Protocol of the Session on March 10, 2010

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Vertreterinnen der Jugendhilfe, der Sozialarbeit und der Wohlfahrtspflege, die ich an dieser Stelle laut Geschäftsordnung nicht grüßen darf, seien trotzdem erwähnt.

Zu Beginn meiner Rede möchte ich zunächst denjenigen danken, die täglich eine anspruchsvolle und unverzichtbare Arbeit leisten – in Verbänden, in Beratungsstellen und in Kinder- und Jugendhäusern – und die die heutige Protestaktion vor dem Landtag organisiert haben, um zu zeigen: Jugend ist mehr wert.

(Beifall bei der Linksfraktion und des Abg. Martin Dulig, SPD)

Ich danke stellvertretend für die Mitarbeiterinnen und Ehrenamtlichen in der Kinder- und Jugendhilfe in Sachsen folgenden Verbänden – in Klammer: solange sie noch existieren –: der Landesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, dem Kinder- und Jugendring Sachsen, dem Verein Pro Jugend e. V., der Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten in Sachsen, der LAK Mobile Jugendarbeit, dem Landesverband Soziokultur, der Sächsischen Landjugend und der Liga der Freien Wohlfahrtsverbände, die die Aktion vor dem Landtag angemeldet haben.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordneten! Ich zitiere: „Politik für Kinder und Jugendliche zu machen ist eine vielseitige Aufgabe. Es geht neben frühkindlicher Bildung und Betreuung um Erziehung, um Schule, um Gewaltprävention und Jugendschutz sowie insbeson

dere um bildungspolitische und soziale Aspekte. Die Gemeinschaft muss dort unterstützen, wo in Einzelfällen Mütter und Väter mit ihrer Lebenssituation überfordert sind. Hier besteht eine staatliche Fürsorgepflicht, präventiv und beratend tätig zu werden. Der Freistaat fördert die Kinder- und Jugendarbeit mehr als andere Bundesländer. In Sachsen haben wir zum Teil sehr leistungsstarke Strukturen. Diese wollen wir festigen. Wir müssen von temporären Förderprogrammen Abstand nehmen. Für eine gute Arbeit braucht es Planungssicherheit durch eine stabile Finanzierung. Auch in der Zukunft sollen die Kommunen die Jugendpauschale bekommen, damit vor Ort Jugendklubs und Beratungsstellen betrieben werden können.“

(Beifall bei der Linksfraktion)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer sich jetzt angesprochen fühlt: Ja, das Zitat ist nicht von mir, es ist nicht von der Opposition, sondern es ist aus dem Regierungsprogramm der CDU Sachsen für 2009 bis 2014 unter dem Titel „Vertrag für Sachsen – wissen, wo’s lang geht“.

Die Realität in Sachsen sieht auf Geheiß des Finanzministers nun so aus, dass die überörtlichen Jugendverbände Mitte Februar erfahren haben, dass für sie im laufenden Haushaltsjahr und entgegen allen Planungen 600 000 Euro weniger zur Verfügung stehen. Damit wird gezielt auf den Wegfall von Stellen hingearbeitet. Beispielsweise teilen sich bei der Landesarbeitsgemeinschaft Mädchen und junge Frauen bereits bisher drei Mitarbeiterinnen die 1,8 Stellen. Die 600 000 Euro Kürzungen bei den Jugendverbänden entsprechen übrigens fast der Summe, die seit Beginn der neuen Legislatur an zusätzlichen Personalkosten in den Ministerien monatlich anfallen, nämlich 620 000 Euro. Auf das Jahr hochgerechnet sind das 7,4 Millionen Euro an Zusatzausgaben, und es ist eine Farce, dass das Sozialministerium 7,7 Millionen Euro allein in der Jugendhilfe einsparen muss.

Der kommunale Sozialverband hat aus verwaltungstechnischer Sicht das Beste daraus gemacht: die Einsparungen ohne jegliche Fachberatung, weil das Sache des Landesjugendamtes ist, gleichmäßig verteilt und den Trägern einfach nur noch 80 % Personalkosten und 17 % Sachkostenmittel zugeteilt. Der Rest soll nun über Eigenmittel erwirtschaftet werden, und das heißt, für Bildungsmaßnahmen wie Jugendleiterschulungen ist gar kein Geld mehr vorhanden.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Tillich – leider ist er im Moment gar nicht hier –; vielleicht ist dem Ministerpräsidenten vor lauter Sponsoringanfragen seitens der sächsischen Wirtschaft entgangen, dass Kinder und Jugendliche in der Regel nicht über breite finanzielle Mittel verfügen, um den Kontakt mit dem Sozialpädagogen ihres Vertrauens oder der Jugendhausmitarbeiterin vor Ort durch mitgebrachte Drittmittel gegenzufinanzieren. Bei einigen Trägern führt diese Politik direkt und mittelfristig in die Insolvenz; aber vielleicht ist das der innovative jugendpolitische Ansatz, gewachsene Projekte und

Strukturen kaputtzusparen, anstatt die beschlossene Jugendhilfeplanung in Sachsen umzusetzen.

Die oben zitierte Planungssicherheit durch stabile Finanzierung erleben wir gegenwärtig an der vor allem für die Kommunen und Landkreise überraschenden Kürzung der Jugendpauschale um 27 % im laufenden Haushaltsjahr. Zum Vergleich: Die 4 Millionen Euro, mit denen hier auf Kosten der nächsten Generation der Haushalt konsolidiert wird, entsprechen einem Prozent der zusätzlichen 400 Millionen Euro, die der Freistaat für die Fertigstellung des Leipziger City-Tunnels aufwenden muss. Den Gebietskörperschaften fehlen je nach Größe zwischen 100 000 und 560 000 Euro im laufenden Haushalt. Es ist ein Armutszeugnis für verfehlte Kommunalpolitik und für den Versuch, den Landeshaushalt auf Kosten der Kommunen zu konsolidieren, wenn bis zum vergangenen Freitag bereits zehn von 13 Gebietskörperschaften in Sachsen Widerspruch gegen den Bescheid zur Kürzung der Jugendpauschale eingelegt haben.

Die Kämmerer und die Jugendamtsleiter vor Ort haben nachgerechnet, wie sich die Kürzungen auf die Strukturen auswirken. In einem Landkreis ist von der Entlassung von 30 Sozialpädagoginnen die Rede. Im Landkreis Meißen werden ab Juli statt 35 nur noch 23 Sozialpädagogen in der Jugendarbeit tätig sein. In Dresden stehen fünf Kinder- und Jugendhäuser auf der Abschussliste.

Dass eine derart fiskalisch gesteuerte Bildungs- und Sozialpolitik à la Tillich und Staatssekretärin Fischer unausgegoren und jenseits aller fachlichen Überlegungen ist, haben mittlerweile auch Teile der CDU-Fraktion erkannt. Wenn Herrn Tillich, der leider abwesend ist, das Veto des eigenen jugendpolitischen Sprechers, Patrick Schreiber, die Kürzung der Jugendpauschale zu korrigieren, nach zweistündiger Fraktionsdebatte so egal ist und wenn das Sparen um jeden Preis als einziger Orientierungsrahmen gilt, dann ist das ein Armutszeugnis für einen Ministerpräsidenten, dessen politischer Gestaltungswille sich in Varianten von Abbau ausdrückt – Abbau bei Pädagoginnen und Sozialarbeiterinnen, Abbau von Strukturen in der Jugend-, Sozial-, Sucht-, Präventions- und Gleichstellungsarbeit.

Liebe CDU-Kollegen, an dieser Stelle kann ich Ihrem Bildungspolitiker Thomas Colditz nur beipflichten – es ist heute schon einmal gekommen –: „Sparen allein ist noch keine Politik.“

(Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und vereinzelt bei den GRÜNEN)

Das sollten sich Ministerpräsident, Staatssekretärin und Finanzminister ins Stammbuch schreiben.

Eines ist festzustellen: Trotz allen zivilen Ungehorsams in der CDU-Fraktion ist wenigstens die Sozialministerin auf Linie; so viel Kritik sei mir gestattet, Frau Clauß. Anstatt für ihr Ressort zu kämpfen und die Höhe der Einsparungen im Sozialministerium, dessen Ausgaben bekanntlich zu 90 % Pflichtausgaben sind, gegenüber dem Finanzminister infrage zu stellen, erklärte sie in der „Sächsischen

Zeitung“ – ich zitiere –: „Operationen tun immer weh.“ Ergänzend ließ die Sozialstaatssekretärin Andrea Fischer am Samstag verlauten – ich zitiere nochmals –: „Keine Häkelkurse für Mädchen im ländlichen Raum“. Und: „Man kann gewisse bildungsferne Schichten einfach nicht mehr erreichen.“ Bei derartigen Aussagen stellt sich für mich die Frage nach der Qualifikation, konkret, ob Frau Fischer als Juristin für das Amt der Staatssekretärin für Soziales tatsächlich geeignet ist.

Vor anderthalb Jahren klang die Staatsregierung zum Thema „Kinder- und Jugendpolitik“ im Bericht des Sozialministeriums noch ganz anders. Ich zitiere: „Die Staatsregierung teilt die Einschätzung, dass insbesondere die Jugendarbeit in ländlichen Regionen vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung wie auch nach der Verwaltungsreform vor besonderen Herausforderungen steht. Sie sieht … die Notwendigkeit, die wechselseitige Bezugnahme von mit Kindern und Jugendlichen agierenden Institutionen zu stärken … Die Staatsregierung wird auch weiterhin die Förderung für die örtliche Ebene so gestalten, dass Planungssicherheit und ein geringer Verwaltungsaufwand beibehalten werden. Sie wird bei der Umsetzung der Förderstrategie das Augenmerk weiter auf die Entwicklung der Strukturqualität in der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit … entsprechend der jugendhilfeplanerischen Bedarfslagen auf örtlicher Ebene legen.“ Kennt die Staatsregierung jugendhilfeplanerische Bedarfslagen überhaupt? Das ist die Frage, die heute zu stellen ist.

Gestaltende Politik für Kinder und Jugendliche findet unter Ministerpräsident Tillich nämlich nur noch – wir haben es gerade gehört – bei der Feuerwehr und im Sportverein statt. Den Rest erledigt der Finanzminister. Das mag für kleine Orte wie Panschwitz-Kuckau reichen; für Sachsen insgesamt ist das ein sozial- und bildungspolitisches Armutszeugnis. Denn es ist allgemein bekannt, dass Bildung nur zu 25 % in der Schule stattfindet und weitere Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten außerschulisch erworben werden, zum Beispiel im Kinder- und Jugendhaus am Nachmittag, auf Bildungsfahrten und Ferienfreizeiten und nicht zuletzt im Freiwilligen Sozialen Jahr, in der Ökologie, im Kulturverein und in der Sozialstation. Beispielsweise könnten von den 250 000 Euro, die das Finanzministerium für das Expertenkolloquium „Porzellanschloss“ auszugeben gedenkt, zusätzlich 138 Plätze im Freiwilligen Sozialen Jahr finanziert werden.

So viel zum Thema Konsolidierungsvorschläge – solche kann auch die Opposition machen.

Die in den letzten Tagen oft verbreitete Behauptung, die Folgen der Finanzkrise seien die Ursachen für die notwendige Haushaltskonsolidierung, ist aus meiner Sicht an den Haaren herbeigezogen; denn das Loch in der sächsischen Staatskasse ist nicht zuletzt durch Mehrausgaben wie für den Leipziger City-Tunnel – ich erwähnte es schon – von fast 400 Millionen Euro und für die Dresdner Waldschlösschenbrücke von 25 Millionen Euro, durch das

Wachstumsbeschleunigungsgesetz bedingte Steuerausfälle von über 100 Millionen und vor allem durch Rückstellungen für die Landesbankhaftung in Höhe von 830 Millionen Euro verursacht worden.

Der Staatsregierung sei als vorbereitende Lektüre für die Verhandlungen zum nächsten Doppelhaushalt nochmals der Sächsische Kinder- und Jugendbericht aus dem Jahr 2009 empfohlen, in dem die Staatsregierung, der der heutige Ministerpräsident bereits in der vergangenen Legislatur vorstand, ankündigt – ich zitiere –: „Bei der Fortschreibung der Planung für die Jahre 2010 bis 2014 werden die Herausforderungen der demografischen Entwicklung sowie die Umsetzung der jugendpolitischen Handlungserfordernisse … ein Schwerpunkt sein. Damit werden die Bildungsthematik insgesamt und die Stärkung außerschulischer Bildungsorte vorrangig berücksichtigt.“

Ich komme zum Schluss.

Liebe Kollegen der CDU- und der FDP-Fraktion, mit dem gemeinsamen Antrag von DIE LINKE und SPD „Keine Haushaltskonsolidierung auf Kosten von Kindern und Jugendlichen oder in anderen sozialen Bereichen“ wollen wir Ihnen heute die Möglichkeit geben, den Kahlschlag im Sozialressort im laufenden Haushalt zu korrigieren und in Sachsens Zukunft, in Kinder und Jugendliche, zu investieren. Viele von Ihnen sind ja auch Entscheidungsträger vor Ort und fühlen sich für ihren Wahlkreis verantwortlich.

Wir werden namentliche Abstimmung beantragen, damit Sie sich nach bestem Wissen und Gewissen dafür entscheiden können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und vereinzelt bei den GRÜNEN – Klaus Tischendorf, Linksfraktion, begibt sich zum Saalmikrofon.)

Vielen Dank. – Herr Tischendorf, Sie wollen einen Antrag stellen?

Danke, Herr Präsident! Es ist keine Kurzintervention. Wir möchten entsprechend § 85 der Geschäftsordnung den Antrag stellen, dass der Finanzminister und der Ministerpräsident herbeigerufen werden.

(Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den GRÜNEN)

Wir halten es für eine Unverschämtheit, was hier gegenüber dem Parlament passiert. Wir haben heute draußen eine Demonstration erlebt und die Forderungen der Betroffenen gehört. Wenn ein Ministerpräsident bei dieser Debatte geht und ein Finanzminister, der wesentlichen Anteil daran hat, dass es zu der Situation gekommen ist, sich einfach aus dem Parlament entfernt, dann ist das des Hohen Hauses nicht würdig. Deshalb bitten wir um Herbeirufung.

(Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, möchte zu diesem Antrag noch jemand das Wort ergreifen? – Das ist nicht der Fall.

Über die Herbeirufung von Mitgliedern der Staatsregierung entscheidet der Landtag mit Mehrheit.

(Einige Mitglieder der Fraktionen der CDU und der FDP betreten den Plenarsaal. – Daraufhin Unruhe bei der Linksfraktion, der SPD und den GRÜNEN)

Nur Ruhe!

Ich stelle damit den von Herrn Tischendorf eingebrachten Antrag der Linksfraktion, den Finanzminister des Freistaates Sachsen und den Ministerpräsidenten herbeizurufen, zur Abstimmung. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. –

(Zurufe von der Linksfraktion, der SPD und den GRÜNEN: Auszählen!)

Danke schön. Wer ist dagegen? –

(Erneute Zurufe von der Linksfraktion, der SPD und den GRÜNEN: Auszählen!)

Danke schön.

Da ich das nicht eindeutig erkennen konnte, bitte ich die Auszähler nach vorn.

(Mitglieder der Fraktionen der CDU und der FDP begehren Zutritt zum Plenarsaal.)

Ich bitte auch darum, dass niemand mehr den Saal betritt.

(Erneut begehren Mitglieder der Fraktionen der CDU und der FDP Zutritt zum Plenarsaal.)

Meine Damen und Herren, ich bitte darum, dass kein Abgeordneter mehr das Plenum betritt. Wir sind jetzt in der Abstimmung.

Ich komme noch einmal zu den zustimmenden Handzeichen. Wer für den Antrag der Linksfraktion ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Damit rufe ich die Neinstimmen auf. – Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich bei den Mitgliedern der Zählkommission für das schnelle und korrekte Auszählen der Stimmen. Für den Antrag der Fraktion DIE LINKE haben 47 gestimmt. Mit Nein haben 36 gestimmt. Damit ist der Antrag angenommen.