Es ist eine allgemeine Aussprache vorgesehen. Es beginnt die CDU. Es folgen FDP, GRÜNE, DIE LINKE, SPD und die NPD sowie die Staatsregierung, wenn sie das wünscht. Ich erteile jetzt Herrn Abg. Colditz von der CDU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Täglich gehen die Meldungen durch die sächsischen Medien: Fachkräftemangel besonders im Bereich des produzierenden Gewerbes. Das Handwerk klagt über fehlenden Nachwuchs. Der Ruf nach qualifizierten Zuwanderern wird lauter.
Sachsens Wirtschaft befindet sich weiter im Aufwind. Wir haben es heute früh in der Regierungserklärung schon gehört. Unternehmen investieren und schaffen neue Arbeitsplätze. Gleichzeitig müssen wir aber auch zur Kenntnis nehmen, dass unsere Bevölkerung weiter schrumpft. Das Problem des fehlenden Nachwuchses wird somit noch verschärft.
Daraus resultierend gewinnen die Frage der Ausgestaltung der Berufs- und Studienorientierung sowie der Einsatz des entwickelten Berufswahlpasses, auf den ich noch zu sprechen kommen will, an Bedeutung. Während wir vor
einigen Jahren noch gemeinsam darum gerungen haben, die Wirtschaft zu überzeugen, mehr Ausbildungsplätze im dualen System anzubieten, und vollzeitschulische Ausbildung mit immensen Mitteln finanziert haben, um möglichst jedem Schulabgänger einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen, verkehrt sich diese Situation nun bereits seit dem vergangenen Jahr ins Gegenteil.
Die Zahl der Ausbildungsplätze steigt, während die Zahl der Schulabgänger rapide gesunken ist. Erste Ausbildungsplätze – auch duale – bleiben unbesetzt und verursachen in der Folge einen Mangel an gut qualifizierten Fachkräften. Trotzdem werden in verschiedenen Bereichen immer noch vollzeitschulische Ausbildungsplätze vorgehalten und teils mit hohen Subventionen versehen, um junge Leute in Berufen auszubilden, die der sächsische Arbeitsmarkt eigentlich gar nicht nachfragt.
Hier liegen aus meiner Sicht die derzeitigen Probleme und der notwendige Ansatz für eine umfassende und zielgerichtete Berufs- und Studienorientierung. Es geht nicht mehr nur darum, jedem Schüler irgendeinen Ausbildungsplatz zu vermitteln. Wir müssen gemeinsam mit Wirtschaft, Hochschulen und Berufsbildungsträgern klar
definieren, wo Perspektiven am Arbeitsmarkt vorhanden sind und welche Ausbildung hierfür erforderlich ist.
Jeden Schulabgänger, den wir heute beruflich falsch orientieren und der eine Ausbildung aufnimmt, für die es in Sachsen keine Nachfrage gibt, werden wir verlieren, entweder frustriert in die – hoffentlich nur vorübergehende – Arbeitslosigkeit oder in eine teure Umschulung, oder er wird gar in andere, meist alte Bundesländer abwandern, und dies oft unwiederbringlich.
Nach aktuellen Analysen der IHK Chemnitz brechen zudem aktuell 28 %, also mehr als ein Viertel, der Lehrlinge die Ausbildung ab. Die Ursache dafür ist oftmals, dass vom erlernten oder vom zu erlernenden Beruf völlig falsche Vorstellungen existieren.
Meine Damen und Herren! Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, ist es notwendig, eine umfassende Berufs- und Studienorientierung zu sichern. Hier hat der Freistaat in den letzten Jahren eine Vielzahl von Maßnahmen und Strukturen initiiert oder zumindest befördert.
Einen Teil dieser Maßnahmen bildet auch der heute anzusprechende Berufswahlpass. Dieser bietet dem einzelnen Schüler schon frühzeitig die Möglichkeit, seine persönlichen Neigungen und Fertigkeiten zu erkennen und sich bei der zukünftigen Wahl seiner beruflichen Laufbahn an diesen zu orientieren. Er bietet ein pädagogisch ausgereiftes und letztlich auch mit der Wirtschaft abgestimmtes Ordnungsprinzip, welches den Berufsorientierungsprozess strukturiert und über mehrere Jahre begleitet.
Für Praxispartner und künftige Arbeitgeber gibt er Aufschluss über individuelle Kompetenzen und mögliche Einsatzfelder. Er ist aber auch Grundlage für die Berufsorientierung und Berufsberatung durch die Arbeitsagenturen.
Auch der Unternehmer selbst – das zeigen Gespräche mit Vertretern unterschiedlicher Branchen und der Kammern – nimmt mehr und mehr bei der Auswahl von Bewerbern auf eben diesen Berufswahlpass Bezug. Er ist zum regelmäßigen Instrument aller Beteiligten und Betroffenen bei der Berufswahl geworden. Er stellt auch für die Eltern eine gute Möglichkeit dar, steuernd auf die Berufsvorstellungen ihres Kindes Einfluss zu nehmen.
Wir möchten diesen Erfolg durch einen flächendeckenden frühzeitigen Einsatz des Berufswahlpasses in Sachsen auch weiterhin sicherstellen und dazu beitragen, dass möglichst viele Schüler ihre berufliche Perspektive hier finden, wohl wissend, damit nicht alle in unserem Freistaat halten zu können.
Dass der Berufswahlpass insbesondere durch die Wirtschaft mitfinanziert wird, zeigt auch, welches Interesse besteht, sich frühzeitig als Arbeitgeber in diesen Prozess zu integrieren.
Nachdem wir heute bereits über die Verfügbarkeit von 80 % bei Mittelschulen reden können, ist unsere Erwar
tung, dass sich die Staatsregierung im Dialog mit der Wirtschaft darum bemüht, ab dem Jahre 2012 für jeden Schüler einen Berufswahlpass zur Verfügung zu stellen und somit den von mir bereits beschriebenen Prozess für alle Schüler sowohl an den Mittelschulen als auch an den Gymnasien und Förderschulen zu ermöglichen.
Ich denke, man muss hier besonders herausstellen, dass gerade an den Gymnasien großer Handlungsbedarf besteht. Unternehmen können nicht früh genug damit beginnen, bei den Schülern Interesse zu wecken. Jugendliche wiederum müssen bereits in ihrer Schulzeit erfahren, welche Beschäftigungschancen in ihrer Region bestehen, welche Anforderungen die Wirtschaft stellt und was ihre eigenen Stärken und Neigungen sind. In diesem Verständigungsprozess gilt es einerseits, in den vergangenen Jahren angewachsene und manchmal überzogene Erwartungen an die Bildungsleistung von Schule zu relativieren und auch leistungsschwächeren Bewerbern eine Chance zu geben. Andererseits ist es Aufgabe von Schule zu sichern, dass die sogenannten Kernkompetenzen möglichst von jedem Schulabsolventen erreicht werden.
Unverkennbar ist, dass die Wahrnehmung der Verantwortung für Berufs- und Studienorientierung regional sehr unterschiedliche Vorgehensweisen hervorgebracht hat. Maßgebliche Akteure in diesem Prozess sind vor allen Dingen auch Einrichtungen der kommunalen Selbstverwaltung, Wirtschaftsförderer, allgemein- und berufsbildende Schulen, Arbeitsagenturen, Unternehmen und Kammern, Arbeitskreise Schule/Wirtschaft, Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende und auch Bildungsträger. Dagegen ist der Wunsch nach Kooperation und Bündelung der Potenziale in allen Regionen gleichermaßen vorhanden. Kommunale Entscheidungsträger artikulieren ihn, weil sie nur so ihre koordinierende Verantwortung vor Ort wahrnehmen und eine nachhaltige Bildung im Sinne der Betroffenen erreichen können. Schulen benötigen eine verlässliche Orientierung und ausreichende Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Berufsorientierungskonzepte. Die Wirtschaft möchte ihre Bedürfnisse regional und branchenspezifisch befriedigen, und nicht zuletzt erwächst der Wunsch auch aus dem Anspruch, mit Kompetenzen und Ressourcen verantwortungsbewusst umzugehen und sie so einzusetzen, dass eine möglichst große und nachhaltige Wirkung entsteht.
Erforderlich ist – wie gesagt – eine auf das Individuum bezogene Beratung, Unterstützung und Lenkung, die zum Ziel hat, die Bildungs- und Ausbildungswege ab der Klassenstufe 7 bis hin zum Ausbildungsabschluss zu unterstützen und aufeinander abzustimmen. Das Kennenlernen der konkreten Beschäftigungschancen in der eigenen Region stellt dabei eine zentrale Herausforderung dar.
Berufs- und Studienorientierung sichern Schülern eine berufliche Perspektive, die ihren Neigungen, Interessen, aber auch ihren Kompetenzen entspricht. Berufsorientierung sichert den Unternehmen in Sachsen den erforderlichen Nachwuchs und gewährleistet, dass unsere Kinder
auch Landeskinder bleiben. Deshalb halte ich es nach wie vor für wichtig, alle Kräfte in dieser Frage zu bündeln, um die erfolgreich eingeleiteten Maßnahmen fortzusetzen und unseren Weg konsequent weiterzugehen.
Der Berufswahlpass und dessen Bereitstellung für jeden Schüler ist Bestandteil dieser Aufgabe. Deshalb stellen wir heute diesen Antrag und bitten um Ihre Zustimmung.
Meine Damen und Herren! Im zweiten Teil will ich – vielleicht etwas kürzer – auf den Antrag der Fraktion der GRÜNEN eingehen. Dabei geht es um die Sicherung des Faches Wirtschaft-Technik-Haushalt/Soziales.
Meine Damen und Herren! Das Fach WTH, abgekürzt für Wirtschaft-Technik-Haushalt, nimmt im Lehrplankanon der Mittelschulen einen zentralen Platz ein. Neben der Vermittlung von Wissen und Können in den Bereichen Wirtschaft, Technik und Hauswirtschaft sind es im Besonderen die fächerübergreifenden Aspekte, die zur Schlüsselrolle dieses Faches beitragen. Theoretisch erworbenes Wissen in anderen Fächern erfährt hier einen Praxisbezug. Zudem geht das Fach auch auf den § 6 des Schulgesetzes und die dort beschriebene Profilbildung an der Mittelschule zurück, die letztlich die Fragen einer wissenschaftlich-technischen Ausbildung und insbesondere der Berufsorientierung beinhaltet.
Ich denke, man muss aber an dieser Stelle durchaus kritisch anmerken, dass die Schlüsselfunktion, die dieses Fach eigentlich hat, bei der Schulorganisation oft nicht mit dem Nachdruck versehen wird, den es eigentlich verdient hat. Dies beginnt an der Einzelschule vor Ort, wo diese Unterrichtsinhalte oft nur in Randstunden vermittelt werden, und setzt sich bei der hier zur Diskussion stehenden personellen Absicherung fort.
Es waren die damaligen Polytechniklehrer aus DDRZeiten, die sich mit außerordentlich hohem Engagement der Ausgestaltung dieser Unterrichtsangebote gestellt haben. Dies begann bei der Lehrplanerarbeitung und -erprobung und setzte sich fort bei der Absicherung des Profilunterrichts und später des Faches WTH. Ich bedaure es nach wie vor sehr, dass dieses außerordentlich hohe Engagement keine tarifrechtliche Würdigung gefunden hat und findet.
Diese Lehrer gelten bis heute als Ein-Fach-Lehrer, was inhaltlich in keiner Weise zu rechtfertigen ist. Diese Ungerechtigkeit, die auch in den anderen neuen Bundesländern gilt und aus Sicht von Juristen in der Schulverwaltung nicht aufzuheben ist, hat sicher auch den Ausschlag dafür gegeben, dass berufsbegleitende Maßnahmen zur Qualifizierung in dieser Fachrichtung eher zurückhaltend angenommen werden.
Nun werden auch ehemalige Polytechniker – sei es an den Schulen oder auch hier im Parlament – älter, was zumindest für die Schulen ein Problem darstellt. Ich denke, das Kultusministerium hat dieses Problem durchaus im Blick. Insbesondere das bereits angesprochene Angebot von berufsbegleitenden Maßnahmen spricht meines Erachtens
dafür. Es wurde seit 1993 255 Lehrkräften eine Lehrerlaubnis erteilt, und 157 erhielten eine Lehrbefähigung. Ich denke, das ist zumindest ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn damit auch das Problem nicht generell gelöst wird.
Man muss beachten, dass diese Angebote nur begrenzt angenommen werden – sicher aus dem Grund, den ich schon genannt habe. Deshalb und vor dem Hintergrund des absehbaren Bedarfes ist es dringend geboten und höchste Zeit, eine grundständige Ausbildung dieser Lehrkräfte an unseren Universitäten und Hochschulen zu realisieren.
Meine Damen und Herren! Dies ist der einzig gangbare Weg, des Problems letztlich Herr zu werden. Damit ist sicher eine Reihe von Schwierigkeiten verbunden, die von der Einrichtung eines Lehrstuhls über die Organisation der Abstimmung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fakultäten bis hin zur Erarbeitung von Studien- und Prüfungsordnungen reichen. Diese Fragen müssen zeitnah beantwortet werden. Offensichtlich sind auch durch das Kultusministerium bzw. das Wissenschaftsministerium in Abstimmung mit der TU Dresden bereits konkrete Absprachen erfolgt, sodass – so weit mir Informationen vorliegen – diese Ausbildung ab dem Wintersemester 2011/12 anlaufen kann. Es ist höchste Zeit, dass sie anläuft. Wir haben dringlichsten Handlungsbedarf. Wir sehen aber auch – angesichts dessen, was ich gerade beschrieben habe –, dass diesem Handlungsbedarf entsprochen wird.
Meine Damen und Herren, das war Herr Colditz für die Fraktion der CDU. – Für die Fraktion der FDP spricht nun Herr Abg. Bläsner. Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Hans Heinrich Driftmann, warnte im vergangenen Oktober davor, dass inzwischen 400 000 Ingenieure, Meister und Fachkräfte fehlen. Deutschland verzichte dadurch jährlich auf rund 25 Milliarden Euro Wertschöpfung.
Unter diesen Bedingungen ist jedem klar: Auf dem Weg von der Schule in den Beruf darf niemand verlorengehen. Jeder Schüler zählt. Wir wissen aber auch: Berufswunsch, eigene Fähigkeiten und Berufschancen liegen zu oft zu weit auseinander. Hier muss Berufsorientierung ansetzen. Sie muss künftig ein zentrales Aufgabenfeld der Schule sein, bei dem verschiedene Aspekte Berücksichtigung finden. Die Vermittlung von Berufsbildern und -inhalten muss genauso Bestandteil der Berufsorientierung sein wie die gesellschaftliche Orientierung und die Hilfe bei der individuellen Ausrichtung der Schüler auf ein Berufsbild.
Der Berufswahlpass ist aus unserer Sicht dazu ein geeignetes Mittel. Er ist eben nicht nur ein Sammelordner. Vielmehr handelt es sich um ein wesentliches Element der Hilfe zur Selbsthilfe für unsere Schüler. Die Lebenswege der Schüler sind so unterschiedlich wie die Berufswelt selbst. Der Berufswahlpass gibt jedem einen geeigneten Leitfaden an die Hand, ganz egal ob zukünftiger Mathematikstudent, Bäckergeselle oder Bankkaufmann.
Bereits jetzt arbeiten 70 % aller allgemeinbildenden weiterführenden Schulen in Sachsen mit dem Berufswahlpass. Die positiven Erfahrungen der Lehrer, Eltern und Schüler, die dieses Mittel bereits einsetzen, haben sich herumgesprochen. Vor allem unsere Mittelschulen arbeiten gut und intensiv mit diesem Instrument.
Es sind überhaupt unsere Mittelschulen, die sich schon heute intensiv um die berufliche Zukunft der Kinder bemühen. Gemeinsam mit regionalen Unternehmen engagieren sich Schulen beispielsweise intensiv in der Arbeitsgemeinschaft Schule – Wirtschaft.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Berufswahlpass ist ein wichtiger Baustein der Berufsorientierung. Ein weiterer ist das Fach WTH. Das Fach Wirtschaft-Technik-Haushalt/Soziales ist ein Unterrichtsfach, in dem Einblicke in Zusammenhänge der Lebens- und Arbeitswelt gegeben werden. Das Fach ermöglicht den Erwerb einer praxisbezogenen ökonomischen Grundbildung, zu der Sammeln und Reflektieren eigener Erfahrungen im Arbeits- und Wirtschaftsprozess gehören.
Aufgrund der hohen Wichtigkeit des Themas Berufsorientierung wird die Staatsregierung, wie bereits in der Antwort auf die Kleine Anfrage von Frau Giegengack angekündigt, im Rahmen der Änderung der Lehramtsprüfungsordnung das Fach WTH als studierbares Fach der Mittelschule aufnehmen. Herr Colditz hat die Probleme benannt. Sie sind vorhanden, aber das Ministerium hat sie erkannt und handelt. Viele Dinge sind noch zu tun, aber – die ersten Anzeichen deuten darauf hin, auch das Engagement der TU Dresden in diesem Bereich –, dass wir hier an einer Lösung arbeiten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es nicht nur Aufgabe des Kultusministeriums oder der Schule, sich für eine verbesserte Berufs- und Studienorientierung einzusetzen. Auch die sächsische Wirtschaft muss sich im ureigensten Interesse für einen Ausbau der Zusammenarbeit mit Schulen in Richtung einer besseren beruflichen Orientierung starkmachen. Es gibt bereits zahlreiche Beispiele, bei denen die Bereitschaft der Unternehmen besteht, sich an Projekten zu beteiligen oder diese zu initiieren. Der Staatsminister für Wirtschaft hat heute früh bereits einige gute Beispiele genannt.