Hierzu können die Fraktionen Stellung nehmen. Die Reihenfolge in der ersten Runde: NPD, CDU, Linksfraktion.PDS, SPD, FDP, GRÜNE und die Staatsregierung, wenn gewünscht. Ich erteile der NPD-Fraktion als Einreicherin das Wort. Herr Dr. Müller, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ursprünglich waren sowohl Gesundheit als auch Reform positiv besetzte Begriffe, nur in der Kombination scheint es irgendwo zu hapern; denn zumindest das, was man unter den Auswirkungen der Gesundheitsreform sieht, ist nichts, was positiv besetzt wäre. Um es vorwegzunehmen: Meine Fraktion sieht es genauso. Einsparungen sind nötig, keine Frage. Aber diese Gesundheitsreform mit der Einführung der Praxisgebühr ist von Anfang an als eine Reform der Entsolidarisierung, der Leistungseinschränkung und der Privatisierung gesundheitlicher Risiken gewollt und dementsprechend auch umgesetzt worden.
Wodurch entstehen diese hohen Kosten? Sind es die ständig steigenden Honorare der ärztlichen Kollegen? Mitnichten – die Punktwerte sind seit Jahren gleich oder sogar gefallen. Ist es ein zunehmender Krankenstand? Mitnichten – der Krankenstand ist niedrig wie seit Jahren
nicht. Gut, es ist der technische Fortschritt, es ist der wissenschaftliche Fortschritt, der sich auf Medikamentenkosten auswirkt. Doch dort wird nicht angesetzt. Mir fehlt in dieser Gesundheitsreform zum Beispiel der Ansatz, den Pharmakartellen klar zu machen, dass Preisbeschränkungen nach oben notwendig sind. Es ist die demografische Entwicklung, die die Kosten nach oben treibt. Es ist die vernachlässigte bzw. nicht vorhandene Bevölkerungspolitik in diesem Land. Es ist die Arbeitsmarktsituation, die mit vielen Arbeitslosen die Menge der Beiträge nach unten treibt, weil von Arbeitslosen die Beiträge logischerweise niedriger sein müssen als die Beiträge von denjenigen, die in Lohn und Brot stehen.
Meine Damen und Herren! Wo soll nun gespart werden? Aus meiner Sicht nicht dort, wo die Kosten wirklich entstehen, sondern auf dem Rücken des Verhältnisses von Versicherten und Ärzten. Ich finde, es ist unfair – Frau Staatsministerin, ich weiß, wir haben da unterschiedliche Meinungen –, von stabilen Beiträgen oder sogar Beitragssenkungen zu sprechen, wenn gleichzeitig die Leistungen aus der Beitragsfinanzierung herausfallen und Zuzahlungen für andere Dinge plötzlich hinzukommen. Damit sind die Beiträge nicht stabil, sondern indirekt sogar gesteigert. Mir ist bekannt – das Dilemma ist alt –: Geradezu be
schwörend ziehen sich bereits seit den neunziger Jahren die Hinweise auf die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des gesamten Sozialsystems durch die Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Im Gutachten vom November 1996 zweifelt dieser Sachverständigenrat, ob das „hohe Niveau“ der sozialen Sicherung beibehalten werden kann und ob dies überhaupt wünschenswert sei. Anschließend stellt das gleiche Gremium seine Leitvorstellungen zur Reform der sozialen Sicherungssysteme vor. Da wird geschrieben: Die sozialen Ordnungsprinzipien des Sozialstaates seien das Solidarprinzip, also der Vorrang der kollektiven Vorsorge, und aber auch das Subsidiaritätsprinzip, der Vorrang der Eigenvorsorge. Diese beiden Prinzipien – heißt es weiter – müssen „in ein Verhältnis gebracht werden, das unter den veränderten Umfeldbedingungen auf Dauer tragbar ist“. Um nahe liegende Missverständnisse beim Leser zu vermeiden, wird gleichzeitig erklärt: „Völlig unangemessen wäre es, dabei von sozialer Demontage oder gar Aufkündigung des sozialen Konsens zu reden. Es geht darum, den Sozialstaat unter stärkerer Betonung des Subsidiaritätsprinzips umzubauen.“
Was ist das Ergebnis? Kommen wir zurück zu unserer Praxisgebühr, um die es in unserem Antrag geht. Aus dem aktuellen „Gesundheitsmonitor“, einer Studie der Bertelsmann-Stiftung, geht hinsichtlich der Wirkung der im Jahr 2004 eingeführten Praxisgebühr für Arztbesuche hervor, dass diejenigen Befragten, welche ihren Gesundheitszustand als schlecht bezeichnen, die Häufigkeit ihrer Arztbesuche am meisten reduzierten. Von 2003 bis 2005 sank die Zahl um rund ein Drittel von durchschnittlich 23 Besuchen auf 16. Hier besteht meines Erachtens die große Gefahr, dass Patienten aus Kostengründen auf wichtige Arztbesuche verzichten. Es zeigt sich in der Praxis auch, dass diejenigen, die ihre Gebühr bezahlt haben, eher häufiger den Arzt aufsuchen und andere, die es nötiger hätten, einfach aus Kostengründen gar nicht mehr gehen.
Frau Pfeiffer, das ist so. Dies kann ich aus eigenem Erleben sagen, Frau Pfeiffer. Es tut mir Leid. Diese Meinung müssen Sie mir, bitte schön, zugestehen.
Zu den Kosten. Jetzt, nachdem all diese neuen Zuzahlungen und Leistungsausgrenzungen wirksam geworden sind, werden den Patienten insgesamt bundesweit Mehrkosten im Umfang von 12,5 Milliarden Euro pro Jahr aufgebürdet. Allein die Praxisgebühren bei Arzt und Zahnarzt belasten die Patienten mit fünf Milliarden Euro. Die Praxisgebühr ist wie jede andere Zuzahlung ein Stück Preisgabe des Solidarprinzips, ein Stück Privatisierung gesundheitlicher Risiken, ein Stück Umbau des Gesundheitswesens nach Marktprinzipien.
Aus Sicht meiner Fraktion, der Fraktion der Nationaldemokraten, ist es nicht weiter hinnehmbar, dass das Solidarprinzip nach und nach beschnitten wird. Gesundheitli
che Versorgung darf nicht eine Frage des Geldbeutels sein. Das Arzt-Patienten-Verhältnis darf nicht zu einer Ware degradiert werden. Jeder, der selbst betroffen ist, wird froh sein, wenn er an einen Arzt oder eine Ärztin gerät, die nicht nach kostenoptimierten Gesichtspunkten eine Art Fließbandbehandlung durchführt, sondern die sich wirklich individuell Zeit nimmt. Gesundheit, wie gesagt, ist keine Ware. Helfen Sie mit, dass in Deutschlands Praxen wieder ausschließlich Medizin gemacht wird und nicht die Beitragseintreibung für die Krankenkassen stattfinden muss! Stimmen Sie bitte unserem Antrag zu.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Interessant ist, dass der NPD-Antrag auf einer Studie der Bertelsmann-Stiftung fußt, die noch nicht einmal veröffentlicht ist. Sie ist in Drucklegung und soll erst in diesem Monat herausgegeben werden.
Sie kann derzeit noch nicht eingesehen werden und ist auch von der NPD-Fraktion noch nicht eingesehen worden. Es liegt lediglich eine Pressemitteilung vor.
Wie kann man, ohne eine Studie gelesen zu haben, bereits Schlussfolgerungen fordern? Das frage ich mich allen Ernstes, wenn ich den Antrag der NPD-Fraktion lese. Das geht nur, wenn es denjenigen, die diesen Antrag stellen, nicht um die Sache geht. Ihnen von der NPD geht es nicht um die Sache!
Wenn es anders wäre, dann hätten Sie erst die Studie gelesen und dann einen Antrag verfasst oder Sie hätten sich erst einmal hingesetzt und ein gesundheitspolitisches Gesamtkonzept entwickelt. Aber nichts davon haben Sie getan.
Übrigens hatte ich den zuständigen Mitarbeiter der Bertelsmann-Stiftung gefragt, ob die Studie zu dem Schluss komme, die Praxisgebühr abzuschaffen. Man hat das deutlich verneint. Das könne man aus der Studie nicht ablesen.
Aber nun zum Thema Praxisgebühr. Sie von der NPD haben versucht, die Praxisgebühr als unsozial abzustempeln. Fakt ist jedoch: Die Praxisgebühr ist sozial ausgewogen. Der Wissenschaftliche Dienst der AOK kommt in seiner aktuellen Studie zu dem Schluss, dass soziale Gründe nicht den Arztbesuch verhindern. Weiter heißt es in dieser bereits veröffentlichten Studie: „Die anfängli
chen Unsicherheiten bei den Versicherten haben sich gelegt – vermutlich nicht zuletzt aufgrund einer inzwischen eingespielten Härtefallpraxis.“
Mehr als 2 % seines Bruttoeinkommens muss niemand zuzahlen, chronisch Kranke lediglich 1 %. Viele Untersuchungen sind zuzahlungsfrei, zum Beispiel Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft oder zweimal im Jahr beim Zahnarzt, Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, Gesundheitschecks ab dem 35. Lebensjahr, Schutzimpfungen wie zum Beispiel gegen Grippe. Bestimmte Krankenkassen verzichten auf die Praxisgebühr, wenn die Patienten einen bestimmten Hausarzt ausgewählt haben oder bei Chronikerprogrammen eingetragen sind. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren zahlen gar keine Praxisgebühr. Sozial Bedürftige sind also zuzahlungsbefreit. Bei der größten Krankenkasse im Freistaat Sachsen ist jeder fünfte Versicherte zuzahlungsbefreit. Ist das sozial ungerecht?
Auch Vorsorgeuntersuchungen sind durch die Einführung der Praxisgebühr nicht zurückgegangen. Ich zitiere Klaus Richter, Vorstand der Barmer Ersatzkasse, zu den Vorsorgeuntersuchungen: „Wir können statt des vermuteten Rückgangs in Teilbereichen sogar einen leichten Anstieg verzeichnen.“ Im vergangenen Jahr haben die Kassen mehr Geld für Prävention ausgegeben. Das heißt, das Gesundheitssystem ist besser geworden, denn wir wollen ja dahin kommen, dass es mehr Prävention gibt. Die Ausgaben für die Früherkennung stiegen um 20 %, bei der Krebsfrüherkennung von Männern sogar um 57 %. Auch die Zahl der Gesundheitschecks hat zugenommen. Hier wurde 10 % mehr ausgegeben.
Die Gesundheitsreform und mithin die Praxisgebühr haben nicht weniger, sondern mehr Vorsorge gebracht.
Wir müssen aber einen Beitrag zur Aufklärung leisten. Hierbei bitte ich auch die Krankenkassen um Mithilfe. Gerade Menschen mit keinem oder geringem Einkommen sollten erfahren, wann sie von der Zuzahlung befreit sind, dass also zum Beispiel Vorsorgeuntersuchungen, Gesundheitschecks und Schutzimpfungen kostenfrei sind. Laut einer Umfrage vom Mai weiß mehr als die Hälfte der Deutschen nicht, dass man bei einer Vorsorgeuntersuchung keine Praxisgebühr zahlen muss. Das kann uns nicht zufrieden stellen. Wir brauchen also eine bessere Information der Patienten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Praxisgebühr ist erfolgreich. Ein paar Fakten sollen das untermauern.
Erstens. Die Praxisgebühr hat eine steuernde Wirkung, eine Lotsenfunktion. Mehr Patienten gehen zuerst zum Hausarzt und lassen sich von dort zu einem Facharzt schicken. Während die Zahl der Facharztbesuche zurück
ging, stieg die Zahl der Hausarztbesuche im vergangenen Jahr an. Es ist also nicht so, dass die Häufigkeit der Arztbesuche generell gesunken ist. Gerade im Bereich der Hausärzte ist sie gestiegen. Die Zahl der Überweisungen von Hausarzt zum Facharzt – das war gewollt – nahm deutlich zu. Mehr als die Hälfte der Facharztbesucher kam vom Hausarzt. Vor der Gesundheitsreform war das nur bei jedem Zehnten so. Der Anteil der Überweisungen vom Hausarzt hat sich bei den Fachärzten verfünffacht, bei Augenärzten sogar verzwölffacht. Die Patienten erkennen, dass der Hausarzt allemal besser einschätzen kann, welcher Facharztbesuch sinnvoll ist.
Wenn sinnlose Arztbesuche verhindert werden, dann nützt das nicht nur der Gemeinschaft der Beitragszahler, sondern auch jedem Patienten ganz individuell. Denn es ist nicht nur teuer, wenn man zwei- oder dreimal geröntgt wird, sondern es ist auch schädlich.
Die Qualität der Behandlung durch den Hausarzt scheint außerdem gestiegen zu sein. Die Patienten beklagen sich weniger, dass sich der Arzt zu wenig Zeit für sie nimmt. Die Praxisgebühr hat auch dazu geführt, dass die Patienten zufriedener sind. Es kann also nicht davon die Rede sein, dass es zu einer Fließbandbehandlung von Patienten kommt, wie Herr Dr. Müller das hier suggeriert hat.
Richtig. Nicht nur jemand, der Arzt ist, kann etwas wissen, sonst dürften Sie hier bei vielen Themen überhaupt nicht mitreden.
Zweitens. Die Praxisgebühr hat zu Kostendämpfungen geführt. Die Zahl der Arztbesuche sank um fast 9 % und damit auch die Kosten um 6 %. Wenn die Zahl der Arztbesuche sinkt, so heißt das nicht, dass die medizinische Versorgung schlechter geworden ist. Sie ist – im Gegenteil – durch die Prävention besser geworden. Das hat auch das Röntgenbeispiel gezeigt.
Wenn man sich den europäischen Vergleich anschaut, dann darf man fragen, wieso die Deutschen doppelt so häufig zum Arzt gehen wie die Franzosen und dreimal so häufig wie die Schweden. Die Schweden haben doch deswegen kein schlechteres Gesundheitssystem, und die Franzosen gehen doch nicht deshalb seltener zum Arzt, weil sie so viel gesunden Wein trinken. Das muss andere Gründe haben.
Noch Anfang vorigen Jahres titulierte uns „Die Zeit“ als „Arztbesuchseuropameister“ und schrieb weiter: „Niemand in Europa geht so oft und so gern zum Arzt wie die Bundesbürger.“
Mit der Praxisgebühr sind wir auf dem richtigen Weg, unsere Außenseiter-Spitzenreiter-Stellung aufzugeben.
Die Parallelen zu den historischen Vorgängen sind unübersehbar. Die Wesensverwandtschaft der NPD zum Nationalsozialismus, zum völkischen Prinzip und zum Missbrauch des Parlaments ist offenkundig.
Durch maßvolle Anreize prüfen die Patienten seit der Einführung der Praxisgebühr genau, ob ein Arztbesuch sinnvoll ist. Das merken wir selbst im Bekanntenkreis. Ich kenne ein älteres Ehepaar, das immer gemeinsam zum Arzt gegangen ist, weil es auch gemeinsam zum Einkaufen ging. Beide haben immer beim Arzt die Karte reingesteckt, unabhängig davon, ob nur einer krank war oder alle beide. Das zeigt, dass unser Gesundheitssystem missbrauchsanfällig war. Diese Missbrauchsanfälligkeit wurde jetzt reduziert.
Ich spreche über unsere Gründe für die Ablehnung. Die werden Sie sich anhören müssen, weil das für uns die zentrale Frage bei der Ablehnung des Antrages ist.
Im April 1928 – hören Sie es sich ruhig an! – bekannte sich Goebbels im „Völkischen Beobachter“ Die Praxisgebühr führt auch dazu, dass man nicht mit jeder kleinen Erkältung zum Arzt geht, sondern überlegt, ob man die nicht vielleicht allein auskurieren kann. Das ist gut so, weil es Kosten spart.