten die Laterne der Demokratie auch in finsteren Zeiten hoch. Und sie tun das häufig unter Einsatz persönlicher Ressourcen, während staatliche Stellen Überforderung signalisieren.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Ich finde es in diesem Zusammenhang infam, wenn der Verfassungsschutz antirassistisches Engagement und den Einsatz für Flüchtlinge unter den Verdacht stellt, linksextrem zu sein, und den be

stehenden strukturellen Rassismus schlicht negiert. Es waren Antifaschisten und Antirassisten, die sich in den letzten Monaten immer wieder schützend vor Unterkünfte gestellt haben. Sie haben damit Demokratie und Menschenrechte verteidigt.