Daraus entsteht der Kalte Krieg der Erinnerungen. Wie sollen sich denn die Geläuterten verhalten? Sie haben sich längst zu ihrem Tun bekannt und sich entschuldigt.
Sollen sie nun den Liebhabern der ewigen Revolution die unbelehrbaren Kommunisten vorspielen, nur damit die alte Schlachtordnung stimmt? Sollen sie sich an den Rand der Gesellschaft zurückziehen und an politischen Willensbildungsprozessen nicht mehr teilhaben dürfen? Die Partei DIE LINKE hat in unserer Übergangsgesellschaft längst eine transitorische Funktion – eine Brückenfunktion – übernommen, die der Konsolidierung der demokratischen Gesellschaft im östlichen Deutschland dienlich ist.
Wohlgemerkt, wir reden hier über die Situation von heute, nicht über die von vor 20 Jahren. Das spontane Entsetzen
über das Ausmaß an Verrat und Schmerz, über Enttäuschungen und das Leid über verlorenes Leben standen zwischen Tätern und Opfern. Das ist doch gar keine Frage. Aber wird Freiheit nicht zu politischen Zwecken instrumentalisiert, wird sie nicht entwürdigt, wenn man sie auch noch nach 20 Jahren gegen die wendet, die zunächst gegen ihren Willen befreit wurden und dann einen Lernprozess durchlaufen mussten?
In der Fraktion DIE LINKE ist die Notwendigkeit einer restlichen Aufarbeitung der Vergangenheit völlig unstrittig. Versöhnung ohne Wahrheit ist verlogen. Aber was ist Wahrheit ohne Versöhnung? Der brandenburgische Ministerpräsident, Matthias Platzeck, hatte den Mut, vor etwa zehn Tagen dieses immer noch heikle Thema offen anzusprechen. Er hätte die Koalition mit der Linken einfach so, aus pragmatischen Gründen, schließen können, wie ihm Richard Schröder im Nachhinein empfohlen hatte. Aber er ging den schwierigeren Weg. Ich zitiere Platzeck: „Alle postdiktatorischen Gesellschaften stehen vor demselben Grundproblem.“ Wie weit sollen belastete Gruppen von Menschen in die neue demokratische Gesellschaft integriert werden? Die Macht der Vergangenheit will uns nicht loslassen und die Profiteure der schrecklichen Bilder tun alles, um sie lebendig zu halten.
Meine Damen und Herren, soweit Sie aus Bürgerrechtskreisen kommen: Sie sind mit Recht stolz auf Ihre friedliche Revolution.
Ja, ich bin gleich am Ende. – Aber die friedliche Revolution ist erst vollendet, wenn Sie sich auch der selbstüberwindenden Anstrengung der Integration unterzogen haben. Das habe ich schon vor fünf Jahren einmal sagen müssen. Hättet ihr alle Gegner an den Laternenpfosten aufgehängt, dann müsstet ihr euch heute nicht mehr mit ihnen versöhnen. Aber dann könntet ihr auch keine friedliche Revolution feiern.
Vielen Dank, Herr Prof. Besier. – Ich weise darauf hin, dass das ein vorgetragener Wortbeitrag war. Ich erinnere nochmals an den Stichwortzettel und die freie Rede entsprechend unserer Geschäftsordnung.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Tage des November 2009 sind gespickt mit Erinnerungen an jene Zeit vor 20 Jahren. Wir erleben im Fernsehen Bilder, die unter die Haut gehen und die uns noch immer zutiefst bewegen. Ich denke, es ist richtig, dass Funk, Fernsehen und die Print
Doch es ist gerade nicht nur wichtig für diejenigen, die sich immer wieder daran erinnern sollten, sondern auch für junge Menschen, die das damals nicht erleben konnten oder nicht so bewusst erlebt haben; denn es macht deutlich, warum es diesen Herbst ’89 gegeben hat.
Ich finde es bemerkenswert, dass in der öffentlichen Wahrnehmung sehr deutlich wird, dass es doch in erster Linie die ostdeutschen Menschen gewesen sind, die die Mauer zum Einsturz gebracht haben. Übrigens, selbst der Schabowski-Versprecher wurde erst mit Nachdruck durch die Leute, die an der Mauer standen, quasi in die Realität umgesetzt und die Mauer fiel. Auch das gehört zur Ehrlichkeit.
Ich denke aber auch, dass wir in einer Zeit leben, in der wir die Ost-West-Debatten einfach beiseitelassen sollten. Ich sah das ein wenig kritisch, als der Ministerpräsident im Wahlkampf mit dem Titel „Der Sachse“ geworben hat. Es ist klar, dass es in Sachsen Menschen gibt, die sagen: Schön, dass einer von uns regiert. Ich finde das per se auch nicht schlecht. Aber das einfach so herauszukehren wird dem nicht gerecht, was wir an Unterstützung gerade aus dem Westen erhalten haben.
Dabei geht es mir nicht nur um Solidarbeiträge und um Geld, sondern auch um die ehrliche Bereitschaft zur Unterstützung, die uns hier im Osten geholfen hat. Aber es ist richtig, dass sehr viele Väter die Einheit vorbereitet haben. Als Sozialdemokrat denke ich dabei gern an den Kniefall von Willy Brandt in Warschau – von den Konservativen im Westen damals arg bekämpft. Ich denke auch an die Leistungen von Kohl und Genscher zurück, die meiner Ansicht nach zur richtigen Zeit richtige Entscheidungen getroffen haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke zurück an jene Demonstrationen in Leipzig, Dresden, Plauen, ja, in ganz Sachsen und ganz Ostdeutschland. Ich denke zurück an jene Großdemonstration am 4. November 1989 in Berlin, als beispielsweise Christoph Hein die Heldenstadt Leipzig ausgerufen hat – völlig zu Recht, wie ich meine.
Ich denke aber auch zurück an jene Fantasie, an jenes unbefangene Herangehen an gesellschaftliche Veränderungen, was ich mir heute gern wieder zurückwünschen würde. Ich denke daran, dass wir unverkrampft waren und dass wir einfach die Gesellschaft so angenommen haben, wie sie war. Es war eine befreiende Zeit. Um an dieser Stelle mit Stefan Heyms Worten zu sprechen: Es war, als ob auf einmal die Fenster und Türen aufgegangen sind und der ganze Mief entweichen konnte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es waren klare Forderungen, die die Menschen in der DDR hatten: freie
Wahlen, Reisefreiheit. Sie wollten eine Verbesserung der katastrophalen Umweltsituation. Wer unsere Städte und Gemeinden angeschaut hat, der weiß auch, wenn er sich heute umschaut, dass sehr viel erreicht worden ist.
In jener Zeit bekam ich übrigens Kenntnis von einem Aufruf. Herr Präsident, gestatten Sie bitte, dass ich das zitiere; denn es macht deutlich, wofür wir damals eingestanden sind. In dem Aufruf stand unter anderem, wie man eben jene Ziele der demokratischen Veränderungen im Land erreichen konnte: „Rechtsstaat und strikte Gewaltenteilung, parlamentarische Demokratie und Parteienpluralität, Sozialstaat mit ökologischer Orientierung, relative Selbstständigkeit der Regionen (Länder, Kreise, Städte und Kommunen), soziale Marktwirtschaft mit striktem Monopolverbot zur Verhinderung undemokratischer Konzentration und unökonomischer Macht, Demokratisierung der Struktur des Wirtschaftslebens, unter anderem durch betriebliche Mitbestimmung, Förderung von Gemeinwirtschaft und Genossenschaften, Freiheit der Gewerkschaften und Streikrecht, strikte Religions- und Gewissensfreiheit, Gleichberechtigung und Förderung von Frauen, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit für alle demokratischen Organisationen, freie Presse und Zugang zu den elektronischen Medien für alle demokratischen Organisationen und Gewährung von Asyl für politische Flüchtlinge.“
Ich will es sehr deutlich sagen: Das ist eine Forderung, die man gerade im Lichte der damaligen Ereignisse besonders würdigen sollte; denn es waren ja wohl die Polen, Tschechen und Ungarn, die uns geholfen haben, die innerstaatliche Einheit realisieren zu können.
Wenn man das alles reflektiert, kann man mit der Bilanz nach 20 Jahren sagen: Es ist vieles geglückt, wir haben vieles erreicht. Ich will das ausdrücklich auch für Sachsen sagen, weil ich fünf Jahre Mitglied der Regierung war: Auch die Regierenden haben ihren Beitrag dazu geleistet. Ich denke, das sollte man würdigen.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen auch daran denken, was nicht gelang. Diesbezüglich bin ich, Herr Seidel, anderer Meinung als Sie, zumal ich ein anderes Schulmodell favorisiere. Ich halte es für falsch, dass man relativ eintönig ein Schulsystem übernommen hat, das aus der Wilhelminischen Zeit stammt. Selbst wenn Sie mir heute Forsa-Umfragen vorhalten: Die wirkliche Leistungsfähigkeit des DDR-Schulsystems bestand nun wirklich nicht in der ideologischen Verklärtheit, sondern sie bestand darin, dass wir gute brauchbare Abschlüsse erzielt haben. Es sind Leute in den Westen gegangen, weil sie hier viel Fachkompetenz erworben haben. Das sollten wir an dieser Stelle nicht vergessen.
Herr Präsident! Da ich in der zweiten Runde noch Redezeit habe, freue ich mich darauf, dann fortsetzen zu können.
Vielen Dank, Kollege Jurk. – Als Nächstes folgt der Redebeitrag der GRÜNEN. Bitte schön, Frau Kollegin Kallenbach.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Jubiläumsgedenken ist auch im Sächsischen Landtag angekommen. Das ist gut so. Wir haben allen Grund zur Freude und uns zu erinnern. Ich persönlich bin froh über 20 Jahre Leben in einem demokratischen Rechtsstaat, in dem nicht mehr staatliche Institutionen oder die Doktrin einer Einheitspartei und ihrer Alliierten über meine Biografie oder die meiner Kinder bestimmt haben.
Aber es reicht nicht, aller Jubeljahre wohlfeine Reden zu halten und ansonsten den Mantel des Schweigens darüber zu legen oder gar das Erbe der friedlichen Revolution in Glasvitrinen zu konservieren. Ich bin häufig mit Schülerinnen und Schülern im Gespräch. Sie werden es selbst wissen: Der Kenntnisstand über die Vergangenheit ist erschreckend. Das ist sicherlich auch eine Bringschuld der Elternhäuser, aber für mich ein klares Versagen schulischer Lehrpläne. Es ist einfach unverantwortlich, zur Tagesordnung überzugehen.
Was wissen die heute Zwanzigjährigen über die Unfreiheit in der DDR, über die Ideologisierung des Alltags, über das zweizüngige Bildungssystem, über die Unterdrückung der eigenen Meinung und die erwartete Anpassung? Warum verklären Eltern und Großeltern ihr Leben in der DDR? Warum beschönigen Menschen das Agieren, auch das Versagen, die Resignation und die Mutlosigkeit?
Schaffen wir es als demokratisch legitimiertes Gremium, die Voraussetzungen für die nötigen gesellschaftlichen Prozesse zu schaffen? Für mich sind der Mut und die Zivilcourage von Tausenden, die mit ihrem Freiheitswillen im Jahre 1989 ein ganzes System zum Einsturz gebracht haben, zu wertvoll, als dass wir es in den Nebelschwaden der Milchstraße verschwinden lassen oder gar in Selbstgefälligkeit verharren.
Wer die Vergangenheit leugnet oder sie überspringen will, läuft Gefahr, sie zu wiederholen. Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir nicht zulassen.
Bei allen Lobeshymnen auf den Freistaat Sachsen – die Umfragen und die Fakten belegen es: Die deutsche Einheit ist bei Weitem noch nicht vollendet. Ich nenne
Stichworte: Arbeitslosigkeit, Wegzug, die auch daraus entstehende demografische Entwicklung. Es muss uns nachdenklich machen, wenn das gesellschaftliche Interesse rapide abnimmt; Stichwort Wahlbeteiligung. Ist es Resignation? Zählt die Stimme nicht mehr? Machen „die da oben“ doch nur, was sie wollen? Wie steht es im Jahre 20 „danach“ mit den Beteiligungsrechten, mit den Bürgerrechten versus sogenannte Sicherheitspolitik, mit dem vermeintlichen Gegensatz von Ökonomie und Ökologie?