Protocol of the Session on November 24, 2011

Ja, bitte.

Bitte, Herr Bartl.

Frau Kliese, das haben wir uns sehr wohl überlegt. Es wäre für mich sicherlich unkomplizierter gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass ich – als Chemnitzer und als Mensch mit der SED-Biografie, die Sie meinen – dazu nicht rede. Ich bin bloß der Auffassung, dass gerade die Frage – –

(Zuruf von der CDU)

Ich war von 1975 bis 1978 Staatsanwalt, damals als Jugendstaatsanwalt in Freiberg. Das ist überschaubar. Das hat der damalige Staatsminister Heitmann überall nachprüfen lassen, auch in der ehemaligen Erfassungsstelle in Salzgitter. Die Akte meiner Prüfung ist sehr dick. Herr Heitmann hat nichts gefunden. Insofern können Sie das Argument nicht anbringen.

Ich will die Frage stellen, ob Sie es nicht als Versuch des Ausweichens erachten würden, wenn der rechts- und

justizpolitische Sprecher – allzumal, wenn er aus Chemnitz kommt – zu diesem Thema nicht Stellung nehmen würde und diese Aufgabe auf Freya-Maria Klinger mit ihrer jugendlichen Biografie oder auf Kollegen Besier, der aus den alten Ländern kommt, delegiert hätte. Wir halten es jedenfalls für einen Ausdruck des ehrlichen Umgangs mit dieser Problematik, dass ich hier gesprochen habe.

(Beifall bei den LINKEN – Beifall der Abg. Annekathrin Giegengack, GRÜNE, und Eva Jähnigen, GRÜNE)

Ich möchte Ihre Frage gern beantworten. Das ist für mich angesichts der Tatsache, dass Sie früher die Funktion des Leiters der Abteilung Staat und Recht der SED-Bezirksleitung innehatten, weniger eine Frage der Zuständigkeit als vielmehr eine Frage der Sittlichkeit.

(Beifall des Abg. Stefan Brangs, SPD – Lebhafter Beifall bei der CDU und der FDP)

Nun endlich zum Antrag! Ich freue mich, dass er eingebracht worden ist. Gefordert wird die Aussetzung der Verkaufsaktivitäten für das ehemalige JVA-Gelände in Chemnitz. Darüber hinaus soll sichergestellt werden, dass an dieser Stelle ein Gedenkort entsteht.

Nun werden sich einige fragen: Warum soll gerade an dieser Stelle ein Gedenkort in Chemnitz entstehen? Das Gelände der JVA Chemnitz ist ein Terrain mit einer besonderen Geschichte. Während der Nazi-Diktatur wurden dort politisch Andersdenkende eingesperrt; darauf werden wir natürlich auch in der Konzeption Rücksicht nehmen. Nach 1945 diente das Gelände erst unter sowjetischer und dann unter DDR-Führung der Inhaftierung politischer Gefangener. Was Karl-Marx-Stadt aufgrund seiner strategisch günstigen Lage von anderen StasiGefängnissen unterschied, war die Tatsache, dass von dort aus Häftlinge in den Westen Deutschlands verkauft wurden. Karl-Marx-Stadt war – das wurde schon mehrfach betont – der Dreh- und Angelpunkt für Häftlingsfreikäufe, die von 1963 bis zur Wende in tausendfacher Zahl stattfanden.

Knapp dreieinhalb Milliarden D-Mark kassierte die DDR für den Verkauf politischer Gegner an den „Klassenfeind“. Knapp 34 000 Menschen sicherten mit ihren Schicksalen der DDR einen regelmäßigen Devisenstrom. Wer seine Strafe bereits verbüßt hatte, war etwa 11 000 DM wert; ein Arzt oder ein Ingenieur konnte bis zu 90 000 DM in die Staatskasse spülen. In der medial oft als nicht ganz so dramatisch dargestellten Diktatur der DDR wurde ganz klar Menschenhandel betrieben. Wer das bestreiten will, negiert historische Tatsachen, und wer das nicht weiß, braucht eine Gedenkstätte.

(Beifall des Abg. Thomas Jurk, SPD – Beifall bei der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Ich kann Ihnen sagen: Es gibt viele Menschen, die das nicht wissen.

Nun wird es sicherlich auch den Einwand geben, dass es bereits etliche Gedenkstätten zur Erinnerung an das Unrecht der SED-Diktatur gibt und dass es vielleicht zu einer Ungleichgewichtung gegenüber den Opfern der Zeit vor 1945 kommen könnte. Dazu sei zweierlei gesagt:

Erstens ist es das Ziel, in dieser Gedenkstätte sowohl an die Zeit vor 1945 als auch an die Zeit danach zu erinnern.

Zweitens. Eine Gedenkstätte entsteht nicht dort, wo eine quantitative Notwendigkeit gesehen wird; ein Gedenkort entsteht dort, wo etwas geschehen ist. Was auf dem Kaßberg geschah, ist von immenser historischer Dimension. Es ist nicht ausschließlich ein Chemnitzer Thema, es ist auch kein allein ostdeutsches Problem. Häftlingsfreikäufe besitzen eine gesamtdeutsche Relevanz und bedürfen einer gründlichen Aufarbeitung. Sie sind auch wissenschaftlich noch nicht ausgeforscht.

Wer denkt, wir könnten es uns leisten, auf die Aufarbeitung der Themen Stalinismus und SED-Diktatur zu verzichten, der hat die Katastrophe des 20. Jahrhunderts nicht in ihrem vollen Umfang verstanden.

Das Zeitalter der Extreme muss zusammengedacht, statt mit Denkverboten voneinander abgetrennt werden. Siegfried Reiprich, der Leiter der Stiftung Sächsische Gedenkstätten hat das in seiner Abschiedsrede in der Gedenkstätte Hohenschönhausen auf den Punkt gebracht: „Wer vom Stalinismus nicht reden möchte, soll auch vom Faschismus schweigen.“

(Beifall bei den GRÜNEN, der CDU und der FDP)

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Bitte, Frau Doktor.

Danke, Frau Kliese. – Haben Sie registriert, dass im Änderungsantrag genau dieser Passus, nämlich an die Opfer des Naziregimes auch zu erinnern, gestrichen worden ist?

(Zurufe von der CDU: Nein!)

Zunächst ist es kein Ausschlusskriterium, dass es dort nicht ausdrücklich mit drinsteht. Des Weiteren gibt es eine Zusammenarbeit mit dem Verein, der sich dort gegründet hat. Dieser Verein hat ausdrücklich in seiner Präambel stehen, dass die Opfer vor 1945 einbezogen werden. Das wird auch durch diesen Antrag nicht verhindert.

(Beifall bei den GRÜNEN, der CDU und der FDP)

Jemand, der den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts in seinen dunkelsten Stunden erlebt hat, ist der Kommunist Jorge Semprún. Semprún überlebte das Konzentrationslager Buchenwald. Danach musste er miterleben, wie einige seiner Weggefährten, die genau wie er lebend aus dem KZ herausgekommen waren, der stalinistischen Liquidation zum Opfer fielen. Semprún hat in seinem Buch „Was für

ein schöner Sonntag“ etwas dazu geschrieben, was ich Ihnen gern vortragen möchte: „Ich dachte daran, dass Stalin weiter mordete, einsperrte, verleumdete, sogar nach seinem Tod. Ich dachte daran, dass 1945 die Deportierten in Buchenwald weiter starben, sogar nach der Befreiung. Die Überlebenden aus Auschwitz starben weiter in dem Kleinen Lager von Buchenwald. Ich dachte daran, dass Stalin allein ein riesiges Konzentrationslager, eine ideologische Gaskammer gewesen war, eine Art Verbrennungsofen des richtigen Denkens. Er mordete sogar nach seinem Verschwinden weiter. Ich dachte vor allem daran, dass Stalin die mögliche Unschuld unseres Gedächtnisses zerstörte.“

Meine Damen und Herren! Der brillante britische Historiker A. J. P. Taylor hatte einmal auf die Frage, weshalb er sich ausgerechnet mit seinem Forschungsgegenstand befasse, die Antwort gegeben: „Because this existed.“ Und genau das ist das Wesentliche. Warum sollen wir uns auf diesem Gelände mit der Geschichte zweier Diktaturen befassen? Weil sie existierten. Und zwar genau an diesem Ort.

Als stellvertretende Vorsitzende des Vereins zur Errichtung eines Lern- und Gedenkortes Kaßberg e. V. freue ich mich, dass wir heute einen wichtigen parlamentarischen Grundstein für dieses Vorhaben legen können. Als stellvertretende Vorsitzende dieses Vereins bin ich aber auch etwas verwundert, dass die Antragsteller bei der gemeinsamen Erarbeitung keinen Gedanken daran verschwendet haben, eine sozialdemokratische Partei in diesen Prozess einzubeziehen. Welche Ursachen auch immer dafür geltend gemacht werden können – Taktieren, Eile, Gedankenlosigkeit –, ich persönlich kann es schwer nachvollziehen. Die SPD hat wie keine andere Partei unter den Repressionen in der SBZ und der DDR gelitten. Im Nachgang der Zwangsvereinigung wurden 5 000 Sozialdemokraten eingesperrt, 400 wurden hingerichtet. In meinem Ortsverein sitzen nicht die Kandidaten der Nationalen Front. In meinem Ortsverein sitzen Männer, die zu DDR-Zeiten auf dem Kaßberg inhaftiert waren. Wie soll ich denen eigentlich erklären, dass man einen solchen Antrag am besten ohne die SPD-Fraktion einreicht?

Doch auch ohne dass die SPD-Fraktion als Antragstellerin einbezogen wurde, ist es für mich ein ganz besonderer Moment, wenn wir heute eine Mehrheit für diesen Antrag finden und einer Gedenkstätte in Chemnitz den Weg ebnen, denn für mich gibt es kaum ein Thema, das für Konkurrenzkämpfe politischer Parteien schlechter geeignet wäre als dieses.

(Lebhafter Beifall bei der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN – Dr. André Hahn, DIE LINKE, steht am Mikrofon.)

Herr Dr. Hahn, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wollte gern das Letzte aufgreifen, was Frau Kliese gesagt hat, mit dem unnötigen Konkur

renzkampf zwischen den demokratischen Parteien. Ich kann mich noch gut an die Diskussion erinnern, die wir hier zum Thema 50 Jahre Mauerbau geführt haben. Da ist uns von verschiedenen Seiten aus der Koalition vorgeworfen worden, dass wir eine junge Kollegin, die zu dieser Zeit noch gar nicht gelebt hat, haben sprechen und dieses Thema aus ihrer Sicht beleuchten lassen. Ich bleibe erstens dabei, dass das unser Recht ist. Zweitens haben Sie da geschimpft, dass diejenigen, die zu DDR-Zeiten Verantwortung hatten, sich dieser Thematik nicht stellen würden. Heute – und das hat Frau Kliese in ihrem Redebeitrag gemacht – wird vorgeworfen, dass Herr Bartl nicht nur als Chemnitzer, sondern auch als zuständiger Fachsprecher hierzu Position bezieht.

Sie müssen sich schon überlegen, wie Sie in solchen Fragen generell argumentieren. Die Auseinandersetzung mit Geschichte ist notwendig, und sie muss von denen geführt werden, die zu DDR-Zeiten Verantwortung getragen, haben wie von jenen, die zu DDR-Zeiten für diese Dinge keine Verantwortung getragen haben. Ich nehme für alle Abgeordneten meiner Fraktion in Anspruch, dass sie sich in der demokratischen Gesellschaft bewegen, dass sie sich mit der Geschichte auseinandersetzen. Wir brauchen von Ihnen in diesem Punkt keine Belehrung.

(Vereinzelt Beifall bei den LINKEN)

Das war eine Kurzintervention von Herrn Kollegen Hahn. Frau Kliese, möchten Sie erwidern? – Das ist nicht der Fall. Wir setzen die Aussprache fort. Für die Fraktion der FDP spricht der Abg. Herr Biesok. Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP-Fraktion im Sächsischen Landtag unterstützt das Anliegen, der historischen und politischen Bedeutung der ehemaligen Justizvollzugsanstalt Chemnitz-Kaßberg eine stärkere Aufmerksamkeit zu verleihen. Ich möchte mich hier nicht dazu äußern, wie die Situation derjenigen war, die in der DDR inhaftiert wurden und die dann freigekauft worden sind. Ich möchte mich den Worten von Marko Schiemann anschließen. Ich denke, in diesem Hause sollte man über diese Zeit und zu diesem Thema nur dann sprechen, wenn man sie selber erlebt hat, und das habe ich nicht.

Aus dem gleichen Grunde werde ich in einer politischen Diskussion Herrn Bartl niemals seine ersten beruflichen Jahre vorwerfen. Ich kann das nicht beurteilen. Aus diesem Grunde werde ich mich nicht dazu äußern.

Wir Liberalen messen im Umgang mit Opfern und den Hinterlassenschaften der ehemaligen Staatssicherheit in der DDR und den Repressalien dieses Systems eine sehr hohe Bedeutung zu. Auch in der FDP gibt es Mitglieder, die in dieser Zeit inhaftiert waren und die unter diesem System leiden mussten. Deshalb ist es uns ein wichtiges Anliegen, dass wir eine entsprechende Gedenkstätte haben.

Wir haben uns entschlossen, diesen Änderungsantrag zu machen, weil ich denke, es ist der falsche Ort für politische Auseinandersetzungen. Wir möchten diese Gedenkstätte und haben diesen Antrag auch inhaltlich nicht viel verändert. Wir haben als einziges den Stopp der Verkaufsverhandlungen herausgenommen. Eine weitere inhaltliche Änderung war von uns beabsichtigt. Deshalb, Herr Kollege Bartl, sind wir weiterhin der Meinung, dass der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auch an diesem Ort gedacht werden soll. Dies stand im bisherigen Antrag nicht im Beschlusstext, sondern nur in der Begründung. Diese Begründung des ehemaligen Antrages in der ursprünglichen Fassung machen wir uns ausdrücklich zu eigen. Damit ist auch gemeint, dass wir allen Opfern einer Gewaltherrschaft, die an diesem Ort leiden mussten, hier mitgedenken werden.

(Beifall bei der FDP, der CDU und den GRÜNEN)

Ausdrücklich begrüße ich, dass die GRÜNEN darauf eingegangen sind, dass wir uns das bei allem Gedenken auch leisten können müssen. Der Freistaat Sachsen muss sparsam mit seinen Ressourcen umgehen. Wenn wir uns den großen Gebäudekomplex ansehen, so wie er sich in Chemnitz-Kaßberg darstellt, wäre es vermessen zu sagen, wir können ihn komplett durch den Freistaat unterhalten. Deshalb ist ein Verkauf der richtige Weg. Wir dürfen den Verkauf nicht nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten organisieren, sondern müssen dem Gedenken einen angemessenen Platz einräumen.

(Beifall bei der FDP, der CDU und den GRÜNEN)

Ich freue mich, dass wir einen gemeinsamen Änderungsantrag verfasst haben, den ich hiermit förmlich einbringen möchte. Dieser ist eine gemeinsame Basis für unser Zusammenwirken. Es stellt sich nicht mehr die Frage Verkauf oder Gedenkstätte, sondern es stellt sich nur noch die Frage: Wie integrieren wir einen Gedenkort bei einem Verkaufsprozess an einen Investor? Ich möchte noch einmal betonen, dass wir gerne die Initiative des Bundesbeauftragten aufnehmen wollen. Er hat sehr deutlich gemacht, was er sich an diesem Standort vorstellen kann. Wir schlagen weiter vor, den Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen mit in diese Diskussion einzubeziehen, damit wir einen sächsischen Bezug bekommen. Ich denke, so werden wir einen angemessenen Ort des Gedenkens an diesem historisch wichtigen Ort finden.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP, der CDU und den GRÜNEN)

Und nun die NPDFraktion.