Als Antragsteller haben zunächst die Fraktionen CDU und SPD das Wort. Es geht dann weiter mit den Fraktionen DIE LINKE, AfD, GRÜNE, Staatsregierung, wenn gewünscht. Für die einbringende CDU-Fraktion sehe ich Herrn Kollegen Modschiedler. Er hat für diese einbringende Fraktion das Wort.
Herr Präsident, herzlichen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nächste Woche findet im Rahmen des 500. Reformationsjubiläums der Evangelische Kirchentag in Berlin und in Wittenberg statt. Leitidee ist „Dialog als Grundhaltung“, also – das können wir auch anders sagen – miteinander auf Augenhöhe reden.
Der Kirchentag ist ein Angebot für die Gläubigen und auch für die Nichtgläubigen. Sie sollen sich kennenlernen und miteinander ins Gespräch kommen. Aber – und das ist viel wichtiger – es ist auch der Dialog zwischen den Religionen.
Schauen wir uns die Türkei an. Dort finden solche Kirchentage, solche Diskussionen nicht statt, und das ist das Zeichen unserer Toleranz gegenüber anderen Glaubensvorstellungen. Das ist nicht selbstverständlich, und das war auch nie selbstverständlich.
Wir müssen selbst zugestehen, dass wir sagen, im Christentum war das auch ein langer und teilweise blutiger Weg. Deshalb brauchen wir neben dem religiösen auch den politischen Dialog. Wenn man also „dem Volk aufs Maul schaut“, können wir alle auch in den Bürgersprechstunden merken: Das Gesprächsklima ist rauer geworden.
Es ist teilweise überhaupt kein Dialog mehr möglich, die Fronten sind immer verhärtet. Es gibt Hasskommentare in den sozialen Netzwerken, ein klassischer Fall der Fakenews. Das ist nur einer der Spielbälle in den letzten Jahren. Also: Worauf kommt es uns an, wenn wir „dem Volk aufs Maul schauen“?
Wir sollten nicht über den Bürger reden, sondern wir sollten mit den Bürgern reden. Wir sollten ihnen zuhören. Wir sollten sie informieren, und wir sollten aus dem, was sie uns sagen, Schlüsse für unser politisches Handeln ziehen. Was wir aber nicht tun sollten – und das ist mir sehr wichtig –, ist, nicht einfach dem Volk nach dem Munde zu reden und vor allem durch larifari-populistische Forderungen immer wieder und wieder ohne jeden Grund Ängste zu schüren und Feindbilder zu pflegen, wie das einige hier bei uns tun. Das ist ein Irrweg, und das ist falsch.
Die Gesellschaft ist in Bewegung: Sie ist schnelllebiger geworden, sie ist dynamischer geworden. Genau diese Veränderungen – das merkt man auch in den Bürgersprechstunden – verunsichern die Gesellschaft. Globalisierung, Brexit, Flüchtlingskrise – scheinbar befinden wir uns andauernd in einer Art Krisenmodus.
Es wird immer wieder gesagt, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft brüchig erscheint. Daher müssen wir uns wieder die Frage stellen: Welche Werte halten unsere Gesellschaft zusammen? Was gibt den Menschen Halt, was gibt ihnen Geborgenheit, und was gibt ihnen Orien
Was wir auch viel in Deutschland haben: Wir haben Glauben, wir haben Gebete, Bräuche sowie unser Gemeindeleben in den Kirchen. Aber – und das ist unser großes Problem – immer weniger Menschen glauben an irgendetwas. Hier ist meiner Ansicht nach wieder das politische Gemeinwesen gefragt. Wir müssen Zusammenhalt fördern, wir müssen das Wir-Gefühl stärken, und wir müssen unseren demokratischen Staat mit seinen Freiheits- und Mitbestimmungsrechten wieder mehr in den Vordergrund stellen. Das sind nämlich unsere Grundpfeiler der Gesellschaft. Wir dürfen auch nicht vergessen: Diese stehen in der christlichen Tradition.
Jeden Tag aufs Neue stellt sich immer wieder die gleiche Frage: Wer sind wir? Und in welcher Gesellschaft wollen wir leben? Ich finde, hier sind Luther und die Reformation ein guter Anlass, sich wieder einmal auf christliche Traditionen und Werte zu besinnen. Denn – das ist ein Irrglaube – Glaube und Politik sind keine isolierten Lebensbereiche.
Ich wünsche mir – ich will nicht sagen, dass es ein Traum ist –, dass wir uns zukünftig in Toleranz, in Respekt und Nächstenliebe sowie vor allem auf Augenhöhe begegnen.
Kollege Modschiedler eröffnete die Debatte für die einbringende CDU-Fraktion. Jetzt erhält die SPD-Fraktion das Wort. Frau Kollegin Raether-Lordieck, bitte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Luthers theologische Gedanken haben die mittelalterliche Kirche in ihren Grundfesten erschüttert, die Reformation und damit den Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit begründet, die moderne Kirche gestaltet und unsere Kultur in ihren Wurzeln geprägt. Wir feiern 500 Jahre Luther-Jubiläum mit Veranstaltungen von theologisch hochkarätigen bis zu volkstümlichen Mittelalterspektakeln, wo man nachfühlen kann, wie es den Menschen im Mittelalter zu Luthers Zeiten ging. Aber werden wir den Menschen, werden wir Luther und Luthers Andenken damit wirklich gerecht? Luther sagte einmal: „Wie käme ich denn als armer, stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi sollte mit meinem heillosen Namen nennen?“ Er wollte gar nicht im Mittelpunkt stehen, aber seine Thesen – diese sind nach wie vor hochaktuell.
Luther hat den Menschen aufs Maul geschaut, aber seine eigenen Schlüsse gezogen. Heute brauchen wir wieder eine zeitgemäße Auslegung der Bibel, sollen Reformation und das Reformationsfest nicht in bloßem Heldengedenken stagnieren. Eine von Luthers Kernaussagen war die Autonomie des Individuums. Er hat den Menschen ins
Zentrum gestellt – ein unglaublicher Protest gegen kirchliche Obrigkeit zur damaligen Zeit. Jeder Mensch, so sagte er, ist gleich viel wert, unabhängig von seiner Leistung. Das ist ein Affront gegen unsere heutige Leistungsgesellschaft. Heutzutage haben Menschen zu funktionieren, und wer das nicht schafft, wird aussortiert. Menschen fühlen sich abgehängt, und wir müssen wieder Menschen, dem Volk aufs Maul schauen. Unsere Ministerinnen und Minister tun das in vorbildlicher Weise: Martin Dulig reist mit seinem Küchentisch durch die Lande und Petra Köpping thematisiert die teils gravierenden Verletzungen der Nachwendezeit.
Also: Man muss Menschen wertschätzen, ernst nehmen und ihnen aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Maul reden.
Ein zweiter Aspekt war für Luther sehr wichtig, und zwar die Freiheit. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ lautete eine zentrale Schrift Luthers. Der Mensch darf sich als Wesen der Freiheit betrachten und aus dieser Freiheit heraus handeln. Es ist noch nicht so lange her, da gab es eine Zeit der Unfreiheit: Zu DDR-Zeiten durften Menschen nicht frei ihren Glauben leben. Es gab Restriktionen, wenn man sich hat taufen lassen; Konfirmation und Kommunion blieben nicht folgenlos, und man wurde vom Staat in seiner beruflichen Aus- und Weiterbildung behindert.
Joachim Gauck sagte über die Christen in dieser Zeit: „Diese vom Glauben getragene Fähigkeit durchzuhalten und zu hoffen sowie die Fantasie für Frieden, Gerechtigkeit und Veränderung im Leben zu erhalten, wo andere längst die Segel gestrichen hatten, ist eine meiner größten menschlichen und religiösen Erfahrungen.“ Kirche übernimmt hier eine Schlüsselrolle – gerade im Osten. 1989 öffneten die Kirchen ihre Tore für Nichtchristen in einer turbulenten Phase, in einer Zeit der Unsicherheit und der Suche nach der Freiheit. Christen und Atheisten gingen gemeinsam auf die Straße und kämpften für ihre Freiheit. Zu Luthers Zeiten folgte auf die Reformation sogleich der Dreißigjährige Krieg. 1989 dagegen haben wir eine Revolution erlebt, die friedlich vonstatten ging – erstmals in der Geschichte. Das ist von unschätzbarem Wert und eine unschätzbare Erfahrung.
Heute, 28 Jahre später, brauchen wir wieder neue Orientierungsmodelle in einer von Egoismus und Materialismus gefangenen Gesellschaft. Angst macht sich breit – Angst vor der Sinnlosigkeit des Lebens. Menschen werden anfällig für Populismus und einfache Lösungen. Es sind Populisten, die vorgeben, den Menschen aufs Maul zu schauen, sie aber nur für ihre Zwecke instrumentalisieren. Statt irrationaler Furcht vor Veränderungen der Moderne oder der Furcht vor Unübersichtlichkeit in einem vereinigten Europa – –
Mit Frau Kollegin Raether-Lordieck, die für die einbringende SPD-Fraktion sprach, ist die Aktuelle Debatte nun eröffnet. Wir fahren fort mit der Fraktion DIE LINKE. Herr Kollege Jalaß, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hallo AfD! Meine Damen und Herren, das ist meine erste Rede, aber ich habe hier nur Wasser und kein Luther-Bier – ich glaube, das wäre angemessener; ich hätte mich sehr gefreut. Es hilft mir nicht über meine Verwunderung sowie darüber hinweg, dass wir uns gerade über Ihre privaten Freizeitangelegenheiten unterhalten wollen. Sie wollen also über christliche Werte reden. Ich frage Sie: Können Sie mir überhaupt sagen, ob es einen unumstrittenen, eineindeutigen christlichen Wertekanon gibt? Ich glaube, nicht einmal die Religionswissenschaft kann mir dabei helfen.
(Beifall bei den LINKEN, der SPD und der CDU – Zurufe der Abg. Alexander Krauß, CDU, und Sebastian Wippel, AfD)
Wir können versuchen zu subsumieren, wir können uns über Nächstenliebe unterhalten, wir können uns über Toleranz unterhalten; wir können vielleicht sogar die ganzen Menschenrechte unter den christlichen Wertekanon packen. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: All dies musste in der Geschichte zuerst und ganz häufig vor allem gegen das Christentum erkämpft und verteidigt werden.
Bis heute hat die CDU Lernbedarf an dieser Stelle. Ich sage dazu nur Stichpunkte: Obergrenzen, KruzifixDebatte, Gleichberechtigungsdiskurs, Abtreibungsrecht, bargeldlose Versorgung Asylsuchender oder Ihre ewigen Unionspositionen zum Mindestlohn oder zur Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe.
Luther heute – wo säße er, wenn er unter uns weilen würde? Ich glaube, bei uns würde er keinen Platz bekommen, ich gehe davon aus, bei den GRÜNEN auch nicht. Ich glaube, er würde nicht zur SPD gehen und nicht zur CDU. Ich glaube, Sie wären ihm einfach nur zu langweilig. Und die AfD? Da gäbe es inhaltliche Andockmöglichkeiten, aber Sie müssten wahrscheinlich sehr hohe kognitive Hürden noch abbauen, um dem entgegenzukommen.
Luther als glühender Antisemit hat es geschafft, zum Beispiel über seine Judenschriften antisemitische Stereotype in die Neuzeit zu transportieren, und trug damit dazu bei, dass der deutsche Nationalismus ab 1871 und vor allem auch die Nazis in ihrer Judenverfolgung immer
Gab es noch etwas Gutes an der Reformation? Ich glaube ja, denn nachdem wir sie und die Glaubenskriege hinter uns hatten, konnte sich der moderne Staat etablieren mit dem Bildungswesen, mit einer Verwaltung, mit allen Passagierscheinen A 38.
Meine Damen und Herren! Sie wollen dem Volk aufs Maul schauen. Können Sie mir sagen, wer das sein könnte? Sind das alle Deutschen, sind das alle, die in Sachsen leben, sind das vielleicht nur die Bio-Sachsen? Sind das vielleicht die Bio-Sachsen, die nicht dem linken Weltbild angehören? Das wäre für mich sehr interessant.
Ich sage Ihnen eines: Ich brauche keinen religiösen Unterbau für Frieden und Solidarität. Ich brauche keine Kreuze in Klassenzimmern, ich brauche keine Konfession bei Suchthilfeeinrichtungen, bei Jugendhilfeträgern, und das sage ich als Sozialarbeiter bei aller Achtung vor der historischen Leistung der Kirche im Sozialbereich.
Sehr geehrte Damen und Herren! Humanismus, Toleranz, Solidarität, Zivilcourage – das alles geht ohne religiösen Kladderadatsch.
Sie brauchen ein säkulares Werteprofil, und dies genügt völlig, wenn Sie diese Moral mit einer praktischen Vernunft verbinden. Das reicht völlig aus. Kleiner Tipp noch: Sie wollen den Leuten aufs Maul schauen und christliche Werte kennen und leben.Vielleicht wollen Sie dabei Nächstenliebe leben, vielleicht wollen Sie dabei Solidarität leben, Toleranz leben. Kleiner Tipp: Gehen Sie heute nach draußen, stellen Sie sich der Demonstration gegen den Abschiebegewahrsam und nehmen Sie dazu Stellung, dass Sie vorhaben, Menschen einzusperren ohne deren geringste Schuld. Sie begehen Waterboarding an den Grundrechten, meine Damen und Herren!