Protocol of the Session on March 15, 2017

Antrag der Fraktion DIE LINKE

Ich rufe auf

Erste Aktuelle Debatte

60 Jahre Römische Verträge – Errungenschaften und

Herausforderungen für die Zukunft der Europäischen Union

Antrag der Fraktionen CDU und SPD

Die einreichenden Fraktionen sprechen zuerst. Danach folgen DIE LINKE, AfD, GRÜNE und die Staatsregierung, wenn sie es wünscht. Ich erteile nun der CDUFraktion das Wort. Herr Abg. Schiemann, bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich vor zwei Wochen mit der ehemaligen Präsidentin des Zentralrates der Juden, Frau Dr. Charlotte Knobloch, in Bautzen die Oberschule „Gesundbrunnen“ besuchte, hat sie die Schüler aufgerufen, sich für ein friedliches Zusammenleben in Europa einzusetzen. Die Schüler haben mit großen Augen geschaut und gefragt: Können wir das jetzt schon? Sie hat gesagt: Ja, der Frieden beginnt dort, wo man das Zusammenleben untereinander übt und in friedlicher Absicht ausübt. Frieden beginnt damit, dass man seine eigene Heimat, seine Sprache und Kultur schätzen lernt und den Bürgern der Nachbarländer mit Respekt begegnet. Ihr werdet Verantwortung übernehmen für die friedliche Entwicklung auf unserem Kontinent, war die Botschaft der Überlebenden des Holocausts, Frau Dr. Charlotte Knobloch, an die Schüler meiner Heimatstadt Bautzen/Budyšin.

Verantwortung übernommen haben die europäischen Staaten Italien, Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland und die Beneluxstaaten bei der Zeichnung der Römischen Verträge vor 60 Jahren. Dabei ging es in keinster Weise um die Schaffung eines Zentralstaates.

Vielmehr war das Ziel der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, Wege zur Verhinderung von Krisen zu ebnen. Dabei waren die Arbeitnehmer und die Unternehmer in gleicher Weise im Blick. Es ging besonders darum, nie wieder Krieg in Europa erleben zu müssen.

Deshalb können die Römischen Verträge als Meilenstein zum einen und als Impulsgeber für das friedliche Europa zum anderen bezeichnet werden nach den schändlichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Mit den friedlichen Revolutionen im östlichen Teil Europas konnte diese Vision auch auf die andere Hälfte Europas übertragen werden. Neben der uns entgegengebrachten Solidarität haben wir auch eigene Erfahrungen aus der friedlichen Revolution mitgebracht, den Ruf, aus dem konziliaren Prozess nach Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, den festen Glauben und den Wunsch nach Freiheit, Demokratie, nach Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung der Gewaltenteilung genauso wie die Volkssouveränität – das waren die wichtigsten Grundlagen unseres demokratischen Rechtsstaates. Das Volk hat zu bestimmen und wir haben als Staatsgewalt dem Volk entsprechend zu dienen.

Wenn wir den Blick auf die aktuellen Herausforderungen richten, dann müssen die Nationalstaaten und die EU endlich die politische Handlungsfähigkeit zurückgewinnen.

(Zurufe von der AfD: Ach?)

Zu viele Bürger wurden in Europa von der Form der Bewältigung der schwersten Bankenkrise sowie der größten Flüchtlingskrise der Nachkriegszeit enttäuscht. Der Glaube an die europäische Solidargemeinschaft wurde erschüttert.

Zum Glück haben wir kein Problem zwischen den Nationalstaaten, aber die Bürger Europas partizipieren nicht in gleicher Weise von Europa. Die Unterschiede zwischen oben und unten, zwischen arm und reich, zwischen Nationalstaaten im Norden Europas und denen im Süden – Italien, Spanien und Griechenland, wo es bei den Jugendlichen eine Arbeitslosigkeit zwischen 40 und 50 % gibt – geben ein anderes Bild ab als das, was uns in Deutschland oder im Freistaat Sachsen begegnet.

Brüssel hat sich zu weit von den Bürgern entfernt und zu viel auf den Tisch gezogen. Das muss man ehrlich zugeben können, und das entspricht auch der Wahrheit: Hier müssen wir umsteuern!

(Vereinzelt Beifall bei der CDU und der AfD)

Wir dürfen Europa nicht zu einem vernormten Einheitsbrei verkommen lassen. Ein vernormter Einheitsbrei wäre ein Todesstoß für das demokratische Europa der Nationalstaaten, das wir haben wollen. Deshalb müssen wir hier gegensteuern.

(Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Die europäische Idee muss wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen. Wir brauchen eine umfassende Reform der Europäischen Union. Das wichtigste Fundament der Union, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist gute Nachbarschaft, das sind starke Regionen, das ist grenzüberschreitende Zusammenarbeit.

Bitte zum Ende kommen.

Frieden beginnt dort, wo sich Nationen über die Grenzen hinweg begegnen und sich respektieren. Subsidiarität muss wieder in den Mittelpunkt der Diskussionen geraten.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und würde dann in der zweite Runde, Frau Präsidentin, die Chance nutzen, das Thema weiter zu behandeln.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der SPD)

Für die SPDFraktion spricht jetzt Herr Baumann-Hasske.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! 60 Jahre Römische Verträge – das ist ein sehr langer Zeitraum. 1957 hat sich niemand vorstellen können, wie weit die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft tragen würde, kommend von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl – oder Montanunion – des Jahres 1951 über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft der Römischen Verträge 1957 zur Europäischen Gemeinschaft des Vertrages von Maastricht 1993 bis zur Europäischen Union des Vertrages von Lissabon von 2003 mit der Europäischen Grundrechtecharta. Niemand hätte gedacht, dass es einmal den Euro als gemeinsame Währung geben würde.

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir einen nüchternen Rückblick. Europa wird aus Anlässen wie dem heutigen gerne verklärt. Auch vor 60 Jahren befand sich Europa eher in der Phase einer Krise. Die Folgen des Zweiten Weltkrieges waren noch lange nicht beseitigt. Im westlichen Teil Europas hatte der Wiederaufbau mit der Unterstützung der westlichen Siegermächte – insbesondere der USA – begonnen. In Ostdeutschland wurde das, was einmal Industrie gewesen war, vielfach zu Zwecken der Reparation demontiert; vereinzelt gab es dies auch im Westen. Frankreich hatte vehement die Idee verfolgt, Deutschland so in eine Staatengemeinschaft zu integrieren, dass gewaltsame nationale Alleingänge nie wieder möglich sein würden.

Den Verträgen von Rom vorausgegangen und auf dem richtigen Weg war die Montanunion oder Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl von 1951. Aber weitere ergänzende wichtige Projekte, die damals schon diskutiert wurden, wie beispielsweise eine europäische Verteidigungsgemeinschaft oder eine politische Union, waren zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich. Schon 1957 gab es also viele, die gern schneller eine stärkere Integration gehabt hätten, und es gab ebenso Gegner einer solchen Integration. Nur für die Wirtschaftsunion lagen die allgemeinen Vorteile so offen zutage, dass die Verträge von Rom auch in den Unterzeichnerstaaten mehrheitsfähig waren.

Meine Damen und Herren, was war nicht enthalten? Europäische Sozialpolitik hatte für die nachfolgenden Jahrzehnte nur die Funktion, die sozialen Folgen offener Märkte abzufedern und zu kaschieren. Eine echte europäische Sozialpolitik gab es nicht. Die Römischen Verträge enthielten keinen Passus über gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Diese wurde erst mit dem Vertrag von Maastricht im Jahre 1993 eingeführt. Dabei ist nicht das eingetreten, was viele befürchtet, einige aber auch gehofft hatten, nämlich, dass sie die Außen- und Sicherheitspolitik der Mitgliedsländer ersetzen würde. Allerdings hat sie mittlerweile die Funktion einer weiteren Stimme aus Europa erlangt, die in der Europäischen Union und bei den internationalen Global Players durchaus Gehör findet.

Heute besteht die EU aus verschiedenen vertraglichen Zonen unterschiedlicher Verbindlichkeiten. Natürlich gibt es die EU-28, also die 28 Mitgliedsstaaten, aber es gibt auch die EFTA-Staaten – die Schweiz, Liechtenstein, Island und Norwegen –, die zwar nicht zur EU gehören, aber so eng angebunden sind, dass sie mit in die gemeinsame Kasse einzahlen. Sie zählen auch zu den sogenannten Schengen-Staaten, zwischen denen freier Grenzverkehr herrscht. Einige Staaten der EU-28 gehören nicht dazu: Großbritannien und Irland kooperieren. Im Falle von Großbritannien wissen wir schon, dass dies wohl demnächst nicht mehr der Fall sein wird. Großbritannien unterwirft sich nicht der Grundrechtecharta; Dänemark besteht auf Sonderrechten. Einen engeren Bereich bildet die Euro-Zone, nämlich die Zone der gemeinsamen Währung.

Meine Damen und Herren, Europa wurde zum Erfolgsmodell, aber darüber spricht man eigentlich nicht. Erfolge wurden selbst in den Sonntagsreden der Mitgliedsstaaten nationalisiert, von ihnen vereinnahmt. Umgekehrt wurde Europa gern zum Sündenbock für all das gemacht, was nationale Politik versäumte. Das gilt in Teilen Europas bis heute.

Meine Damen und Herren, einzigartig ist die Europäische Union jedoch deshalb, weil sie die erste transnationale Demokratie der Welt ist.

Bitte zum Ende kommen.

Diese Bezeichnung hat sie wirklich verdient. Mit der Einrichtung des Europäischen Parlaments und dessen Stärkung durch den Vertrag von Lissabon ist dieser Staatenbund ähnlich wie ein nationales Parlament anzusehen. Ob das berechtigt ist oder nicht, werde ich gern in einer zweiten Runde ausführen.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der SPD)

Für die Fraktion DIE LINKE Herr Gebhardt, bitte.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Feiern von Jahrestagen hat oft etwas Abgestandenes und manchmal auch Dröges an sich. Entschuldigung, Ihr Titel „Errungenschaften und Herausforderungen – 60 Jahre Römische Verträge“ klingt nach heiler Welt, das klingt nach vergangenen Zeiten. Dabei brennt es an allen Ecken und Enden der Europäischen Union. Die Nationalisten sind auf dem Vormarsch – nicht nur in Großbritannien, Frankreich, in den Niederlanden, in Ungarn und Polen, sondern auch bei uns in der Bundesrepublik. Ein „Weiter so“ würde uns in die Katastrophe führen.

Herr Baumann-Hasske hat gerade darauf aufmerksam gemacht: Die Römischen Verträge sind vor dem Hintergrund einer Krise entstanden oder – man kann es auch anders formulieren – mit der Sorge von Frankreich, dass

nach der Gründung der Bundesrepublik wieder eine aufsteigende industrielle und militärische Macht an seinen Grenzen entstehen könnte.

Es ging letzten Endes bei diesem schrittweisen Prozess immer darum, Feindseligkeiten und Konfrontationen zu beenden. Frieden war das zentrale Motiv für den Zusammenschluss. Das hat auch aktuell noch einmal Kommissionspräsident Juncker erkannt, nachdem er sein Weißbuch vorgestellt hat. Jedoch muss man auch zur Kenntnis nehmen: Nicht nur das Thema Frieden stand im Fokus der letzten Jahrzehnte, sondern der Binnenmarkt war am Ende das alles bestimmende Thema in der Europäischen Union.

Die europäischen Verträge, also die Römischen Verträge, wurden – wahrscheinlich auch historisch erklärbar – ohne Mitwirkung einer Zivilgesellschaft geschlossen. Es ist ein reines Werk der Regierungen. Daraus saugen heute die Nationalisten in den verschiedensten europäischen Ländern – ich erwähnte es gerade – ihren Honig und blenden damit die historische Wirklichkeit aus.

Aber die Achillesferse ist aus unserer Sicht immer, dass die Sozialpolitik zu allen Zeiten das fünfte Rad am Wagen gewesen ist. Es ist nicht gelungen, die soziale Dimension auch nur annähernd zu einer tragenden Säule der EU zu machen. Man muss nicht wirklich links sein, um zu erkennen, dass darin auch der Hauptgrund der Abwendung und des Scheiterns der bisherigen EU-Konstruktion liegt. Die tiefe politische, soziale – wenn man so will – Glaubenskrise der EU ist nicht vom Himmel gefallen, sondern liegt bereits in den Geburtsfehlern der Römischen Verträge. Sie waren von Beginn an nicht auf die Bedürfnisse nach grundsätzlicher sozialer Sicherheit für die Menschen ausgerichtet. Deswegen wurden zu ihrer Gewährleistung nie die entsprechenden zwingenden Instrumentarien geschaffen.

Die Lehren aus der Geschichte sollten also sein: Die universelle Friedensidee muss verteidigt werden. Sie darf aber nicht mit einer Aufrüstung in anderen Ländern konterkariert werden. Die EU muss zu einer Sache der Menschen, der Zivilgesellschaft werden, und die soziale Säule muss unbedingt ausgebaut und ausgestaltet werden. Es muss um Menschenrettung und nicht um Bankenrettung gehen.

Das von egoistischen Motiven der nationalen Regierungen geleitete Europa ist gescheitert. Der Nationalstaat kann heute nicht mehr die Grundlage eines geeinten Europas sein, sondern es sind ausschließlich die Regionen. Was wir brauchen, ist eine Vision von einer Republik Europa, die tatsächlich sozial, demokratisch, ökologisch und friedlich ist, denn das ist unsere letzte Chance.

Vielen Dank.

(Beifall bei den LINKEN)

Für die AfDFraktion Frau Dr. Petry, bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Letzte Chance für

Europa, Auflösung von Nationalstaaten? Herr Gebhardt, ich glaube, Sie haben das Problem immer noch nicht verstanden.

Aber auch die CDU erstaunt mich, wenn Sie, Herr Schiemann, von Volkssouveränität reden und gleichzeitig sagen, dass die EU diese Probleme lösen soll. Sie müssen sich schon entscheiden, ob Sie den Völkern ihre grundgesetzlich und verfassungsrechtlich zugestandene Souveränität lassen wollen oder ob Sie Souveränität enteignen und nach Brüssel und Straßburg exportieren wollen, wie es im Fall von 50 % der Gesetzgebung seit Jahren passiert.

(Beifall bei der AfD)