Wir brauchen Aus-, Fort- und Weiterbildung. Wir brauchen Kooperationsverträge mit den entsprechenden Schulträgern. Wir brauchen aber auch und vor allen Dingen Freiräume an den sächsischen Schulen, um inklusive Lernkultur überhaupt erst einmal vermitteln zu können.
Sie sehen, es gibt einen ganzen Strauß von Aufgaben, die auf uns zukommen werden, sowohl im Sächsischen Landtag, aber natürlich vor allen Dingen darüber hinaus.
Ich freue mich sehr, Herr Staatsminister, dass Sie offensichtlich – und ich hoffe, dass Sie das in Ihrem Redebeitrag noch einmal klarstellen – Ihre Haltung, die Sie am 08.11.2010 – Herr Schreiber, das war schon letztes Jahr – schriftlich niedergelegt haben, als Sie darlegten, dass Sie der Auffassung sind, dass wir bereits das komplette inklusive Schulsystem haben, geändert haben. Ich gehe davon aus, dass Sie das heute nach diesen Diskussionen so nicht mehr sehen. Natürlich hat jeder Mensch das Recht, sich weiterzuentwickeln.
Allerdings möchte ich hier auch ganz klar sagen, dass Ihr Agieren in den letzten Wochen und Monaten nicht unbedingt bei uns Parlamentariern zu besonderem Vertrauen oder auch zu besonderer Mitarbeit geführt hat. Das will ich deutlich zum Ausdruck bringen. Ich hoffe, dass sich das in der weiteren Arbeit zu diesem Thema anders darstellt.
Ich bin wie auch meine Fraktion sehr froh und auch ein bisschen stolz, dass es uns gelungen ist, so einen gemeinsamen Antrag zu erstellen. Wie auch meine Kollegen zuvor möchte ich Sie ganz herzlich bitten, mit einer sehr großen Mehrheit hier diesem gemeinsamen Antrag Ihre Zustimmung zu geben, wohl wissend, dass es noch viele Probleme gibt. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir nach außen der sächsischen Bevölkerung die Gemeinsamkeit zu diesem Thema klar darstellen.
Frau Falken, vielen Dank für Ihren Redebeitrag. Wir kommen zur nächsten Fraktion. Für die SPD-Fraktion spricht Frau Dr. Stange.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hätte vor hundert Jahren gedacht, dass Mädchen und Jungen gemeinsam in eine Schule gehen? Heute überholen die Mädchen die Jungen, wenn es um den Schulabschluss geht. So schnell kann sich Gesellschaft manchmal ändern, auch wenn hundert Jahre sicherlich eine lange Zeit sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich sehe es heute als einen historischen Erfolg an, in einem für die Menschen und die Gesellschaft als Ganzem zentral bedeutsamen Thema einen Gruppenantrag einbringen zu können, der uns hoffentlich nicht hundert Jahre begleitet, sondern in einer vielleicht nur zehn Jahre dauernden Periode zum Erfolg führt.
Wie wollen wir künftig miteinander leben? Nicht mehr und nicht weniger bedeutet dieser Antrag im Kern.
Wenn wir heute fraktionsübergreifend einen gemeinsamen Antrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich der Bildung hier in Sachsen vorlegen, dann können wir – das kann ich mit Fug und Recht für jene sagen, die an diesem Prozess beteiligt waren – auf einen monatelangen, manchmal auch zähen Verständigungsprozess zurückblicken.
Viele Gesprächsrunden mit Betroffenen – das sind Menschen mit und ohne Behinderung, das sind Sozialpädagogen und Gymnasiallehrer, das ist der ganz normale Bürger auf der Straße genauso wie der Parlamentarier – haben stattgefunden. Sie saßen an den Tischen und in den Foren und haben uns ihre Hoffnungen, aber auch ihre Sorgen deutlich gemacht. Wir haben Studien gewälzt, selbst in Auftrag gegeben und uns persönliche Schicksale angehört oder über sie gelesen.
Eine gehörlose Teilnehmerin am Inklusionskongress am vergangenen Wochenende sagte anschließend: „Ich musste 50 Jahre alt werden, um einmal an einer Fraktionsveranstaltung gleichberechtigt teilnehmen zu können.“ Das ist eigentlich ein schwerer Vorwurf an unsere Gesellschaft, aber zuallererst an uns als Fraktion. Denn in
Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes – Herr Wehner hat es vorhin erwähnt – steht, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, und das Grundgesetz ist nicht erst zwei Jahre alt.
Es bedurfte offenbar erst der UN-Behindertenrechtskonvention und eines länderübergreifenden Bekenntnisses, um in Sachsen eine dynamische Debatte über die tatsächliche Umsetzung dessen, was im Grundgesetz verankert ist, anzustoßen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich an dieser Stelle eines vorwegschicken: Wenn wir heute den gemeinsamen Antrag beschließen, dann sollten wir uns damit in die Hand versprechen, dass das keine Lippenbekenntnisse sind. Es ist von Geld gesprochen worden.
Es ist von einem Umdenken gesprochen worden. Das sind handfeste materielle Fakten, die geschaffen werden müssen. Wie weit wir noch von einem tatsächlichen inklusiven Schulsystem oder – ich sage einmal – Bildungssystem innerhalb Deutschlands entfernt sind, haben einige Redner in diesem Raum schon gesagt. Ich muss die Zahlen nicht wiederholen. Es reicht aber nicht aus, dass Kinder mit Behinderung Zugang zu Bildung haben, wie leider wieder in der KMK-Empfehlung vom Juni trotz der Proteste der Behindertenverbände zu lesen ist. Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention verlangt einen diskriminierungsfreien Zugang zu den allgemeinen Schulen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das heißt zum einen diskriminierungsfreier Zugang zu den allgemeinen Schulen, also ohne materiellen, finanziellen, personellen Vorbehalt, zum anderen aber auch – darin stimme ich Herrn Schreiber zu – keine automatische Abschaffung von Förderschulen. Beides steht dort nicht drin.
Als SPD haben wir seit vielen Jahren einen schönen Spruch geprägt, der, denke ich, auch hier zutrifft: „Die Einheit in der Vielfalt“ ist auch der Schlüssel zu einer Pädagogik der Vielfalt und Verschiedenheit. Es geht um die Verschiedenheit, die nicht nur durch Menschen mit und ohne Behinderung geprägt ist, sondern auch – ich erinnere an das von mir vorhin genannte Beispiel der Mädchen und Jungen – durch andere Kulturen etc. Die Einheit in der Vielfalt ist eine Bereicherung für unsere Gesellschaft.
Ich möchte noch einmal an diejenigen appellieren, die sich aus ethischen Gründen zu Recht dafür eingesetzt haben – auch in der Bundesdiskussion –, dass es keine vorgeburtlichen Untersuchungen und Abtreibungen aufgrund von möglichen Behinderungen gibt. Wenn wir das nicht wollen, dann müssen wir auch die Vielfalt in der Gesellschaft leben wollen – gemeinsam.
In der Schule und im Bildungssystem heißt das zweifelsohne eine besondere Qualifikation unserer Pädagoginnen und Pädagogen. Wenn ich das sage, dann meine ich damit die Sonderpädagogen, die es heute gewöhnt sind, vor allem Einzelförderung zu machen und zukünftig vermehrt in Regelschulen tätig werden und Gruppen vor sich haben. Ich meine aber auch die große Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern, die immer noch ausgebildet werden, ohne sonderpädagogische Kompetenzen zu erwerben. Dort muss sehr schnell gehandelt werden.
Ich habe vorhin von hundert Jahren und der Hoffnung gesprochen, dass wir in zehn Jahren im Bildungssystem einen Schritt weiter sein werden. Dann dürfen aber pro Jahr nicht nur 50 Pädagoginnen und Pädagogen eine Qualifikation in Sonderpädagogik erwerben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Barrierefreiheit auf den Wegen – im symbolischen Sinn – und in den Köpfen muss politisch gewollt sein und materiell unterstützt werden. Der gemeinsame Antrag ist ein Beweis, dass politische Barrieren ausgeräumt werden können. Dafür bin ich sehr dankbar. Keinesfalls darf es aber – damit bin ich wieder bei den Lippenbekenntnissen – zu einer Integration „auf die Kalte“ kommen, das heißt, Kinder mit sonderpädagogischem Bedarf werden in Regelklassen geschult, ohne dass der entsprechende Förderbedarf umgesetzt wird.
Inklusion – ich bin Herrn Schreiber sehr dankbar für seine Aussagen – ist kein Sparmodell, auch wenn wir zunächst auf Integration setzen, und schon gar nicht in der Phase der Parallelität beider Systeme, also der inklusiven Schule auf der einen Seite und der Förderschule auf der anderen Seite. Die Versetzung oder die Abordnung von Förderschullehrern an die Regelschule darf nicht zu Lücken in den Förderschulen führen, solange dort noch Kinder geschult werden.
Inklusion ist ein gesellschaftlicher Gewinn und sicherlich – lassen Sie mich das an dieser Stelle auch sagen – langfristig ein volkswirtschaftlicher Gewinn, denn jeder Schüler mit einer Behinderung, der erfolgreich den Schulabschluss erwirbt, wird genauso wie jeder Schüler ohne Behinderung die Möglichkeit haben, eine Ausbildung zu absolvieren und in einen Beruf einzusteigen. Er wird als Steuerzahler da sein, aber auch als wertvolles Mitglied in dieser Gesellschaft leben.
Die SPD will eine inklusive Schule in einer inklusiven Gesellschaft entwickeln. Wir haben dazu ein eigenes Positionspapier vorgelegt. Wir wissen, dass Schulen nicht im luftleeren Raum leben. Daher kann das vom Kultusministerium im Antrag geforderte Aktionsprogramm nur ein Baustein in einem landesweiten Aktionsprogramm sein. Ich bedauere es sehr, dass Frau Clauß nicht anwesend ist, denn meines Wissens ist sie für die Landesregierung beauftragt, ein solches Aktionsprogramm für Sachsen zu erstellen.
Wenn wir von einem Aktionsprogramm für die Schulen sprechen, müssen wir auch an die Kindertagesstätten und die Horte denken. Wir dürfen auch die berufliche Bildung nicht vergessen. Vor diesem Hintergrund ist die SPDFraktion bereit, zunächst kleine Schritte mit allen gemeinsam zu gehen, wenn die Schritte in die richtige Richtung, in Richtung eines gemeinsamen und gleichberechtigten Lebens von Menschen mit und ohne Behinderung führen.
Ich hoffe, dass der Kultusminister dieses Zeichen, das aus dem Parlament kommt und ihm mit einem gemeinsamen Antrag den Auftrag erteilt, versteht und dass die Vertrauensbasis zwischen dem Kultusministerium und den Antragstellern, die in den letzten Monaten stark erschüttert wurde, wieder aufgebaut werden kann. Ich hoffe ferner, dass wir von diesem Expertengremium – das ist Ihr Expertengremium, Herr Wöller – und dem zu erstellenden Aktionsprogramm gemeinsam profitieren können.
Wünscht ein Abgeordneter der FDP-Fraktion noch einmal das Wort? – Das kann ich nicht erkennen. Die NPDFraktion? – Auch nicht. Damit schließe ich die zweite Runde und frage, ob in einer dritten Runde ein Abgeordneter noch das Wort wünscht. – Das kann ich ebenfalls nicht erkennen. Damit hat für die Staatsregierung Herr Staatsminister Wöller das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich auf den Stand der Inklusion in Sachsen zu sprechen komme, lassen Sie mich kurz auf zwei Fragen eingehen: Was bedeutet Inklusion? Was möchten wir mit der UN-Behindertenrechtskonvention erreichen?
Der Schriftsteller Hans Kasper schreibt – ich zitiere –: „Die Humanität erreichte mehr, wenn sie, statt die Gleichheit zu loben, zum Respekt vor dem Wunder der Vielfalt riete.“ – So weit Hans Kasper.
Genau darum geht es bei der Frage der Inklusion: um die Wertschätzung der Vielfalt, um den Respekt vor der Heterogenität des Menschen auch in der Bildung und Erziehung. Unsere Schüler – behindert oder nicht – haben ganz unterschiedliche Bedürfnisse, darunter auch solche, die der Bereitstellung spezieller Mittel und Methoden bedürfen. Inklusion bedeutet aber nicht nur, dass jede Schule mit einer Rampe oder einem Aufzug zu versehen ist, damit sie für jedermann barrierefrei zugänglich ist.
Inklusion bedeutet in erster Linie, die Barrieren in den Köpfen zu beseitigen. Inklusion bedeutet ferner Einbeziehung und Dazugehörigkeit. Um die Barrieren in den Köpfen der Menschen zu überwinden, strebt Inklusion daher an, dass nicht behinderte und behinderte Schüler gemeinsam und voneinander lernen, dass sie den Tag unter demselben Dach verbringen, sich begegnen und kennenlernen, dass sie gegenseitige Berührungsängste
überwinden und abbauen und den anderen respektieren und schätzen lernen. Sie haben denselben Schulweg, sie teilen den Pausenhof und sie lernen sich im Rahmen der Ganztagsangebote kennen. Sie verbringen Zeit miteinander, und am besten verbringen sie auch die Freizeit miteinander.
Um das zu ermöglichen, soll die Zahl der Partnerklassen erweitert und die Kooperation zwischen Förderschulen und anderen allgemeinbildenden Schulen sowie Berufsschulen ausgebaut werden. Sehr sinnvoll sind auch Kooperationen mit Vereinen und anderen Institutionen.
Kann ein Einzelner Kooperation und Partnerschaft intensivieren? Nein, das kann er nicht. Dazu gehören immer mindestens zwei. Die Kooperation zwischen Schulen, Verbänden und Vereinen voranzutreiben und die Partnerschaft zwischen Schule und Eltern zu stärken ist – auch darauf ist in der Diskussion hingewiesen worden – eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen alle Beteiligten aktiv werden.
Herr Kollege Colditz hat in der Diskussion richtigerweise darauf hingewiesen: Schule muss einen wichtigen Beitrag dazu leisten, aber es wäre falsch, Schule als abgeschlossenen Bereich zu betrachten. Wenn sich die Gesellschaft nicht ändert, dann, denke ich, laufen die Bemühungen der Inklusion ins Leere.
Dieses gemeinsame Aktivwerden, das ist es, was wir voranbringen müssen und wollen, damit die Inklusion – also Einbeziehung und Dazugehörigkeit – tatsächlich stattfinden kann.
Meine Damen und Herren! Jeder Vater und jede Mutter möchte das Beste für das eigene Kind. Der Auftrag von Schule ist es, jedes Kind individuell zu fördern; denn jeder zählt. Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern und Schule gemeinsam das Wohl des Kindes an die erste Stelle aller Überlegungen und Entscheidungen stellen, dass sie gemeinsam überlegen, was der richtige Weg zum jeweils aktuellen Zeitpunkt für das Kind ist.
Ich möchte noch einmal betonen, wie wichtig in diesem Zusammenhang die Elternarbeit ist und wie wichtig es ist, die Partnerschaft zwischen Schule und Eltern weiter auszubauen. Wir müssen die Eltern als einen der wichtigsten Partner noch mehr einbeziehen.
Das sächsische Schulsystem sieht für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf integrativen Unterricht an einer Regelschule oder Unterricht an einer allgemeinbildenden Förderschule vor. Die Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention und das Bekenntnis zur Förderschule sind kein Widerspruch. Im Gegenteil: Erklärtes Hauptziel ist es, dass jeder Schüler – ob mit oder ohne sonderpädagogischem Förderbedarf – die jeweils bestmögliche Unterstützung erfährt und den höchstmöglichen Schulabschluss erreicht.
Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es in Sachsen vielfältige Förderformen und Förderorte, an denen die Lehrkräfte
eine unersetzliche Arbeit leisten. Meine Damen und Herren, das Ziel von Inklusion ist eine passfähige und passgenaue Lösung für jeden. Auf dem Weg dorthin haben wir in Sachsen in den letzten Jahren Fortschritte gemacht. Auch das ist angesprochen worden, und dafür bin ich dankbar.