Protocol of the Session on September 1, 2010

Insofern hat sich die SPD sehr kritisch mit ihrem eigenen Handeln während ihrer Regierungsverantwortung auseinandergesetzt und sehr kritisch hinterfragt, was getan werden muss, damit eine Veränderung eintritt. Wir müssen, denke ich, zum Beispiel alles daransetzen, etwas gegen die Altersarmut zu tun. Wenn man sich die Zahlen ansieht, muss man davon ausgehen, dass die heute 40Jährigen in Ostdeutschland – und dabei Sachsen ganz vorn –, wenn sie in Rente gehen, wahrscheinlich in der Regel eine Rente erreichen, die unter 600 Euro liegt. Unter 600 Euro! Da muss man natürlich auch darüber nachdenken, wie man das bekämpfen kann.

Dazu gehören die Fragen, wie man Teilzeit, wie man Minijobs, wie man Leiharbeit und Mindestlohn thematisiert, wie man also die Dinge in die Debatte bringt, die dazu beitragen, dass die Menschen am Ende ihres Erwerbslebens eine vernünftige Rente erhalten, von der sie leben können.

Wenn das alles losgekoppelt von dieser Entwicklung passiert, wenn das losgelöst von der eigentlichen Problemlage der älter werdenden Menschen diskutiert wird, dann geht etwas auseinander, was viele Menschen in diesem Lande nicht mehr verstehen. Die ewigen Forderungen der Wirtschaft, man müsse länger arbeiten, können für meine Begriffe nur dann tatsächlich glaubhaft rüberkommen, wenn diese Wirtschaft auch dafür sorgt, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Chance bekommen.

(Beifall bei der SPD und der Linksfraktion)

Heute ist es so, dass wir bei den Menschen zwischen 60 und 64 Jahren eine Beschäftigungsquote von rund 21 % haben. Bei den Menschen über 65 Jahren liegt diese Quote bei 9 %.

Kollege Brangs, Ihre Redezeit!

Das kann nicht sein. Hier stehen noch – – Na gut, das kann sein, Herr Präsident.

Daher sollten wir ernsthaft die Debatte in die Richtung lenken, dass wir die Anforderungen im Berufsleben so verbessern, dass die Menschen am Ende ihres Erwerbslebens eine Rente erhalten, von der sie auch leben können. Das ist der Punkt und nicht die Frage des Rentenalters.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der Linksfraktion)

Für die SPD-Fraktion sprach der Abg. Brangs. Nun kommt die FDP-Fraktion mit Herrn Kollegen Karabinski.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Aktuelle Debatte zeigt eines: Sie zeigt, dass die Forderungen der Linksfraktion grundsätzlich komplett ohne Realitätssinn sind. Es ist ein buntes Potpourri von Wünsch-dir-was-Ideen. Und wieder einmal hat ihr projektiertes Schlaraffenland einen Fehler, nämlich die Finanzierbarkeit.

Das Renteneintrittsalter 67 wurde erst im Jahr 2007 unter Regierungsbeteiligung der SPD verabschiedet. Nur drei Jahre später entscheidet sich die SPD dafür, von ihrem eigenen Entschluss wieder zurückzutreten. Aber, meine Damen und Herren, Diskussionen und Entscheidungen, die sich einzig und allein an Umfragewerten orientieren, bringen unser Land keinen Schritt weiter. Das sollten Sie eigentlich wissen!

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Ein generelles Absenken des Renteneintrittsalters kann nicht funktionieren, und zwar aus zwei wesentlichen Gründen – und das sind auch die Gründe, die Sie 2007 zu Ihrem Entschluss gebracht haben –: Erstens muss der Arbeitsmarkt zunehmend auf ältere Arbeitnehmer zurückgreifen, und zweitens – und das ist wahrscheinlich der entscheidende Grund – muss die Rente länger gezahlt werden. Pro Geburtsjahr kommen nämlich drei Lebensmonate hinzu. Das Kind, das heute geboren wird, lebt durchschnittlich drei Monate kürzer als das Kind, das im nächsten Jahr geboren wird. Das heißt aber auch, dass wir länger Rente zahlen müssen.

Das Beispiel Frauen zeigt es, glaube ich, ganz deutlich: 1960 bezogen Frauen durchschnittlich 10,6 Jahre Rente, im Jahr 2006 waren es schon 19,6 Jahre. Also innerhalb von nicht einmal 50 Jahren eine Verdopplung der Rentenzahlzeit! Aber diejenigen, die das System finanzieren,

meine Damen und Herren, wachsen nicht im gleichen Maße nach. Die Geburtenrate ist viel zu niedrig.

Die gleiche Rechnung kann man auch beim Thema Rentengarantie, das der zweite Punkt der Antragstellung ist, aufmachen. Hierzu gibt es klare und belastbare Zahlen. Wichtig ist, dass wir bei der Diskussion daran denken, dass wir ein Miteinander der Generationen brauchen und nicht alles nur zulasten einer einzigen Generation gehen darf. Das aber ist die Konsequenz Ihrer Debatte.

(Zuruf des Abg. Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion)

Gerade deswegen, also aufgrund der Generationengerechtigkeit, aber auch aufgrund der demografischen Entwicklung und aufgrund der Bezahlbarkeit ist das Fortbestehen der Rentengarantie zumindest infrage zu stellen. Was auf den ersten Blick nachvollziehbar erscheint, nämlich die Rentner vor den Auswirkungen der Finanzkrise zu schützen, entpuppt sich auf den zweiten Blick zumindest als problematisch.

Denn die Rentner vor den Auswirkungen der Finanzkrise zu schützen bedeutet gleichzeitig, die Beitragszahler stärker zu belasten und diese sind durch die Krise ohnehin schon stark belastet. Die Folge ist, dass die Beitragssätze über fünf Jahre um 0,2 Prozentpunkte höher liegen als ohne Garantie und dass es zu einer Mehrbelastung für die Beitragszahler von rund 10 Milliarden Euro kommt.

Was wir brauchen, ist eine Lösung, die den Bedürfnissen älterer Arbeitnehmer ebenso gerecht wird wie den Bedürfnissen der Unternehmer und vor allen Dingen auch der Beitragszahler. Das heißt, wir brauchen eine Flexibilisierung, wir brauchen individuelle Lösungen und eigenverantwortliche Entscheidungen. Das ist wichtiger als die Diskussion über das starre Renteneintrittsalter. Die FDP hat ein Modell entwickelt, wir haben Alternativen vorgelegt. Bei der antragstellenden Fraktion dieser Debatte ist das überhaupt nicht zu erkennen, nicht einmal im Ansatz, weder ein Deckungsvorschlag noch ein alternatives Modell.

Meine Damen und Herren! Wir geben uns keinen Gerechtigkeitsfantasien hin. Wenn wir auf der Sollseite eine Rechnung aufmachen, dann machen wir die Rechnung auch auf der Istseite auf. Das vermisse ich bei den Antragstellern voll und ganz. Es fehlt die Antwort auf die Frage: Wer soll Ihr Schlaraffenland bezahlen?

(Beifall bei der FDP und der CDU – Zuruf des Abg. Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion)

Das war der Abg. Karabinski für die FDP-Fraktion. – Als Nächstes die Fraktion GRÜNE mit Frau Kollegin Herrmann.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können selbstverständlich heute die Diskussion über eine Rentenreform führen. Dann können wir uns darüber unterhalten, ob andere Einkommensgruppen in die gesetzliche Rentenversiche

rung einbezogen werden müssen. Aber das wird nichts daran ändern, dass wir auch über eine längere Lebensarbeitszeit reden müssen. Das, was die SPD im Moment macht, dass sie ihren eigenen Beschluss von vor drei Jahren kassiert, und zwar, wie Herr Brangs uns gerade erklärt hat, weil die Lebenswirklichkeit der Menschen eine andere ist, ist einfach ein taktisches Spiel.

(Beifall bei der CDU)

Dann möchte ich wissen, an welcher Stelle sich die Lebenswirklichkeit in den letzten drei Jahren verändert hat.

Wenn wir über eine Rentenreform reden, müssen wir auch über eine längere Lebensarbeitszeit reden. Alle Redner haben hier gesagt, warum: weil sich die Proportion von berufstätiger Bevölkerung zu Rentnern verändert und weil sich ganz einfach das Verhältnis von Lebensarbeitszeit zu Rentenbezugszeit ändert. Da gibt es verschiedene Alternativen, die mein Kollege von der CDU uns erläutert hat. Dazu gehört die Diskussion über die Lebensarbeitszeit, die wir hier führen müssen; wir werden das Problem sonst nicht lösen.

Auch in der Vergangenheit war es so, dass Rentner, die schon vor dem 65. Lebensjahr in Rente gegangen sind, Abstriche an ihrer Rente hinnehmen mussten. Auch vor drei Jahren, als die SPD sich entschlossen hat, über die Rente mit 67 Jahren zu reden, hatten wir diese Diskussion. Im Moment drehen sie die Diskussion zurück. Sie sagen: Wir wollen die Rente mit 65, bis 50 % der Erwerbsfähigen über 60 Jahre einen Job haben. In der Altersgruppe von 15 bis 64 Jahre liegt die Erwerbstätigenquote ungefähr bei 50 %. Jetzt sagen Sie mir bitte, wann Sie erreichen wollen, dass die Quote für diejenigen von 60 bis 65 auch in dieser Größenordnung liegt. Das heißt doch, dass Sie die Rente mit 67 auf den SanktNimmerleins-Tag verschieben wollen.

Was wir brauchen, ist eine Diskussion darüber, wie die Arbeitsbedingungen und die Arbeitskultur zu gestalten sind, damit eine längere Lebensarbeitszeit für die Menschen a) attraktiv und b) überhaupt durchzuhalten ist.

(Vereinzelt Beifall bei den GRÜNEN – Einzelbeifall bei der CDU)

Diesbezüglich ist es, glaube ich, auch nicht hilfreich, wenn der Kollege von der CDU von dem „kleineren Übel“ spricht. Denn wenn die längere Lebensarbeitszeit ein Übel ist, dann werden wir die Menschen kaum dazu bekommen, dass sie darin auch eine Chance sehen, nämlich eine Chance, erwerbstätig zu sein, weil Arbeit auch sinnstiftend ist. Wenn Arbeit einzig als Last und als Übel daherkommt, dann ist die Diskussion, die wir führen, sicherlich auch für die Jüngeren keine gute Diskussion.

Wir müssen selbstverständlich, wenn wir über eine längere Lebensarbeitszeit reden, über verschiedene Prämissen sprechen: Wir müssen über eine Kultur der Altersarbeit reden, wir müssen über Gesundheitsvorsorge

reden. Wir müssen auch eine Diskussion über verpflichtende Weiterbildung führen, über Personalmanagement, selbstverständlich auch über die Möglichkeit der Beschäftigten, bei besonderer Belastung früher in Rente zu gehen, ohne Einbußen hinnehmen zu müssen. Es gibt dafür Beispiele. Es gibt Beispiele von Fondslösungen, es gibt Beispiele von Lebensarbeitszeitkonten. Wir brauchen auch verbesserte Regelungen bei Erwerbsminderung. Das alles gehört dazu, aber trotzdem darf die längere Lebensarbeitszeit kein Tabuthema sein.

Was Sie jetzt an dieser Stelle machen, ist Folgendes: Sie bremsen eine Diskussion aus und lösen damit kein einziges Problem. Jahrzehntelang haben wir die falschen Anreize gesetzt: Wir haben Frühverrentung subventioniert. Wir haben sozusagen nach außen das Bild vermittelt, dass ältere Arbeitnehmer in erster Linie Ballast sind, den man so schnell wie möglich loswerden sollte. Wir haben nicht davon gesprochen, dass ein älterer Arbeitnehmer Erfahrungen mitbringt, die für seinen Betrieb wertvoll sind. Da müssen wir radikal umdenken, und wenn Sie jetzt zurückrudern, findet dieses Umdenken nicht statt. Im Gegenteil, Sie verunsichern die Menschen, weil Argumente, die gestern galten – das trifft vor allen Dingen auf die SPD zu – heute nicht mehr gelten. Was also ist Sicherheit?

Dann stellt sich selbstverständlich auch die Frage der Rentengarantie: Gibt es eine Rentengarantie oder gibt es diese nicht? – Das steht dann auch in den Sternen. Wir sagen ganz klar: Wir sind für eine Garantierente, aber wir wollen und brauchen auch eine andere Arbeitskultur. – Die Tarifparteien haben sich zum Teil schon auf den Weg gemacht und sind damit ein ganzes Stück weiter als die SPD. Sie haben Kreativität bewiesen. Sie haben verschiedene Modelle in einigen Branchen eingeführt, die zur Folge haben, dass Menschen bis zur Rente arbeiten können.

Machen wir uns doch nichts vor! Es gibt genügend Menschen, die tatsächlich länger arbeiten und nicht mit 65 in Rente gehen wollen. Wir brauchen also ein flexibles System, das darauf Rücksicht nimmt, ob ein Arbeitnehmer tatsächlich an der Stelle, an der er im Arbeitsprozess steht, noch weiter bleiben kann. Aber den Beschluss über das Renteneingangsalter jetzt zurückzudrehen ist genau das falsche Signal.

Danke.

(Beifall bei den GRÜNEN, der CDU und der FDP)

Für die Fraktion GRÜNE sprach die Abg. Herrmann. – Für die NPD-Fraktion spricht der Abg. Storr.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin der Auffassung, dass alle Redner dem Ernst des Themas der heutigen Aktuellen Stunde nicht gerecht geworden sind. Denn man muss feststellen: Das Problem der Rentenversicherung ist eben nicht nur das Problem der Rente mit 67, die Rentenversicherung

insgesamt ist in einer Krise, und das schon seit Jahren. Wenn jeder dritte Euro, der als Rente ausgezahlt wird, heute nicht mehr beitrags-, sondern steuerfinanziert ist, dann ist es durchaus angemessen, von einer Krise zu sprechen.

Man muss auch feststellen, dass sich die Alterstruktur der Deutschen verändert. Die Proportion zwischen der Anzahl der Beitragszahler, der Rentenbeitragsdauer und der Rentenansprüche verschiebt sich. Dafür gibt es zwei Gründe: die anhaltend niedrige Geburtenrate der Deutschen und eine seit 40 Jahren verfehlte Familien-, Bevölkerungs- und Wirtschaftspolitik.

(Beifall bei der NPD)

Die Notwendigkeit einer Rente mit 67 allein mit einer steigenden Lebenserwartung zu begründen halte ich für falsch und für zu kurz gegriffen; denn es gibt auch noch andere Faktoren, die auf das Beitragseinkommen Auswirkung haben. Zum Beispiel stellt sich für mich, stellt sich für die NPD-Fraktion die Frage: Wie sieht es mit der Entwicklung der Arbeitsproduktivität aus, wie wird der Mehrwert verteilt, warum werden die Gewinne der Unternehmen beispielsweise nicht stärker bei dem Rentenbeitragsaufkommen einbezogen?

Die Anzahl der Beitragszahler muss ausgeweitet werden, aber es gibt auch politische Versäumnisse. Diese politischen Versäumnisse, die sich unmittelbar auch auf die Rentenversicherung auswirken, sind Arbeitslosigkeit, Armutslöhne, die Kinderarmut, bedingt durch eine familienfeindliche Politik, das Bildungsdesaster. Es wird in dieser Republik zwar viel über Bildung gesprochen, aber wenn man sich anschaut, mit welchen Kenntnissen oder Nicht-Kenntnissen Schüler in Rechnen, Schreiben und Lesen aus den Schulen entlassen werden, dann muss man tatsächlich von einem Bildungsdesaster sprechen – und damit auch eine immer stärker abnehmende Innovationsfähigkeit. Das sind die Gründe. Aber wo sind die Ursachen?

Man muss feststellen, dass westliche Gesellschaften aus sich selbst heraus, geschichtlich betrachtet, nicht auf Dauer lebensfähig sind. Die westlichen Gesellschaften sind Gesellschaften des Todes, und der Buchtitel des früheren Berliner Finanzsenators und Bundesbankvorstands „Deutschland schafft sich ab“ bringt das auf den Punkt.

Herr Sarrazin hat ja sehr richtig auch die Probleme der weiteren Entwicklung in unserem Land skizziert. Er spricht von einem Verlust an Intelligenz, einem Verlust an Innovationsfähigkeit und auch Verlust an Tugenden. Und natürlich – das mag auch ein großes Tabu unserer Zeit sein – ist der Gen-Pool der Deutschen bzw. der Mitteleuropäer durchaus elementare mentale Voraussetzung für die Entwicklung und den Erhalt einer industriellen Gesellschaft.

(Dr. Monika Runge, Linksfraktion: So ein Mist!)