Protocol of the Session on January 26, 2001

Wir geben Ihnen Recht, Herr Minister, dass die Verteilung der Mittel nicht mehr nach Ost-West-Kriterien erfolgen sollte, allein schon um die Mauer in den Köpfen zu beseitigen. Nicht dass sich die einen immer als Geber fühlen und die anderen als Almosenempfänger. Sachsen-Anhalt hat doch als ewige rote Schlussleuchte Deutschlands nichts zu befürchten. Wir werden noch lange am Tropf hängen. Dass gerade die PDS die Beibehaltung des Geldvergabesystems Ost-West fordert, wundert uns nicht; weiß man doch noch aus alten Zeiten, wie gut es ist, ohne viel Arbeit an die D-Mark zu kommen.

Herr Minister, warum Sachsen-Anhalt das Schlusslicht in Deutschland ist, liegt in erster Linie an der Lage auf dem Arbeitsmarkt, und das betrifft Ihr Ressort. Sie sollten für ein investorenfreundliches Klima in unserm Land sorgen. Wenn sich 267 000 Arbeitslose um vorhandene 9 500 Arbeitsplätze streiten sollen, dann kann man Ihr Gerede von Eigeninitiative schon als Sarkasmus auffassen. Ihnen als gelerntem Statistiker bräuchte man eigentlich nicht vorzurechnen, dass auf eine freie Stelle 28 Arbeitslose kommen.

Rechnet man die Pendler, welche sich in anderen Bundesländern verdingen, noch hinzu, so sieht die Bilanz noch trostloser aus. Ich kenne Leute, die ihre Arbeitskraft weit unter Tarif anbieten und dafür täglich 60 km zur Arbeit fahren. Die noch längst nicht ausgegorene Ökosteuer trifft diese Leute besonders hart. Aber sie tun es, weil sie die von Ihnen erwähnten Leistungen des Sozialstaates nicht in Anspruch nehmen wollen.

Was die soziale Lage im östlichen Teil unseres Vaterlandes angeht, hat nun wieder Ihr Parteigenosse Herr Thierse Recht, wenn man weiß, dass jede zweite Mark - welche die Kommunen einnehmen - für Sozialleistungen ausgegeben werden muss. Man kann schon sehr wohl behaupten, dass das Sozialsystem auf der Kippe steht.

Ihre Beschreibung der Arbeitslosen lässt jede Sensibilität vermissen, und das bei einem Minister, in dessen Parteinamen sich das Wort „sozial“ verbirgt. Sollten Sie auch im Einzelfall Recht haben, so kann doch niemand behaupten, dass 20 % der Bevölkerung Sachsen-Anhalts nicht arbeiten will. Die Menschen wollen arbeiten, aber es sind nicht genügend Arbeitsplätze da, wie bereits erwähnt.

Wenn jemand schon vom Schicksal geschlagen wird und ihn die Arbeitslosigkeit ereilt, so gönnen wir ihm doch, Herr Minister, das billige Vergnügen, aus dem Fenster gucken zu dürfen. Und wenn einige Leute im Turnhemd an der Tankstelle rumhängen, wie Sie zu sagen pflegen, so bemerkt der flüchtige Beobachter gar nicht, dass es vielleicht das letzte und einzige Hemd ist. So gut ist unser Sozialsystem ja nun doch nicht, dass der Arbeitslose in Versace-Anzügen an der Tankstelle rumhängen kann.

Wir sollten immer daran denken, dass diese Leute in die Arbeitslosen- und Sozialkassen eingezahlt haben, als sie noch die Möglichkeit hatten, dies tun zu dürfen. Auf die Mitarbeit in Parteien und Vereinen hinzuweisen kann schon als Verhöhnung gelten. Fast niemand liegt gerne

in der sozialen Hängematte, aber sich deshalb noch verhöhnen zu lassen, das haben unsere deutschen Landsleute nicht verdient, hat doch der Staat genug Geld für Menschen, die nichts in die Kassen eingezahlt haben.

Für die CDU-Fraktion hat der Abgeordnete Herr Gürth das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das „Spiegel“-Interview eilte bereits der eigentlichen Veröffentlichung voraus. Die Medien spekulierten an dem Wochenende schon: Es gab ein interessantes Interview mit Minister Gabriel.

Ich dachte mir, ein interessantes Interview mit Minister Gabriel, das muss etwas Tolles sein. Dann las ich es im „Spiegel“ und dachte mir: Hoppla, Herr Minister Gabriel, im Big-Brother-Zeitalter müssen Sie aufpassen, dass Sie nicht nominiert werden.

(Herr Weich, FDVP, lacht)

Es kam so, wie wir es uns alle hätten ausmalen können. In Sachsen-Anhalt fand eine aufgeregte Diskussion statt. Und wie das immer der Fall ist, wenn jemand Thesen vertritt, die, egal ob sie gut oder schlecht sind - ich will sie nicht qualitativ bewerten -, jenseits des Zeitgeistes liegen, werden bei solchen Geschichten natürlich immer Einzelheiten zugespitzt weitergegeben. Über diese zugespitzten Einzelheiten wird dann auch debattiert.

Mit besonderem Interesse habe ich natürlich beobachtet, wie wohl die PDS-Fraktion darauf reagieren wird. Frau Fraktionsvorsitzende Dr. Sitte hat in ihrer Reaktion für die PDS-Fraktion auf das Interview von Herrn Minister Gabriel im Wesentlichen eine Debatte über die Grundlagen des Systems des ersten und des zweiten Arbeitsmarktes geführt, wie man damit umgehen muss, wer welche Vorschläge macht und was die Regierung tut.

Wenn ich die Rede richtig nachlese - ich werde dies tun; ich hoffe, ich bekomme sie schriftlich, denn ich würde das sehr gern tun -, dann werde ich wahrscheinlich nochmals feststellen, Frau Abgeordnete Sitte, dass man, wenn man Ihnen folgt, in der PDS eigentlich zu der Schlussfolgerung kommen müsste, dass Minister Gabriel eine interessante und vielleicht notwendige Debatte angestoßen hat. Darin müsste man Ihnen Recht geben.

Wenn das nicht der Fall ist, wie das eigentlich die Mehrheit in der Öffentlichkeit und auch Ihre Fraktion artikuliert, dann frage ich mich nach den Konsequenzen und nach Ihrer Strategie.

Ich darf aus der „Volksstimme“ zitieren - dort hat die PDS die Glaubwürdigkeit der Regierung als „dauerhaft beschädigt“ angesehen -: „Die Glaubwürdigkeit dieser Landesregierung bleibt mit diesem Wirtschaftsminister dauerhaft beschädigt.“ - O-Ton in der PDS-Fraktion.

Weiter: „Der Minister handele gegen die Interessen Ostdeutscher“ und „Wirtschaftsminister Gabriel zeuge von wenig Sachverstand in Bezug auf die Wirtschaftslage im Osten.“

Nun stellt sich mir und sicherlich vielen im Lande zwangsläufig folgende Frage: Wenn Sie meinen, dort ist ein Minister, der hat keine Ahnung, er ist inkompetent, er

schadet diesem Land und diese Regierung ist unglaubwürdig, warum wollen Sie diese Regierung mit diesem Minister dem Land noch eineinhalb Jahre zumuten? Wo sind Ihre Konsequenzen aus solchen Aussagen?

(Zustimmung bei der CDU - Unruhe bei der PDS - Zuruf von Frau Dr. Sitte, PDS)

Das heißt, die PDS ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.

(Zustimmung bei der CDU - Lachen bei der PDS)

Je näher der Wahltermin rückt und je mehr man sich auf den Dienstwagen und eine Mitregierung in ordentlichen Ministerämtern freut, desto weniger kann man von Ihnen tatsächliches Handeln verlangen. Die PDS selbst schluckt immer mehr Kröten und verliert insoweit auch ihr Profil.

(Frau Dr. Sitte, PDS: Das werde ich Sie einfach vortragen lassen!)

Ich frage mich allerdings in Bezug auf Herrn Minister Gabriel Folgendes: Sie hatten als Begründung für Ihr Interview genannt, dass Sie sich über die Thesen von Herrn Bundestagspräsidenten Thierse ärgern. Darüber kann man geteilter Meinung sein. Aber das ist ein Argument, das man verstehen kann. Aber warum haben Sie sich nicht über die Thesen Ihres Regierungschefs geärgert?

Zum Jahresbeginn 2000 konnte man Herrn Höppners „Visionen“ - so die Überschrift einer großen Tageszeitung in diesem Land - lesen: Man kann feststellen, dass im letzten Jahr wieder 17 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse im Saldo weniger im Land waren. - Was ist Herrn Höppners Vision? Welche Antwort hat Herr Höppner auf diese Tatsache für das Jahr 2001? - Er möchte über ABM noch einmal 20 000 Menschen in ein Beschäftigungsverhältnis bringen. Das ist Ihre Antwort.

Wenn Sie die Thesen von Herrn Thierse und Ihre Thesen zum zweiten Arbeitsmarkt aufrechterhalten wollen - ich diskutiere gern mit Ihnen -, dann schaffen Sie erst einmal Klarheit in dieser Regierung, damit das Land weiß, was eigentlich hier Sache ist.

Dann kommt ein nächster Punkt. Wenn man in den Archiven nachschaut, dann wird man feststellen, dass auch der Ministerpräsident schon einmal ähnliche Thesen äußerte. Er hat den Arbeitslosen mangelnde Motivation unterstellt. Vor nicht allzu langer Zeit hat Ministerpräsident Höppner festgestellt, dass vielen Arbeitslosen, die auch in ABM und anderen Maßnahmen beschäftigt sind, die Motivation fehlt. Ich frage mich: Ist das jetzt eine Strategie? Haben Sie Ihre Strategie und Ihre Politik geändert?

Ich möchte zu diesem Punkt noch einmal den Abgeordneten Herrn Scharf zitieren: Wir werden es auf keinen Fall zulassen, dass Sie mit einer Doppelstrategie durch das Land reisen und jedem Menschen das erzählen, was er hören will, aber unterschiedlich handeln. Wir können nicht zulassen, dass Sie vor den Arbeitgebern andere Reden halten als vor den Arbeitslosen. Das ist unglaubwürdig und das werden wir nicht zulassen.

(Zustimmung bei der CDU)

Hinzu kommt: Herr Minister Gabriel, wenn Sie die Sinnhaftigkeit des zweiten Arbeitsmarktes und teilweise auch die Fehlentwicklungen ansprechen, die es in einzelnen

Bereichen gibt, die aber nicht pauschal zu nennen sind, warum haben Sie dann zugelassen, dass in SachsenAnhalt mithilfe der PDS auch noch ein dritter Arbeitsmarkt entsteht?

(Zustimmung bei der CDU)

Ich möchte noch einen zweiten Punkt ansprechen, weil dieser auch für die Glaubwürdigkeit des Amtes wichtig ist, damit man, wenn Sie richtige Aussagen machen, auch richtige Aussagen unterstützen kann.

Ein letztes Beispiel: die GA. Das ist das wichtigste Förderprogramm in den neuen Bundesländern. Wir haben in die GA hineingeschrieben - das ist erst vor wenigen Wochen aus dem Wirtschaftsministerium gekommen -, dass wir den Kommunen die Fördersätze um 10 % kürzen, wenn sie bei der Erschließung von Gewerbegebieten nicht den zweiten Arbeitsmarkt in Anspruch nehmen. Insofern muss man darüber nachdenken, ob beides zusammengehört, wie wir damit umgehen und wie generell die Strategie dieses Landes ist.

Ich freue mich, dass Herr Abgeordneter Fikentscher zugesagt hat, unserem Antrag zuzustimmen. Ich hoffe, wir werden im Ergebnis dieser Debatte von der Landesregierung eine einheitliche Strategie hören, wie sie die Interessen des Landes nach außen vertreten will; denn so, wie das momentan passiert, kann es sich das Parlament nicht bieten lassen. Ich hoffe, Herr Ministerpräsident Höppner, Sie sorgen noch für Klarheit, damit man weiß, woran man in diesem Land ist.

(Beifall bei der CDU)

Herr Ministerpräsident, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu dem Interview und seinen Wirkungen und Nebenwirkungen ist, glaube ich, in der Debatte genug gesagt worden. Ich selbst habe mich dazu bereits öffentlich geäußert. Insofern möchte ich mich jetzt gern darauf beschränken, die Gelegenheit wahrzunehmen, um Ihnen zu berichten, wie wir - übrigens schon morgen - bei der Ministerpräsidentenkonferenz, die in Wiesbaden zum Thema Solidarpakt stattfinden wird, verhandeln werden und was unsere Strategie und unsere Zielsetzungen dabei sind.

Wir haben unter meiner Federführung als Vorsitzender der Ost-Ministerpräsidentenkonferenz im Jahr 2000 eine große Wegstrecke hinter uns gebracht. Dass das klappen würde, war keineswegs selbstverständlich.

(Zustimmung bei der SPD)

Wir hatten uns überlegt, dass wir objektive Fakten brauchen, die die Situation in den neuen Bundesländern möglichst präzise beschreiben, wenn wir in diese Verhandlungen gehen. Deswegen hatten wir Gutachten in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse sind - für mich übrigens überraschend - einstimmig und eindeutig gewesen. Als Stichwort nenne ich die Infrastrukturlücke in Höhe von 300 Milliarden DM, die noch besteht. Das sind Folgen der Teilung Deutschlands, die wir mit gemeinsamer Anstrengung in Deutschland insgesamt überwinden müssen.

Es ist ziemlich übereinstimmend gesagt worden - das haben Sie, Herr Scharf, zitiert - - Ihre Rede war für mich

eigentlich ein erfreuliches Zeichen dafür, dass Sie die klare Linie der Landesregierung - Sie haben das sogar mit Zitaten belegt - erkannt haben. Das hat mir gut gefallen.

(Zustimmung bei der SPD - Widerspruch bei der CDU)

Darin stecken noch Mittel in Höhe von 100 Milliar- den DM, die wir für die Wirtschaftsförderung brauchen, damit die Grundausstattung der Wirtschaft, die erst Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit herstellt, tatsächlich erreicht werden kann.

Sie wissen, es ist noch eine dritte Komponente dabei gewesen, nämlich der Ausgleich der schwachen Finanzkraft unserer Kommunen, der etwa 8,6 Milliarden DM jährlich erfordern wird.

Die Gutachter haben übrigens zusätzlich eindeutig darauf hingewiesen, dass angesichts der Arbeitslosenzahlen, die wir im Osten Deutschlands zu verzeichnen haben, auch die Arbeitsmarktförderung intensiv vorangetrieben werden muss.

Die Tatsache, dass diese Gutachten vorgelegt worden sind, hat einen Wandel im Bewusstsein der westdeutschen Länder mit sich gebracht. Es ist anerkannt worden, dass diese Infrastrukturlücke geschlossen werden muss.

Es hat dann die Beschlüsse der Finanzminister, und zwar aller Bundesländer, gegeben, in denen festgehalten ist, dass der Solidarpakt in der gegenwärtigen Höhe und in der bestehenden Struktur weitergeführt werden muss. Inzwischen gibt es auch die Aussage, dass er für weitere zehn Jahre beibehalten werden muss.