Protocol of the Session on September 27, 2017

Diese Stigmatisierung war ein wesentlicher Grund für den Erfolg des „Brexit“-Volksentscheids in Großbritannien. Es ist dort gelogen worden, dass sich die Balken bogen. Wir müssen aufpassen, dass uns nicht in anderen Mitgliedsstaaten das Gleiche passiert, dass nämlich unseren Bürgerinnen und Bürgern falsche Dinge, sogenannte Fake

News, erzählt werden, um die Europäische Union auseinanderzutreiben.

Meine Damen und Herren! Wir haben in den letzten Wochen drei Reden zur Kenntnis nehmen können, die sich mit dem Brexit, aber auch mit der Zukunft der Europäischen Union auseinandersetzen. Die eine war die Rede von Jean-Claude Juncker in Straßburg, eine zweite Rede hat Theresa May in Florenz gehalten, und gestern hat sich Emmanuel Macron, der französische Staatspräsident, geäußert. Man vermutet, dass er damit auch die Koalitionsverhandlungen in Deutschland beeinflussen will.

Lassen Sie mich einige Worte zu den Inhalten sagen: Macron schlägt unter anderem eine Eurozone mit eigenem Haushalt und ein eigenes Parlament für die Eurozone vor. Er will einen neuen Anlauf zur Einführung der Finanztransaktionssteuer starten. Er will eine europäische Armee zur Krisenintervention, einen europäischen Zivilschutz, um bei Naturkatastrophen helfen zu können; er schlägt zur Strafverfolgung bei Terrorismus einen europäischen Staatsanwalt vor sowie eine europäische Asylbehörde, die die Anerkennungsverfahren vereinheitlichen und beschleunigen soll. Außerdem schlägt er einen gemeinsamen europäischen Grenzschutz vor. Ich glaube, wenn wir über Schengen reden und über die Entwicklung von Schengen in der Zukunft, dann ist es natürlich zwingend notwendig, dass wir einen gemeinsamen europäischen Grenzschutz haben. Insofern kann man ihm nur recht geben.

Macron bietet Deutschland an, als wegweisendes Beispiel zwischen Deutschland und Frankreich bis 2025 einen vollständig integrierten gemeinsamen Markt zu schaffen. Warten wir ab, was er damit meint.

Alle diese Vorschläge, meine Damen und Herren, sind diskutabel. Ich möchte aber einen herausgreifen, der schon jetzt in der Kritik steht: Das Milliardenbudget in der Eurozone stößt auf Bedenken, weil dann die EU zur Transferunion mutieren würde. Diesen Bedenken, meine Damen und Herren, sollte man den bundesdeutschen Finanzausgleich gegenüberstellen: Nach Artikel 107

Grundgesetz werden tatsächlich zur Schaffung vergleichbarer Lebensverhältnisse in Deutschland Transfers geleistet. Arme Bundesländer haben Anspruch auf die Aufstockung ihrer Haushalte.

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

So habe ich Herrn Macron jedoch nicht verstanden. Er will weniger: Er will einen Haushalt der Eurozone, der durch einen Wirtschafts- und Finanzminister verwaltet wird und mit dem Maßnahmen finanziert werden können, wie etwa zur Beseitigung von Jugendarbeitslosigkeit oder anderer struktureller Defizite.

Weitere Ausführungen dazu mache ich in der zweiten Runde.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege BaumannHasske sprach für die SPD-Fraktion. Jetzt ergreift Herr Stange für die Fraktion DIE LINKE das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass wir uns zu Beginn noch einmal vergewissern sollten, weshalb wir das Glück haben, in Europa innerhalb der Europäischen Union leben zu können. Die Gründungsväter des europäischen Gedankens, die Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft haben aus historischen Erfahrungen diesen Weg der Abkehr von nationalistischen Überlegungen ganz bewusst eingeschlagen.

Die EU und ihre Vorgängerorganisationen sind das Versprechen an die Bevölkerungen in Europa, in Zukunft Konflikte auf friedliche Weise zu lösen und auf friedliche Weise auszugleichen. Das muss man sich zunächst ins Gedächtnis rufen, um zu verstehen, dass die Lösung, die in Nationalismen zurückfällt, nicht die Lösung für die Zukunft der Europäischen Union sein kann, sondern ganz und gar eine abwegige Überlegung darstellt.

(Beifall bei den LINKEN)

Das will ich eingangs in aller Deutlichkeit sagen, weil das nämlich ein zwar kurzschlüssiger Gedanke, aber ein falscher Gedanke in Reaktion auf die Wahlergebnisse zur Bundestagswahl 2017 wäre, sehr geehrter Kollege Schiemann.

Der Grundgedanke der Rede von Jean-Claude Juncker besteht einerseits in einer Weiterentwicklung hauptsächlich entlang der wirtschaftspolitischen Integration der Europäischen Union, also Währungsunion, Wachstum, Beschäftigung und mehr und bessere Handelschancen, andererseits aber auch eine tiefere Integration der Europäischen Union.

Wenn Sie Ihre Debatte mit dem Zusammenhalt der Europäischen Union der „27“ überschreiben, dann kann es nur eine tiefere Integration in Europa in der EU und kein Rückfall in die Nationalismen sein.

(Vereinzelt Beifall bei den LINKEN)

Niemand darf – da stimmen wir überein, Kollege Schiemann, das passt aber nicht zu den anderen Gedanken –, niemand darf in der Europäischen Union zurückgelassen werden, niemand darf abgehängt werden. Wir dürfen keine Europäische Union der unterschiedlichen Geschwindigkeiten zulassen, weil das die Fliehkräfte verstärken würde. Deshalb ist auch das sechste Szenario von Jean-Claude Juncker durchaus ein bemerkenswertes Diskussionsangebot für die Weiterentwicklung der Europäischen Union, nämlich zur Verstetigung und Vertiefung der Integration. Wir sollten diese Anregung aufnehmen, nämlich die Anregung zu mehr Transparenz, zu mehr Beteiligung in der Europäischen Union im Zusammenhang mit Freihandelsabkommen und ähnlichen Prozessen.

Aber das, glaube ich, reicht nicht aus, sondern wir müssen weit darüber hinausgehen und tatsächlich die Bürgerinnen und Bürger sowie die nationalen und regionalen Parlamente viel stärker an der Gestaltung der Zukunft der Europäischen Union beteiligen. Diesen Impuls sollten wir aus der Rede von Jean-Claude Juncker aufnehmen – um das auch gleich mit einzuflechten, Herr Kollege Baumann-Hasske: Vielen Dank für den Strauß dessen, was Macron zum Euro dargelegt hat. Ich glaube, dabei ist in den letzten Tagen in den Medien sehr viel durcheinandergeraten. Alle Mitgliedsstaaten sind gehalten und verpflichtet, wenn sie die Kriterien erfüllen, den Euro als Währung einzuführen. Das ist einfach so. Deshalb hat auch Jean-Claude Juncker im Prinzip eine Wahrheit einfach nur noch einmal ausgesprochen, was viele erschreckt. Das erschreckt mich wiederum in der Debattenkultur. Ich glaube, wir sollten nicht in künstliche Erregung verfallen, sondern vielmehr die Diskussion aufnehmen auch in dem Sinne, wie es Jean-Claude Juncker in seiner Rede vorbereitet hat.

Zunächst einmal vielen Dank.

(Beifall bei den LINKEN und vereinzelt bei den GRÜNEN)

Kollege Stange sprach für DIE LINKE. Jetzt spricht Herr Kollege Barth für die AfD.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich zitiere aus Seite 55 des Bundestagswahlprogramms der CDU: „Die Zustimmung der Bürger zu Europa ist gestiegen.“ Umso verwunderter bin ich, dass hier Herr Schiemann das Bündnis starker Nationalstaaten in Europa ausgerufen hat bzw. – ein weiteres Zitat –: „Weniger muss in Europa besser gemacht werden.“ Wow, Herr Schiemann, die sächsische CDU erfindet ihre Europapolitik seit Sonntag neu!

(Beifall bei der AfD und Zurufe von der CDU)

Meine Damen und Herren, als ich das Debattenthema das erste Mal gelesen habe, habe ich spontan an den Brexit gedacht: Waliser, Schotten, Engländer, Nordiren haben in einem direktdemokratischen Verfahren –

(Christian Piwarz, CDU: Vorsicht, Vorsicht!)

Herr Piwarz, guten Morgen! Sind Sie auch da? Danke.

in Deutschland ein unvorstellbarer Vorgang – entschieden, die Staatengemeinschaft zu verlassen. Deutschland verliert also einen weiteren Nettozahler in der EU. Doch wäre es nicht besser gewesen, 28 Staaten zusammenzuhalten? Dann wäre es aber notwendig gewesen, die Bürokratie in Brüssel zu entschlacken, um auch den Briten den Verbleib in der Europäischen Union zu ermöglichen.

Meine Damen und Herren, wenn wir über einen starken Zusammenhalt von 27 Staaten in Europa sprechen wollen, müssen wir uns zwei Fragen stellen. Erste Frage: Was

sollten wir tun? Zweite Frage: Was sollten wir unbedingt unterlassen?

Ich fange mit dem an, was man nicht machen sollte.

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: Das überrascht jetzt!)

Man sollte sich, lieber Herr Gebhardt, nicht an der Grundsatzrede von Herrn Juncker orientieren. Ich zitiere sinngemäß: Wenn wir wollen, dass der Euro unseren Kontinent mehr eint als spaltet, dann sollte er mehr als eine Währung einer ausgewählten Ländergruppe sein. Der Euro sei dazu bestimmt, die einheitliche Währung der Europäischen Union als Ganzes zu sein.

Nun gut, Dänemark passt zu diesem Beispiel nicht – das ganz kurz, aber kein Problem. Diesem Satz, dass der Euro die einheitliche Währung aller europäischen Länder sein soll, widersprechen wir ganz entschieden. Was derzeit in den 19 Eurostaaten nicht funktioniert, wie soll das in „27“ funktionieren?!

(Beifall bei der AfD)

Was sollte man aber nun tun, um Europa zu einen?

Erstens: Nur Länder mit vergleichbarer wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und Stabilitätskultur sollten den Euro als gemeinsame Währung haben, wenn wir nicht zu nationalstaatlichen Währungen zurückkehren wollen.

Zweitens: Wir sollten die EU-Außengrenze und auch unsere nationalen Binnengrenzen effektiver schützen und uns auf eine reine Handelsunion wie in den Neunzigerjahren fokussieren, und dann hat ein Europa eine Zukunft, Herr Schiemann, eine Zukunft mit starken Nationalstaaten.

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: Das wird scheitern!)

Weiterhin müssen wir das Demokratiedefizit, Herr Gebhardt, in Europa beenden. Das Europäische Parlament hat kein eigenes Gesetzesinitiativrecht, und das Stimmengewicht bei der EU-Parlamentswahl ist auch nicht gleichgewichtet.

(Beifall bei der AfD)

Aber, meine Damen und Herren, Herrn Juncker geht es gar nicht um Spaltungsüberwindung oder wirtschaftliche Vernunft. Nein, ihm geht es einzig darum, das Projekt der Vereinigten Staaten von Europa um jeden Preis voranzutreiben, koste es, was es wolle.

(Beifall bei der AfD)

Liebe Kollegen! Wenn Sie die „27“ zusammenhalten wollen, arbeiten Sie endlich an den Konstruktionsfehlern des Euro und an den Konstruktionsfehlern der europäischen Demokratie!

Ich danke Ihnen recht herzlich.

(Beifall bei der AfD)

Das war Herr Barth für die AfD-Fraktion. Jetzt spricht Frau Maicher für Ihre Fraktion GRÜNE.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, hat vor zwei Wochen in seiner Rede zur Lage der Union gesagt – und ich möchte mich dem anschließen –: Der Brexit kann kein Beispiel für die Zukunft Europas sein. Er hat auch gesagt, er wird die EU auf dem Marsch in die Zukunft nicht stoppen können. Denn gerade erleben wir, was es heißt, wenn ein Mitglied sich entscheidet, die Union zu verlassen: wirtschaftliche Ungewissheit, politische Grabenkämpfe und vor allen Dingen eine große Unsicherheit aller Menschen, die in Großbritannien leben.

Niemand wird durch den Austritt etwas gewinnen. Es gibt nur Verlierer. Von weniger Europa hat keiner mehr. Kein Pfund mehr wird automatisch in das britische Gesundheitssystem fließen. Schließlich wird auch kein Land zurückgewonnen, wie die Brexit-Befürworter propagiert haben. Im Gegenteil, Theresa May und die Konservativen haben das Land ins politische Chaos gestürzt. Es gibt auch keine Brexit-Strategie, weil ein Ausstieg immer mit harten Einschnitten verbunden ist. Die Strategie kann dann nur lauten, den Schaden zu minimieren. Das kann keine freiwillige und selbstbestimmte Zukunft für ein Land sein.