Protocol of the Session on January 26, 2001

Herr Fikentscher, ich akzeptiere Ihre Ausführungen bis zu einem Punkt. Meinen Sie wirklich, dass es nur ein ungünstiger Zeitpunkt des Interviews war, oder denken Sie nicht auch, dass die Aussage grundsätzlich - so klar und deutlich ist es heute eben nicht von unserem Minister herübergekommen - so nicht getroffen werden kann?

Ich frage noch einmal, ob Ihnen bekannt ist, dass sich viele Arbeitslose nicht auf die Fensterbank lehnen, sondern in ihren Wohnungen verkriechen, weil sie sich dafür schämen, dass sie arbeitslos sind. Ich frage auch noch einmal, ob bekannt ist, wie viele bei den Gemeindeämtern Schlange stehen, vor allen Dingen auch Frauen in diesem Land, die Arbeit möchten, denen man keine zuweisen kann und die sich Arbeiten zumuten wie die Trümmerfrauen im Jahr 1946. Ist Ihnen das bekannt?

Ja, natürlich ist mir das bekannt.

(Frau Theil, PDS: Dann empfinde ich die Äuße- rungen in diesem Interview als sehr arrogant!)

Ich kann nur sagen, dass ich mich bemüht habe, das so differenziert auszudrücken.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Wiechmann, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Herrn Kollegen Scharf zur Sache waren derart ausführlich, dass es sich erübrigen würde, in der Sache noch viel hinzuzufügen. Gestatten Sie mir dennoch einige Worte.

Ich habe das Interview im „Spiegel“ vom 15. Januar natürlich gelesen. Ich war in meiner Meinungsbildung zunächst gar nicht so sehr entschlossen; denn ich fand es in manchen Punkten gar nicht so abwegig, in anderen Punkten jedoch sehr abwegig.

Die Metapher vom „Jammer-Ossi“, die Herr Minister Gabriel soeben noch einmal gebraucht hat, möchte ich zurückweisen. Herr Minister Gabriel, sagen Sie das bitte Ihrem Genossen Bundestagspräsidenten in Berlin und nicht uns; denn er hat die Jammerei par excellence vorgeführt.

Herr Minister Gabriel, Ihre Ausdrucksweise in Bezug auf die Arbeitslosen - das wurde wiederholt gesagt - war ganz einfach - ich sage es ganz höflich - unsensibel. Welcher Teufel mag Sie geritten haben zu sagen, die Arbeitslosen hingen aus den Fenstern und legten ein Kissen unter, um keine Schwielen an den Ellenbogen zu bekommen?

Ich selbst habe natürlich mit Turnhemden bekleidete Menschen schon an der Tankstelle gesehen; aber das war doch nicht die Mehrzahl der Menschen, die dort ihr Arbeitslosengeld oder ihre Sozialhilfe an den Mann brachten, und zwar zu erhöhten Preisen, wie Sie das gesagt haben.

Die Zahl von mehr als einer viertel Million Arbeitslosen in diesem Land wurde hier schon mehrere Male genannt. Diejenigen, die in der Hängematte des Sozialwesens unseres Landes liegen und sich ausruhen, bilden doch wohl nur einen verschwindend kleinen Bruchteil der Leute, die ohne Arbeit sind, die ihr nachrennen und, wie eben nochmals gesagt wurde, Schlange stehen um jeden einzelnen Arbeitsplatz.

Sicherlich hat Sachsen-Anhalt derzeit eine höhere Beschäftigungsquote als Rheinland-Pfalz, gleichzeitig hat es jedoch auch die höchste Arbeitslosenquote, nämlich über 20 %.

Herr Minister Gabriel, ich finde es gut und richtig, dass der Wirtschaftsminister Sachsen-Anhalts nicht einfach nur zuschauen will, wenn zur Arbeit nicht bereiten Arbeitslosen das Zuhausebleiben auf Staatskosten durchfinanziert wird. Diesbezüglich bin ich der gleichen Meinung wie Sie. Aber ich finde es nicht so sehr gut, die gesamte Ostförderung als Auslaufmodell zu bezeichnen.

Als sehr wichtig erachte ich auch weiterhin den Ausbau im Bereich der Infrastruktur, da es noch längst nicht

genügend wettbewerbsfähige Strukturen gibt. Niemand in diesem Hause wird bestreiten wollen, dass auf diesem Gebiet seit dem Jahr 1990 bereits gewaltige Leistungen vollbracht worden sind; aber das reicht noch nicht aus. Die Infrastruktur muss auch über das Jahr 2004 hinaus gefördert und von der Bundesregierung finanziert werden.

Der Wirtschaftsstandort Ostdeutschland muss im Ausland noch stärker als Tor zu Osteuropa bekannt gemacht werden. Deshalb sind die Verbesserung und der Ausbau von regionalen Wirtschaftsstrukturen - mit „regional“ meine ich aber nur Sachsen-Anhalt, nicht Regionen innerhalb Europas und damit deutschlandweit - auch nach dem Jahr 2004 besonders wichtig.

Dazu fallen mir noch die Stärkung im gewerblichen und industriellen Bereich sowie die weitestgehende Förderung des Mittelstandes ein, wie sie gestern ausführlich Gegenstand der Aktuellen Debatte war.

Wenn der Solidarpakt Ost im Jahr 2004 ausläuft, müssen wir über eine Anschlussregelung, die unter der Prämisse „Hilfe zur Selbsthilfe“ laufen sollte, nachdenken, um dem immer noch bestehenden Wirtschaftsgefälle zwischen Ost und West effektiv entgegenzuwirken.

Ich möchte noch auf zwei Gutachten vom RWI und vom DIW aufmerksam machen, die einen jährlichen Investitionsbedarf von 33 Milliarden DM für die Infrastruktur ausweisen. Weiterhin ist dort zu lesen - ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis -, schreibe man den Trend beim Abbau der Investitionslücke fort, so sei erst 2030 mit einem Aufholen des Rückstandes zu rechnen. Die Finanzkraft der Ostkommunen - so heißt es weiter - werde bis 2004 geschätzt nur 45 % des Westniveaus erreichen.

Diesen Aussagen renommierter Wirtschaftsinstitute ist nichts hinzuzufügen. Sie sind nicht vom Tisch zu wischen.

Wir stimmen dem Antrag der CDU-Fraktion zu. - Ich bedanke mich bei Ihnen.

(Beifall bei der FDVP)

Frau Dr. Sitte hat jetzt für die PDS-Fraktion das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Beim Lesen des „Spiegel“-Interviews vom 15. Januar 2001, welches Minister Gabriel gegeben hat, stockte auch mir zeitweise der Atmen, allerdings auch zeitweise bei seiner heutigen Rede. Es vermischen sich in den Antworten bzw. in den Ausführungen nicht nur ganz verschiedene Problemfelder auf teilweise unzulässige Weise, es vermischen sich auch richtige und falsche Feststellungen oder Vorschläge. Es zeigen sich aber auch Haltungen, die ich schlicht für falsch halte und die zu Recht auch heftig kritisiert worden sind.

Ich werde mich bemühen, der Differenziertheit der Problematik gerecht zu werden, werde mich aber dabei dennoch eng an der Vorlage, also an dem gegebenen Interview, entlangarbeiten. Ich werde es also genauso wie die CDU handhaben, Herr Scharf. Unsere Sprunghöhen und Flugkurven liegen dabei doch dicht beieinander.

(Lachen bei der CDU)

Herr Gabriel, Sie sagen in Ihrem Interview, niemand traue sich, eine ehrliche Bilanz zu ziehen. Das wäre

wohl ein echtes Armutszeugnis für jeden Minister oder für jeden politisch Verantwortlichen. Ich meine, dass wohl vielmehr davon ausgegangen werden kann, dass es diese Klarheit mit ziemlicher Tiefe gibt. Fraglich ist lediglich, ob man es im politischen Entscheidungsprozess und im politischen Handeln zur Grundlage erhebt. Und wenn sich der Wirtschaftsminister dem anschließt, dann muss er zwangsläufig zu der Schlussfolgerung kommen, dass wir es sehr wohl mit einer spezifisch ostdeutschen Problemlage zu tun haben.

Es gab im Westen auch in den schwächsten Regionen keinen Prozess des Wegbrechens von Märkten, des Zusammenbrechens von Unternehmen und des massiven Arbeitsplatzabbaus in so kurzer Zeit. Von den Dimensionen waren selbst Krisenerfahrene überrascht. Eine besondere Verschärfung erfuhr die Situation durch eine Infrastruktur, die noch als deutlich unterentwickelt bezeichnet werden musste, wenn man sie mit der in den Altländern verglich.

In den vergangenen Jahren hat es eine deutliche Entwicklung zum Positiven gegeben. Allerdings haben sich Märkte, Unternehmen sowie deren Branchen- und Größenstruktur, die Arbeitsmarkt- und die soziale Situation wie auch die Infrastruktur in unausgewogenem Verhältnis zueinander entwickelt. Das allein macht schon ostdeutsche Spezifik aus.

Es bedarf also auch weiter einer spezifischen Ostförderung, die in einen nächsten Solidarpakt münden sollte. Dieser wird in seinen Strukturen dem erreichten Entwicklungsstand anzupassen sein. Die Ostförderung stellt sich aber nicht prinzipiell infrage. Sie ist damit kein Auslaufmodell. Die Konferenz der ostdeutschen Wirtschaftsminister - das war auch das Hauptthema des Vortrages von Herrn Scharf - vom 11. und 12. Januar 2001 hat das mit ihren Schlussfolgerungen eindrucksvoll belegt.

Worüber aber in der Tat geredet werden muss, ist ein langfristig tragfähiges Konzept zum Länderfinanzausgleich. Beide Diskussionen finden zurzeit aber durch dieses Interview forciert überlagert statt. Sie dürfen sich aber nicht vermischen, sonst liegen der Neusortierung der Bemessungs- und Verteilungsmechanismen falsche Ausgangsannahmen zugrunde, insbesondere soweit sie den Osten betreffen.

Gerade unter dem Blickwinkel der Verhandlungen zum Solidarpakt ist Minister Gabriel zu Recht inhaltlich kritisiert worden. Deshalb erübrigt sich fast der Hinweis auf den unglücklich gewählten Zeitpunkt und auf den Umstand, dass die Landesregierung dazu auch nach außen einen anderen Standpunkt vertritt.

Es macht nach unserer Auffassung aber relativ wenig Sinn, den Minister lediglich in die Reihe zurückzurufen. Vielmehr ist der Standpunkt inhaltlich zu diskutieren, um eben aus gleichen Grundpositionen heraus die Landespolitik profilieren zu können. Diesbezüglich haben Sie völlig Recht. Dabei wird es vermutlich auch ähn- liche Diskussionen im Landesverband der SPD geben müssen.

Abschließend ein Wort zu Ihrer Sicht auf das bestehende Sozialsystem und auf diejenigen, die darauf angewiesen sind: Zu Ihren Beispielen und Bildern hat es harte Kritik von allen Seiten gegeben, auch von uns. Diesbezüglich hätte man gerade von Ihnen mehr Differenziertheit erwarten müssen. Leserbriefe in Zeitungen zeigen aber auch in der Gesellschaft eine Polarisierung in den Meinungen.

Tragischerweise hilft Ihre Betrachtungsweise, Herr Minister, Arbeitslosigkeit als subjektives Schicksal und als Eigenschuld zu betrachten.

(Zustimmung bei der PDS)

Vorhin tauchte bereits die Zahl auf. Den 267 342 Arbeitslosen im Land stehen nur 9 489 Stellen zur Verfügung, also für nur 3,5 % der Suchenden. Frau Bull hat darauf hingewiesen, Herr Dr. Fikentscher ebenfalls.

Es macht angesichts dieser Situation und der Lage von kleinen und mittleren Unternehmen im Land Sinn, die Fördermöglichkeiten der Bundesanstalt für Arbeit den Realitäten und Erfordernissen anzupassen. Förderungen in den ersten Arbeitsmarkt hinein bei mehr Freiräumen für die Länder und Kommunen könnten Effekte freisetzen, die die Beschäftigten ebenso motivieren wie Arbeitgeber, weil es stabile Perspektiven für neue Beschäftigungsverhältnisse geben kann.

Dazu bedarf es aber eben auch der Änderungen auf Bundesebene, und dazu müssten auch Sie Ihren Beitrag leisten. Dann braucht Ihnen keine D-Mark mehr Leid zu tun.

Wir fordern Sie daher auf, Ihre Gegenvorschläge zur Diskussion zu stellen, was Sie aber nicht davon entlastet, sich auch unter den gegebenen Rahmenbedingungen engagierter für die effektivere Anwendung bestehender Regelungen und für die Erhaltung in Not geratener Unternehmen im Land einzusetzen.

Sie können sich - das will ich unbedingt am Ende noch sagen - das Ossi-Etikett dann vom Revers zupfen und Sie können genau dann aus der Ossi-Schublade krabbeln - um in Ihrem Bild zu bleiben -, wenn sich die Lebensverhältnisse in Ost und West wirklich angeglichen haben. Dann fällt nämlich auch die Ursache für diese Klassifizierung und für diese Diskriminierung, die wir manchmal empfinden, weg. - Danke schön.

(Zustimmung bei der PDS)

Die DVU-FL-Fraktion hatte Herrn Büchner als Redner gemeldet. Herr Büchner ist aus persönlichen Gründen nicht anwesend. Er bittet darum, dass seine Rede zu Protokoll genommen wird. Ich weiß, dass es ernsthafte Gründe sind, aus denen er nicht anwesend sein kann, sodass ich Sie bitte, dies zu gestatten. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann wird die Rede zu Protokoll gegeben.

(Zu Protokoll:)

Der Wirtschaftsminister Herr Gabriel hätte nach der Maßregelung des Abgeordneten Herrn Hoffmann, damals Vorsitzender des Finanzausschusses, eigentlich wissen müssen, dass es nicht ungefährlich ist, die Wahrheit zu sagen, und wenn es sich wie in diesem Fall, dem „Spiegel“-Interview, auch nur um die halbe Wahrheit handelt.

Richtig ist, wie Sie gesagt haben, Herr Minister, dass die Wiedervereinigung für beide Seiten ein gigantisches Geschäft ist, kam doch die von vielen Bürgern lang ersehnte Einigung just zu dem Zeitpunkt, da sich die alte Bundesrepublik in einem Zustand tiefster Rezession befand. Wir Bürger aus der ehemaligen DDR in unserem Wendekaufrausch kurbelten dank der günstigen Währungsumstellung die Konjunktur kräftig an.

Nach der Ernüchterung und dem Vergleich von Ost und West mussten wir jedoch feststellen, dass die DDR trotz des Fleißes der meisten ihrer Bürger zu einem Entwicklungsland verkommen war. Infrastruktur war fast überhaupt nicht vorhanden und viele Industriezweige konnten auf dem nun offenen Weltmarkt nicht mehr konkurrieren. Es gab also viel zu tun und es wurde viel getan.

Wir geben Ihnen Recht, Herr Minister, dass die Verteilung der Mittel nicht mehr nach Ost-West-Kriterien erfolgen sollte, allein schon um die Mauer in den Köpfen zu beseitigen. Nicht dass sich die einen immer als Geber fühlen und die anderen als Almosenempfänger. Sachsen-Anhalt hat doch als ewige rote Schlussleuchte Deutschlands nichts zu befürchten. Wir werden noch lange am Tropf hängen. Dass gerade die PDS die Beibehaltung des Geldvergabesystems Ost-West fordert, wundert uns nicht; weiß man doch noch aus alten Zeiten, wie gut es ist, ohne viel Arbeit an die D-Mark zu kommen.