Protocol of the Session on October 12, 2011

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Modschiedler, damit Sie die Welt wieder verstehen: Das Problem ist letztendlich wirklich ungewöhnlich – das gebe ich zu –, dass wir mitten im Beratungsverfahren ein Thema, das im Gesetzgebungsverfahren behandelt werden soll, für eine Aktuelle Debatte aufrufen. Die 21 Jahre, die ich im Parlament sitze, ist es mir noch nie passiert, dass ich nach einer Anhörung über mehrere Tage hinausgehe und sage – ganz gleich, wer die Experten benannt hat –: Bis auf ganz wenige Ausnahmen haben alle Experten gesagt: Das Gesetz taugt nichts. Sie haben vor allem eine Botschaft gebracht: Wir können Ihnen, meine Damen und Herren Abgeordneten, nicht sagen, was das Gesetz kosten wird, was es den Freistaat Sachsen kosten wird, was es ihm an finanziellen, personellen und demotivierenden und sonstigen Auswirkungen nachteiliger Art bringen wird, wenn das Gesetz, so wie es jetzt steht, umgesetzt wird.

Insofern hatte, wer sehen und hören will, in der Anhörung eine Offenbarung. Die verschiedenen Sachverständigen, der Vertreter der Steuerberatergewerkschaft, der Rechnungshofpräsident von Sachsen oder der von Mecklenburg-Vorpommern oder wer auch immer: Alle heben auf die Frage die Hände, wie abschätzbar der Effekt der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit, Effizienz – alles, was das Gesetz verspricht und worauf es angeblich abzielt – ist, und sagen, dass sie das nicht wissen. Das ist eine Grauzone, ein Blick in die gläserne Kugel. Das ist im Gesetz nicht gesagt, wurde nicht ausgeführt und ist nicht erkennbar. Im Gegenteil sagte der als Sachverständiger geladene Vorsitzende des Sächsischen Richtervereins, dass er uns anhand konkreter Analysen und Auswertungen der Erfahrungen anderer Länder prophezeien kann, dass es teurer wird, wenn zum Beispiel Gerichte oder Zweigstellen geschlossen werden. Es werden dann Akten hin- und hertransportiert werden müssen.

Hier wird aber den Abgeordneten gesagt: Nehmt es in Demut hin. Wir beschließen es mehrheitlich und mit der nächsten Haushaltsauflage für 2012/2013 kommen dann die Zahlen. Das ist keine auch nur in Näherung denkbare Grundlage für die weitere Debatte.

Der Gesetzentwurf, der eine Staatsmodernisierung im Sinne des Umkrempelns vieler Verwaltungs- und Gerichtsstandorte bringen soll, ist ja nicht bindungsfrei von der Verfassung. Das ist ganz klar im Rahmen der Verfassung zu regeln, und zwar nach Artikel 82. Dieser Artikel sagt, dass alles, was in diesem Land geschieht – ob nun Kreisgebietsreform, Funktionalreform oder eben auch Staatsmodernisierung qua Standortekonzept – dem in der Verfassung vorgesehenen Prinzip der Allgemeinwohlverpflichtung und Dienstleistung für den Menschen dienen muss. Konkret steht das in Artikel 82 Abs. 1 Satz 2. Genau die Tatsache, dass das den Bürgern und dem

Gemeinwohl nicht dient – und zwar finanziell, materiell und personell – und es die Dienstleistungen nicht zum Bürger bringt, sondern von ihm wegnimmt, wenn sich die Justiz aus der Fläche zurückzieht, ist durch die Expertenanhörungen so deutlich geworden, dass ich sage: Der Gesetzentwurf ist nicht probat für die weitere Beratung.

Da es in diesem Hohen Haus keine 1. Lesung mit Aussprache mehr gibt, was ich sehr bedaure, weil man damit im Grunde genommen keine Einführung gegenüber der Öffentlichkeit mehr hat, haben wir gesagt, dass wir es wenigstens zwischendurch thematisieren und in der Aktuellen Stunde bereden müssen. Das ist keine Schmähkritik. Es gibt einfach das Problem, dass das ein Gesetzentwurf ist, der nach dem Muster verfährt: Wollen wir mal sehen, wo es uns hinmodernisiert! So geht es aber nicht.

Denken Sie also bitte darüber nach, ob man auf der Grundlage der jetzt vorliegenden Informationen das Gesetzgebungsverfahren überhaupt vernünftig durchführen und zu Ende bringen kann. Nicht mehr und nicht weniger ist das Problem, mit dem man umgehen muss.

Ich will nur noch ein Beispiel bringen. In der Anhörung war auch eine ehrenamtliche Betreuerin als Sachverständige geladen, meines Wissens von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Sie betreut im Kreis Annaberg seit Jahr und Tag für knapp 340 Euro pro Jahr ehrenamtlich Betreuungsfälle. Das betrifft Menschen, die aufgrund der verschiedensten gesundheitlichen Konstellationen nicht mehr in der Lage sind, ihre eigenen Geschäfte vor Behörden und dergleichen zu besorgen. Sie hat uns gesagt, dass sie, wenn das Amtsgericht Annaberg geschlossen wird, für diese 340 Euro nicht 40/50 km nach Marienberg fährt. Dann gibt es diese ehrenamtlichen Betreuer nicht mehr und das ehrenamtliche Betreuerwesen bricht weg. Dann muss diese Betreuung über Hauptamtliche gemacht werden, die viel Geld kosten.

Herr Bartl, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Die letzten drei Sätze, ich habe noch fünf Sekunden.

Das war genau das Thema, nämlich das Amtsgericht Annaberg zu schließen, damit das Finanzamt das Gebäude bekommt. Das ist irrational und kann nicht Grundlage für eine vernünftig zu Ende zu bringende Gesetzgebung sein.

(Beifall bei den LINKEN und der SPD)

Herr Biesok, Sie möchten sicherlich das Instrument der Kurzintervention nutzen. Dazu haben Sie jetzt Gelegenheit.

Vielen Dank, Herr Präsident! Ich möchte kurz auf den Redebeitrag vom Kollegen Bartl eingehen.

Kollege Bartl, gerade die Diskussion um das Landgericht Bautzen regt mich unheimlich auf. Das sage ich Ihnen

ganz ehrlich. Es wird so diskutiert, als ob das Landgericht Bautzen geschlossen würde, als ob das Gebäude, das 1906 errichtet wurde, mitsamt seinen Richtern und Staatsanwälten abgerissen würde und die sorbische Minderheit keine Möglichkeit mehr hätte, im Freistaat Sachsen Rechtsschutz zu suchen. Das ist falsch.

Wir werden weiterhin – das ist im Gesetzentwurf so vorgesehen – in Bautzen eine Außenstelle haben. Die Menschen in Bautzen und im ehemaligen Gerichtskreis werden in 80 bis 90 % aller Fälle – wenn das Präsidium des Gerichtes das ordentlich organisiert, was seine Aufgabe ist – weiterhin Rechtsschutz vor Ort finden.

Ich halte es bei einer Anhörung für ausgesprochen misslich, wenn sich die Experten hinsetzen und darzulegen versuchen, warum etwas nicht geht. Ich habe keinen Experten erlebt, der sich überlegt hat, warum etwas gehen soll. Wir haben die Anforderungen, die ich in meiner Rede dargelegt habe, und haben nur einen begrenzten finanziellen Rahmen. Es ist sicherlich wünschenswert, dass in jedem Ort ein Amtsgericht existiert, zu dem man sofort gehen kann. Das würde ich unterschreiben, wenn wir unbegrenzte Finanzmittel hätten. Die haben wir aber nicht. Wir müssen uns also überlegen, wie wir die Finanzmittel, die wir haben, sinnvoll und konzentriert einsetzen und mit welchen Strukturen wir arbeiten. Da ist gerade die Entscheidung für Bautzen sehr sinnvoll und wird den Bürgern gerecht, weil diese weiterhin ihr Landgericht vor Ort haben werden und nur eine andere Messingplatte daran befestigt ist, auf der dann „Landgericht Görlitz, Außenstelle Bautzen“ steht.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Herr Bartl, Sie möchten auf die Kurzintervention antworten. Dazu haben Sie jetzt Gelegenheit.

Vielen Dank, Herr Präsident! Ich habe mich zwar nicht auf das Landgericht Bautzen bezogen, aber wir können auch beim Landgericht Bautzen bleiben. Dort steht meines Wissens ein ganz eklatantes verfassungsrechtliches Problem im Raum, und zwar betrifft das die Sorbenproblematik. Denn das Recht, in sorbischer Sprache vor Gericht zu verhandeln und gehört zu werden, ist an den räumlichen Siedlungsbereich der Sorben gebunden. Das ist ein Problem, das Sie nicht wegreden können. In Görlitz geht das eben nicht. Das hat kein Geringerer als einer der Berater des Verfassungsausschusses bei der Verfassungsgebung, Prof. von Mangold, hier gesagt.

Das Problem ist noch ein anderes. Die Bautzener haben erklärt, dass sie dann die Akten und die Richter hin- und herfahren. Die Zeugen werden von hier nach dort gebracht. Es wird viel mehr Aufwand geben und keine Einsparung bzw. Effizienz.

Wenn aber als Einziges gesagt wird, dass die Effizienz das Ziel der Gesetzgebung wäre, aber die Effizienz nicht belegt werden kann, dann möchte ich das gern erklärt

haben. Vielleicht kann das der Herr Staatsminister heute machen.

Das Amtsgericht Annaberg liegt im höchstgelegenen Kreis im Freistaat Sachsen, mit der höchstgelegenen Gemeinde mit Stadtrecht in Deutschland, Oberwiesenthal. Von dort aus müsste ich 45 km nach Marienberg fahren, um mir einen Erbschein oder einen Beratungshilfeschein zu holen.

(Carsten Biesok, FDP: Das machen Sie einmal im Leben!)

Beratungshilfescheine holen sich die Menschen oft.

Betreuung kann am Tag dreimal passieren. Das hat uns die Betreuerin gesagt. Es kann sein, dass der Betreuungsrichter am Tag zweimal ins Krankenhaus zu demselben zu Betreuenden muss, weil dort zu entscheiden ist, ob der Operation zugestimmt wird oder nicht. Dann sitzt er aber in Marienberg.

Herr Bartl, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Damit will ich sagen: So einfach, wie Sie, Kollege Biesok, es dargestellt haben, ist die Welt nicht. Die Sachverständigen haben uns deutlich gemacht, wie kompliziert die Gemengelage wird, wenn das Gesetz so beschlossen wird.

Danke.

(Beifall bei den LINKEN und den GRÜNEN)

Die CDU-Fraktion hat noch Redezeit. Herr Modschiedler, Sie möchten noch einmal sprechen.

Vielen Dank, Herr Präsident! Herr Bartl, das alles gehört wirklich in den Ausschuss. Einige Laienschauspieler setzen sich hier mit einem Halbwissen hin. Einige, die gerade die Protokolle bekommen und gelesen haben, fangen jetzt an zu diskutieren.

(Eva Jähnigen, GRÜNE: Ich war dabei!)

Ich weiß, Frau Jähnigen, Sie hatten Ihre Große Anfrage.

Es geht darum, dass das ganze Parlament die Möglichkeit hat, sich einzubringen, nachdem es das Protokoll gelesen hat.

Wir haben mitberatende Ausschüsse, und Sie stellen sich hier hin und sagen: Na gut, jetzt reden wir einmal, ob mitberatend oder nicht, ist mir auch egal, ich war halt da. Das geht nicht. Sie merken gerade in der Diskussion: Herr Biesok unterhält sich mit Herrn Bartl. Herr Bartl hat eine Notlösung gefunden. Er zieht den Kreis und sagt: Eigentlich haben Sie recht, seit 20 Jahren ist mir das nicht passiert, aber heute müssen wir eine Ausnahme machen; denn es ist evident, dass das Gesetz nicht funktioniert. Wenn es nicht funktioniert, dann hören wir es uns im

Protokoll an, dann gehen wir in den Ausschuss und stellen die Anträge bzw. den Antrag insgesamt.

Ich habe vorhin gesagt, bei Ihnen hätte ich mich gewundert. Jetzt wundere ich mich wirklich. Schade drum; denn hier haben Sie in der nachfolgenden Diskussion festgestellt: Das hätten wir besser im Ausschuss gemacht, das gehört in den Fachausschuss. Die Mitberatungen werden eingeholt und dann legen wir los, und ich würde sagen: Jetzt machen wir es auch so.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren Abgeordneten, ich frage: Möchte noch jemand in der zweiten Runde das Wort ergreifen? SPD und FDP haben noch Redezeit. – Dies kann ich nicht erkennen. Damit schließe ich die zweite Runde und rufe eine dritte Runde auf; Herr Stange.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Modschiedler, es wäre überhaupt nicht unser Ansinnen gewesen, dieses Gesetz außerhalb eines – wie es Herr Patt bereits im Juni sagte – geordneten Verfahrens in eine Aktuelle Debatte zu ziehen. Aber gerade weil dieses Gesetz in der Anhörung komplett durchgefallen ist, müssen wir uns außerhalb des geordneten Verfahrens darüber verständigen, wie wir überhaupt weitermachen wollen; denn dieses Gesetz ist im geordneten Verfahren nicht mehr „verschlimmbesserbar“. Was wollen Sie denn machen? Wollen Sie einen genauso dicken Ergänzungs-, Ersetzungs- oder Veränderungsantrag stellen? Das ist doch das Problem. Beachten Sie wirklich, was Ihnen in der Anhörung gesagt wurde? Das Gesetz muss im Grunde zurückgezogen werden. – Das geht nicht, wir sind im geordneten Verfahren. Das ist das Grundproblem, vor dem wir stehen.

(Beifall des Abg. Dr. André Hahn, DIE LINKE)

Deshalb haben wir gesagt, wir müssen die Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten ins Boot holen. Man muss sich einmal vorstellen, um wie viele Standorte es in diesem Lande geht, und die Hälfte aller Abgeordneten geht bei dieser Aktuellen Debatte nach draußen. Mehr als 100 waren bei den Anhörungen nicht anwesend, sollen jedoch am Ende darüber entscheiden. Glauben Sie im Ernst, dass wir im geordneten Verfahren in den Ausschüssen, so wie das bisher lief, weitermachen können? Ich kenne das seit zwei Jahren so, dass im Grunde so abgestimmt wird, wie der Vorsitzende der Fraktion es macht. Da wird vom Einzelnen nicht nachgedacht, sondern es wird gemacht, was vorn gesagt wird. Das ist das Problem.

(Alexander Delle, NPD: Das ist ‚ doch bei euch auch so! Schwätzer!)

Nein, nein, bei Ihnen nicht, ich weiß. – Deshalb müssen wir uns bei diesem Gesetz außerhalb des geordneten Verfahrens verständigen, wie wir weitermachen wollen.

Herr Prof. Binus hat in der Anhörung ein Angebot gemacht und gesagt, er würde ein Material zuleiten, wie man wirtschaftlich damit umgehen kann. „Dies würde einen eigenen Beitrag unseres Geschäftsbereiches bedeuten. Wir könnten eine wirtschaftliche Alternative aufzeigen. Das könnte relativ schnell umgesetzt werden und würde mittelfristig bei gleich bleibender Effektivität zur Erhöhung der Wirtschaftlichkeit beitragen.“ Wir müssen doch irgendwo einmal diese Angebote aufgreifen. Wie wollen Sie denn das machen? Deshalb brauchen wir diese Aktuelle Debatte und die Verständigung unter den gesamten Abgeordneten – wenn das bei Ihnen überhaupt von Interesse ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei den LINKEN)