Protocol of the Session on June 22, 2006

Von Kindern wissen wir, dass diese selbstständiger werden; bei pflegebedürftigen Menschen ist dies meist umgekehrt. Wie lange sollen also Angehörige, die ihre Eltern pflegen, zum Beispiel diese Zeit in Anspruch nehmen können? Schaffen wir es durch diese Maßnahmen überhaupt, die Pflege in Wirklichkeit tatsächlich wesentlich zu verbessern? Im Bereich der frühen Kinderbetreuung gehen wir weg von der Betreuung zu Hause und hin zur Einrichtung – bei der Pflege machen wir es umgekehrt? Ist es nicht vielleicht besser für die Familien und das Finanzsystem, dass jemand voll arbeiten geht und den Angehörigen gut betreut weiß? Diese Frage kann heute noch niemand beantworten.

(Alexander Krauß, CDU: Doch: Nein!)

Schließlich muss auch jeder für sich entscheiden, ob er seine Angehörigen selbst pflegt oder diese Aufgabe professionellen Pflegekräften überträgt.

Wie wäre es mit der Idee, dass Pflegebedürftige und Pflegende im Rahmen von Vereinbarungen zusammenkommen? Im Rahmen von Genossenschaften könnte zum Beispiel gegen Wohneigentum die Pflegeleistung gesetzt werden. Hier sind viele Möglichkeiten denkbar, mit denen der Staat fördernd und unterstützend dem bürgerschaftlichen Engagement unter die Arme greifen kann.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Thema Pflege wird uns immer wieder begegnen. Ich hoffe, dass die Verabschiedung der beiden Anträge Wesentliches bewirken kann, denn dieses Thema ist für parteipolitische Auseinandersetzungen viel zu wichtig.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und des Abg. René Fröhlich, Linksfraktion.PDS)

Die Fraktion der GRÜNEN; Frau Herrmann, bitte.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der NPD trägt hier in schöner Regelmäßigkeit Allgemeinplätze und Worthülsen vor; ich habe aber noch nicht erlebt, dass sie sie auch nur annähernd mit Leben erfüllen kann.

(Beifall bei den GRÜNEN, der Linksfraktion.PDS und der SPD – Zuruf des Abg. Jürgen Gansel, NPD)

Anders ist ja auch Ihre Arbeit in den Ausschüssen nicht zu erklären.

(Antje Hermenau, GRÜNE: Arbeit? – Dr. André Hahn, Linksfraktion.PDS: Da gibt es keine Arbeit!)

Eben, es gibt keine.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern war das Kredo im Plenum zu unserem Antrag „Seniorenbericht“ allge

mein, dass wir Alter nicht auf Pflege verkürzen sollten. Wer alt ist, ist nicht automatisch pflegebedürftig.

(Vereinzelt Beifall bei den GRÜNEN, der CDU, der Linksfraktion.PDS und der SPD)

Trotzdem bleibt eine Phase des Lebens, in der wir auf Hilfe, Unterstützung und Pflege angewiesen sein werden. Das Risiko der Pflegebedürftigkeit beträgt zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr nur 1,6 %. Erst ab dem 80. Lebensjahr steigt es auf 38,4 % und beträgt bei über 90-Jährigen 60,2 %. Die ab 80-Jährigen, auch Hochaltrige genannt, sind momentan die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe. Insgesamt wird es künftig immer mehr Menschen geben, die hilfs- und pflegebedürftig sind.

Liebe Kolleginnen und Kollegen: Was wird, wenn wir alt sind; wer leistet dann die Pflegearbeit? Daran schließt sich für mich ganz unmittelbar die Frage an: Wo und wie will ich leben, wenn ich alt bin? Darin stecken, denke ich, zwei Aspekte. Der eine ist: Was kann ich selbst dazu beitragen, wie ich altere – wo werde ich noch gebraucht und wertgeschätzt in der Familie und in der Gesellschaft; was tue ich, um seelisch, geistig und körperlich fit zu bleiben? Der zweite Aspekt sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Da sind wir bei der Seniorenpolitik als Querschnittsaufgabe und einer Altenhilfeplanung, die sich eben nicht in vorauseilender Selbstbeschränkung auf den Bereich der Pflegeplätze reduziert. Dazu gehört zum Beispiel das bürgerschaftliche Engagement, um etwas für sich und andere zu tun, um auch im Alter ein erfülltes Leben und Freude im Alltag zu haben. Dazu gehören auch gemeinschaftliche Wohnformen – vielleicht generationsübergreifend –, um nicht zu vereinsamen.

Diese Beispiele schlagen den Bogen zu unserem Antrag Sächsischer Seniorenbericht von gestern und auch zu einem Altenhilferahmenplan.

Ausgangspunkt war die Frage: Wo und wie will ich leben, wenn ich alt bin? Mit Einführung der Pflegeversicherung 1994 wurde anerkannt, dass Pflegebedürftigkeit ein allgemeines Risiko ist. Der Staat ist somit zur Vorsorge verpflichtet. Die Konzeption der Pflegeversicherung belässt die Verantwortung dabei weitgehend bei den Familien. Es werden lediglich Teilleistungen und Teilbedarfe gewährt; deshalb spricht man auch flapsig von einer so genannten Teilkasko. Also sieht der Gesetzgeber auch mit der Pflegeversicherung die Familien in der Pflicht.

Tatsächlich hat sich die Familienpflegebereitschaft bisher als erstaunlich hoch erwiesen. Von den 2,04 Millionen Pflegebedürftigen im Sinne des SGB IX werden 29 % in Pflegeheimen und 71 % zu Hause gepflegt. Von diesen rund 70 % der zu Hause versorgten Pflegebedürftigen nehmen noch einmal 70 % der Angehörigen keine regelmäßige Hilfe im Rahmen der Pflegeversicherung in Anspruch.

Studien zum pflegekulturellen Wandel haben gezeigt, dass sich genau da eine Änderung vollzieht. Nur noch eine absolute Minderheit der heute 40- bis 65-Jährigen kann

sich vorstellen, die Pflege allein und ohne professionelle Hilfe zu bewältigen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer pflegt eigentlich? Traditionell sind es die Frauen, die diese Aufgaben schultern. Häusliche Pflege – egal ob familiär oder professionell – ist überwiegend Frauensache. Dabei ist das von den Frauen geleistete Pflegevolumen kaum bekannt und auch nicht anerkannt. Aber die traditionellen Muster von Familie und familiärer Pflege verändern sich, wie ich bereits sagte.

Wo und wie will ich leben, wenn ich alt bin? Wir GRÜNEN sehen in der Familie nicht den Ort, an dem in Zukunft Defizite in gesetzlichen Rahmenbedingungen und sozialpolitischen Konzepten aufgefangen werden können. Die anstehende Reform der Pflegeversicherung bietet die große Chance, Pflege als Gesellschaftsthema neu zu denken. Pflege in einer älter werdenden Gesellschaft geht nämlich alle an. Sie muss künftig mehr als heute in der Mitte der Gesellschaft verankert sein. Menschenwürdige Pflege braucht Selbstbestimmung und Solidarität.

(Ganz vereinzelt Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Die Profipflege ist der klare Trend, der sich abzeichnet. Dieser ist in Sachsen allerdings nicht so ausgeprägt. Hier haben die Frauen durch die hohe Arbeitslosigkeit weniger das Problem, die Pflege zeitlich zu schultern, und die Sachleistungen der Pflegeversicherung sind für viele ein wichtiger Teil des Familieneinkommens. Wenn Pflege bisher in erster Linie Frauensache war, so hängt der Wandel in der Bereitschaft, die Pflege allein zu übernehmen, natürlich mit dem Wunsch von Frauen nach individueller Lebensgestaltung zusammen. Denken Sie an Bildungsabschlüsse, Erwerbstätigkeit von Frauen, Erfolg im Beruf. Viele Frauen wollen ihre Arbeit nicht aufgeben oder längere Zeit unterbrechen, oder sie können es nicht, weil sie dann den Job verlieren. Immer mehr Familien sind auf das Einkommen beider Partner angewiesen. Jüngere Frauen sind zunehmend weniger bereit und in der Lage, ihre beruflichen Ziele zugunsten der Angehörigen zurückzuschrauben.

Die schon angeführten Studien zum pflegekulturellen Wandel haben eben auch ergeben, dass unter den bisherigen Voraussetzungen eine relative Mehrheit der Familien in ganz Deutschland eine Heimunterbringung ihrer Angehörigen vorziehen würde.

Wo und wie will ich leben, wenn ich alt bin? Gestiegen ist aber gleichzeitig die Bereitschaft, Pflegeaufgaben im Zusammenwirken mit professionellen Pflegekräften zu gestalten, also dieser so genannte Pflegemix. Deshalb ist der Vorstoß zu einer Pflegezeit ein möglicher Weg. Pflegezeit kann einen Rahmen, sozusagen eine Verschnaufpause bieten, sich zu orientieren, wenn der Pflegefall eintritt; möglichst gemeinsam mit dem zu Pflegenden zu überlegen, wo und wie der Angehörige am besten versorgt ist.

Wie auch immer eine Pflegesituation entsteht – als schleichender Prozess oder als plötzliches Ereignis –, gemeinsam ist all diesen Fällen, dass familiäre Pflege nicht gründlich überlegt und häufig unvorbereitet übernommen wird. Hier fehlt eine unabhängige Beratung, die dem Pflegebedürftigen und seinen Angehörigen hilft, den erforderlichen Pflege- und Hilfemix zusammenzustellen.

Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind folgende Punkte für die Pflegezeit zentral:

1. Pflegezeit sollte relativ kurz sein, um den Wiedereinstieg in den Beruf und die Akzeptanz bei den Arbeitgebern zu gewährleisten. Sonst ist sie für die Frauen in der Phase, wenn die Kinder aus dem Haus sind, ein weiterer potenzieller Jobkiller. Frauen sind wieder die risikobehafteten Arbeitnehmerinnen, sie könnten jederzeit ausfallen, wenn ein Pflegefall eintritt.

2. Pflegezeit soll dazu dienen, die Pflegesituation zu überdenken und professionelle Hilfe zu organisieren. Dazu brauchen wir unabhängige Beratung.

3. Pflegezeit muss so gestaltet werden, dass sie nicht die Rolle der Frau als Pflegende gesellschaftlich zementiert.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wenn wir familiäre Pflege absichern und stärken wollen, müssen wir zuhören, was pflegende Frauen schon heute über ihre körperliche und seelische Belastung sagen. Welche Art von Hilfe und Unterstützung brauchen diese Familien? Wir müssen die finanziellen, gesundheitlichen und sozialen Einschnitte der Pflegezeit und die gesellschaftliche Ungleichbelastung ansprechen. Tun wir das nicht, verbauen wir uns die Chance, Konzepte zu entwickeln, die die Pflegefähigkeit von Familien erhalten und zugleich die pflegenden Frauen entlasten.

Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Alle Bemühungen, pflegende Familien zu unterstützen, sind natürlich nicht ausreichend, weil wir wissen, dass immer weniger Kinder geboren werden. Wenn wir das klassische Familienbild vor Augen haben, dann wird es diese Familie, die Pflegeleistungen übernehmen kann, in Zukunft immer weniger geben. Deshalb müssen wir entweder Familie neu denken oder andere Konzepte dazustellen. Ihrem Antrag können wir so nicht zustimmen, weil er für uns die Katze im Sack ist. Wir verbinden mit der Pflegezeit klare Optionen. Familiäre Pflege zu ermöglichen und vor allem die Pflegefähigkeit zu erhalten braucht mehr Angebote als nur die Pflegezeit. Deshalb werden wir uns bei dem Antrag zur Pflegezeit enthalten.

Danke.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich eröffne wieder eine neue Runde. Wird von der CDU-Fraktion noch das Wort gewünscht? – SPD-Fraktion? – Die Linksfraktion.PDS; Herr Wehner, bitte.

Vielen Dank für die Unterstützung und dafür, dass Sie im Hause dafür gesorgt

haben, dass es eine ferngesteuerte Absenkung dieses Rednerpultes gibt. Das hilft die Arbeit zu erleichtern.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS und vereinzelt bei der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch die Linksfraktion.PDS begrüßt es, dass die im Freistaat Sachsen bestehende Pflegeinfrastruktur weiterentwickelt werden soll, zielt dieses Ansinnen doch darauf ab, jedem Pflegebedürftigen eine würdevolle Lebensgestaltung zu sichern.

Herr Krauß, Herr Gerlach, liebe Rednerinnen – außer dem Kollegen der NPD-Fraktion; ich halte es für eine Unverschämtheit, dass Sie uns in Ihren Reihen begrüßen, das weise ich strikt zurück! –,

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

ich möchte auf Ihre Ausführungen nur insofern eingehen, als ich Ihnen sage, Sie haben völlig Recht, dass es ein wichtiges Thema ist, und die Beispiele, die Sie hier genannt haben, sehen wir auch so, nämlich als richtig und dringend an. Ich möchte das nicht noch einmal wiederholen, um Sie nicht zu langweilen. Dennoch möchte ich ein paar Ausführungen zu Gesichtspunkten machen, von denen ich meine, dass sie noch keine ausreichende Rolle gespielt haben.

Ich möchte mit dem verfassungsmäßigen Grundsatz anfangen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Abgeleitet von diesem meine ich, dass auch pflegebedürftige Menschen ein Recht auf eine selbstbestimmte Lebensführung haben, denn ihre Interessen sind in den Mittelpunkt unserer Pflegeleistungen zu stellen. Sie haben Bedürfnisse, Interessen, Wünsche – ich habe die auch – und selbstverständlich haben auch pflegebedürftige Menschen solche Interessen, Wünsche und Bedürfnisse. Das gilt es in unserer Arbeit zu beachten.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS und den GRÜNEN)

Herr Gerlach, anknüpfend an Ihre Ausführungen zu den Einrichtungen: Es gehört selbstverständlich dazu, dass diese barrierefrei beschaffen sind, damit man selbstbestimmt vor Ort leben kann, soweit dies immer noch möglich ist. Meiner Fraktion ist daran gelegen, dass vielfältigere und differenziertere Pflege- und Unterstützungsangebote vorgehalten werden. Meine Damen und Herren, Ich möchte mich etwas dagegen wehren, wenn Sie schon von Pflegeinfrastruktur sprechen, dass Sie die Pflege nur bei Alten ansiedeln. Pflegebedürftigkeit gibt es in jedem Alter. Das dürfen wir nicht außer Acht lassen.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS und vereinzelt bei den GRÜNEN)