Protocol of the Session on November 11, 2004

(Beifall bei der FDP, der PDS, der SPD und den GRÜNEN)

Ich komme zum Thema Mindestlohn.

Wir stehen hier vor der Entscheidung zwischen Wettbewerb und Fortschritt oder Gleichmacherei und Rückschritt.

Was Gleichmacherei bedeutet, haben wir gerade hier in Sachsen über Jahrzehnte hin erlebt. Liebe Kollegen von der PDS, gerade Sie sollten wissen, dass es so nicht geht. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Mauer vor 15 Jahren gefallen ist. Sie ist gefallen, weil die Menschen das System nicht mehr haben wollten.

Wir haben nicht zu wenig Arbeit, sondern wir haben zu wenig bezahlbare Arbeit. Das ist doch das Grundproblem. Wenn es uns nicht gelingt, das Kartell der Arbeitsplatzbesitzer, vertreten durch die Gewerkschaften, aufzubrechen und endlich die Grenze zwischen denen, die Arbeit haben und Geld verdienen, und denen, die keine Arbeit haben und kein Geld haben, durchlässiger zu machen, werden wir das Problem der Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht lösen.

Deswegen schlägt die FDP seit langem das Modell des Bürgergeldes vor, um diese Grenze flexibel zu machen.

Wir müssen uns damit abfinden, dass wir dauerhaft in bestimmten Einkommensgruppen immer Menschen haben, die sich nicht ausschließlich durch Lohn- oder Gehaltszahlungen ernähren können, sondern zusätzlich staatliche Transferleistungen bekommen müssen. Wenn wir uns dies selbst nicht eingestehen, werden wir das Problem der Arbeitslosigkeit nicht lösen.

(Beifall bei der FDP)

In der Vergangenheit wurde Arbeit durch Kapital substituiert, weil die Arbeit zu teuer wurde, weil in den Tarifverhandlungen immer die unteren Lohngruppen angehoben wurden, bis die Unternehmer gesagt haben, dass sie es sich nicht mehr leisten können und Maschinen anschaffen.

Wer hergeht und Mindestlohn sät, wird eine weit, weit höhere Arbeitslosigkeit ernten. Deswegen können wir nur davor warnen, das zu tun.

(Beifall bei der FDP)

Ich erteile der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort. Frau Hermenau, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht um eine Güterabwägung. Es geht nicht darum, ein starres System eines Mindestlohnes für alle Branchen und alle Regionen zu haben. Ich glaube – das betrifft eigentlich auch Sie von der FDP –, wenn man die Bevölkerung mitnehmen will auf einen Weg von Reformen, die auch viele Einschnitte bedeuten, die wirtschaftliche Umstellung bedeuten, die der Wirtschaft ja auch helfen sollen, dann ist es nötig, ein Mindestmaß an Sicherheit zu haben, um die Bevölkerung dazu zu ermutigen, an diesen Reformen teilzunehmen. Das ist eigentlich die Frage, die wir bei der Diskussion über Mindestlöhne beantworten müssen. Wir haben gesagt, dass man Mindestlöhne branchen- und regionalspezifisch diskutieren muss. Es macht keinen Sinn, einen Einheitsmindestlohn vorzuschlagen. Das ist verrückt. Aber es macht sehr wohl Sinn, über Mindestlöhne nach Branchen und nach Regionen zu sprechen und zu diskutieren.

Wir haben auch angeregt, auf der Bundesebene – beim Wirtschaftsministerium – eine Stelle anzusiedeln, wo Gewerkschafter und Arbeitgeberverbände zusammenarbeiten und das genau nach diesen Kriterien zuordnen.

Diese Güterabwägung ist entscheidend für den Erfolg der Reformen im wirtschaftlichen Bereich und beim Umbau der Sozialsysteme in der Bundesrepublik Deutschland.

Wir haben in England zum Beispiel die Low-pay-Commission. Sie haben im Prinzip dort den Versuch gestartet, Mindestlöhne zu definieren. Theoretisch könnten wir das sogar aufgrund der bestehenden Gesetzeslage in Deutschland tun. Es gibt nämlich aus dem Jahre 1952 ein Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen, nach dem die Einrichtung von branchenund regionalspezifischen Mindestlöhnen möglich ist, und zwar unter Einbeziehung des Hauptausschusses.

Ich glaube auch aus den Interviews mit dem IG-MetallVorsitzenden Huber erkennen und herauslesen zu können, dass die Gewerkschaften dieser Frage durchaus positiv gegenüberstehen. Insofern halte ich die Debatte politisch für lösbar.

Eine Frage bezüglich der Arbeitnehmerfreiheit: Die Erweiterung der Europäischen Union in Richtung Osten hatte auch eine Reihe von Ängsten in der Bevölkerung gerade in einem Grenzland wie Sachsen ausgelöst. Das ist kein Geheimnis. Dieselben Befürchtungen hatten Menschen, die zum Beispiel in Frankreich leben, als es

darum ging, dass die EU nach Süden erweitert wird, 1981 nach Griechenland, 1986 nach Spanien und Portugal – die so genannte Süderweiterung der Europäischen Union. Die damals befürchteten Wanderungsbewegungen haben überhaupt nicht eingesetzt. Die Portugiesen wollten nicht in Südfrankreich arbeiten, sie wollten lieber zu Hause bleiben und wollten, dass ihr Land stärker wird.

Ich glaube, dass die Sprachbarriere ernst zu nehmen ist. Man hat festgestellt: In den letzten 15 Jahren haben im Durchschnitt immer nur 2 % der Arbeitnehmer innerhalb der Europäischen Union ihre Herkunft aus einem anderen Land zu verzeichnen. Das heißt, 2 % der werktätigen Bevölkerung in einem europäischen Mitgliedsland waren aus anderen europäischen Mitgliedsländern. Ich halte das nicht für eine Überwanderung, auch nicht der deutschen Bevölkerung.

(Beifall bei den GRÜNEN und der PDS)

Wichtig ist, dass es natürlich im Rahmen der Osterweiterung der Europäischen Union Entsenderichtlinien gibt, dass man auch deutlich festlegt, in welchen Branchen über Jahre hinweg Mindestlöhne gezahlt werden. Das Baugewerbe ist ein Beispiel dafür. Diese Mindestlöhne gelten auch für ausländische Arbeitnehmer. Dass das dann manchmal nicht eingehalten wird – diese Frage ist hier ja aufgeworfen worden –, ist eine Frage der Durchsetzungsfähigkeit des Staates, um die Rechtssicherheit zu gewährleisten. Man müsste sich fragen, wie viel Kraft man dabei in die Kontrolle legt. Im Prinzip ist das geregelt.

Die Bundesregierung beabsichtigt auch, Übergangsregelungen für besonders sensible Bereiche über Jahre hinweg aufrecht zu erhalten.

Wo man aber nicht herumkommt, ist die Frage der Zuwanderung, nicht nur der Zuwanderung, sondern auch der ausländischen Investoren. Es wurde behauptet, es gäbe nicht genügend Arbeitsplätze. Das trifft für ein Bundesland wie Sachsen auch zu. Wir sind maßgeblich darauf angewiesen, dass ausländische Investoren hierher kommen und hier Arbeitsplätze schaffen, denn das Eigenkapital im Land ist nicht groß genug, um aus eigener Kraft genügend Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, genügend Investitionen aus privater Hand zu tätigen, von der öffentlichen ganz zu schweigen.

Wenn es nach dem Wahlergebnis vom 19. September in Bad Schandau für nötig gehalten wurde, eine Schocktagung der Hotelbesitzer durchzuführen, weil diese befürchten mussten, dass zum Beispiel der Tourismus Schaden nimmt, wenn zum Beispiel auch Investoren aus dem Ausland, die an AMD beteiligt sind, der Meinung gewesen sind, man müsse ganz genau prüfen, ob man jetzt noch in ein Bundesland wie Sachsen investieren will, dann gefährden dümmliche Sprüche über Ausländer ganz offensichtlich die ausländischen Investitionen und die Schaffung weiterer Arbeitsplätze.

(Beifall bei den GRÜNEN und der PDS)

Ich erteile der Fraktion der PDS das Wort. Herr Tischendorf, bitte.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie Sie es von mir gewöhnt sind, lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen. Diesmal ist es ein Zitat aus dem Geschäftsbericht der Deutschen Bank. Es lautet: „Es geht in Deutschland darum, vermeidbare Hindernisse zu beseitigen, die der Entwicklung unserer Wirtschaft überhaupt im Wege stehen. Ebenso hemmend wie das Steuersystem wirkt sich die Lohnund Gehaltshöhe aus. Wäre die Nominalhöhe der Löhne und Gehälter in Deutschland um 10 % niedriger, so stünden wir nicht unter dem Druck der Arbeitslosigkeit.“ Bevor mir die Falschen hier hilfreich zur Seite springen, will ich sagen, dass es aus dem Geschäftsbericht der Deutschen Bank aus dem Jahre 1929 war.

(Prof. Dr. Peter Porsch, PDS: Hört, hört!)

Ab und zu lohnt sich auch einmal ein Blick zurück, wenn man über Mindestlohn spricht. Übrigens – das sage ich ein Stück zur rechten Seite – wurde damals die Weltwirtschaftskrise auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen und letztendlich damit gelöst, dass Tarifverträge 1933 beseitigt, die Löhne und Sozialleistungen massiv gesenkt und die Gewerkschaften zerschlagen wurden. Ich denke, von Sachsen sollten solche Diskussionen nicht ausgehen.

(Einzelbeifall bei der PDS)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das gegenwärtige Krisenprogramm heißt aber Agenda 2010, denn es zielt ebenfalls in die Richtung wie damals, so genannte Hemmnisse in der Lohnhöhe zu verringern. In Wirklichkeit ist es aber der bisher massivste Angriff auf den Lebensstandard von Lohnabhängigen in der Nachkriegszeit. Das sollte man auch einmal deutlich sagen. Die geplante Ausweitung von Ein-Euro-Jobs wird dazu führen, dass alle möglichen Jobs von Arbeitslosengeld-IIEmpfängern ausgeübt werden müssen. Dabei handelt es sich durchaus um sinnvolle Tätigkeiten, aber wir als PDS-Fraktion verstehen wahrlich nicht, warum diese nicht in regulären Beschäftigungsverhältnissen durchgeführt werden können. Außer einem finanzpolitischen Argument wird man wohl auf diese Frage keine Antwort finden. Mindestlöhne werden deshalb gebraucht, um mit der Einführung von Hartz II Lohndumping in Deutschland zu vermeiden. Mindestlöhne sind notwendig, um bei den vielen Vollzeitbeschäftigten ein Einkommen zu sichern, von dem sie dann auch leben können. Ein solcher Mindestlohn – das ist klar – muss politisch und gesellschaftlich definiert werden. Den vermeintlichen Hütern hier im Hohen Haus und der absoluten Tariffreiheit will ich noch ein Gegenargument entkräften: ohne dass die Tarifautonomie dadurch Schaden genommen hätte. Der Gesetzgeber hat beim Urlaub mittels Standardgesetz bei der Wochenarbeitszeit Höchststandards festgeschrieben. Das hat der Tarifautonomie nie geschadet. Aber eben beim Lohn. Es gibt kein schlüssiges Argument, warum das gerade beim Lohn schaden soll. Der Blick in die Nachbarländer ist sehr hilfreich. Das Beispiel England wurde heute bereits genannt. 1999 wurde der Mindestlohn eingeführt. Es gab damals die gleichen Diskussionen von den Kritikern aus Politik und Wirtschaft. Man malte ähnliche Horrorszenarien an die

Wand, was das alles bedeuten würde. Man kann es mit der Diskussion, die hier kursiert, vergleichen.

Es wurde befürchtet, dass Jobs verloren gehen, die Inflation steigt, aber, meine Damen und Herren, schauen Sie einmal die Daten an. Genau das Gegenteil ist eingetreten. Seitdem sind eine Million neue Jobs entstanden. Die Inflation ist niedriger. Mehr als eine Million Beschäftigte profitieren bereits vom Mindestlohn, und zwar ohne jeglichen Nachweis von Schaden in der Wirtschaft. Die Arbeitslosenquote ist niedriger als in Deutschland.

Auch die Tarifautonomie wurde in England nicht ausgehebelt, im Gegenteil, die Tarifabschlüsse waren immer wesentlich höher als in Deutschland.

Darüber hinaus sichert die Festlegung eines solchen Mindeststandards eine höhere Kaufkraft, was wiederum belebend auf die Inlandsnachfrage wirkt.

Meine Damen und Herren, die sich sehr kritisch zu diesem Vorschlag äußern, das alles sind keine Luftschlösser, sondern Fakten. Diese kann man nicht populistisch wegdiskutieren, auch wenn Ihnen das so passen würde. In England beträgt der gesetzliche Mindestlohn übrigens 1 160 Euro. In einigen anderen Ländern liegt er ungefähr in der gleichen Höhe. Doch in Deutschland wehren sich die Politiker und die Arbeitgeber, diese Reform, welche wirklich endlich einmal eine Reform wäre, anzugehen.

Gesetzliche Mindestlöhne – das sei Ihnen noch ins Stammbuch geschrieben – sind kein antikapitalistisches Teufelszeug. Sie sind auch nicht beschäftigungsfeindlich. Dafür gibt es keinen Beweis.

(Beifall bei der PDS)

Statt mit Hartz IV die Leute in Armut abzuschieben, ist es an der Zeit, sich in Europa umzuschauen, wie andere ihre Probleme in der Binnenwirtschaft angehen. Die PDS-Fraktion jedenfalls wird die neue Sächsische Staatsregierung dazu drängen, zum Thema Mindestlohn Farbe zu bekennen.

(Beifall bei der PDS)

Ich erteile der CDU-Fraktion das Wort. Herr Pietzsch, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Land lebt von der Leistung der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Für alle ist es wichtig, Chancen zu erhalten, dass ihre Arbeit auch zum Erfolg führen kann. Anstatt sich abzuschotten, sollten wir gemeinsam den Mut aufbringen, uns dem globalen Wettbewerb zu stellen. In der heutigen Diskussion geht es um solche Fragen wie: Sind gesetzliche Mindestlöhne ein Erfolgsrezept für Deutschland? Was muss in Deutschland geschehen, um im internationalen Wettbewerb wieder eine größere Rolle spielen zu können und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren?

Fest steht, der Arbeitsmarkt muss wieder in Ordnung gebracht werden. Das hohe Potenzial an Arbeitskräften, das durch Arbeitslosigkeit ungenutzt bleibt, muss wieder mobilisiert werden. Die Fakten sind jedem bekannt; sie sind alarmierend.

Seit Jahren sinkt die Anzahl der tarifgebundenen Betriebe. Die Zahlen schwanken zwar stets, aber tendenziell sinken sie: Im Westen sind es derzeit 70 %, im Osten zirka 54 %. Man kann noch 24 % der Unternehmen dazurechnen, die sich daran orientieren.

Tarifautonomie, Flächentarifvertrag und Allgemeinverbindlichkeitserklärung bieten Schutz vor Willkür und sind Instrumente des Vertrauens und der Verlässlichkeit. Dazu hat man sie erdacht und geschaffen. Doch dieser Schutz ist schwach und vor allen Dingen in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit zusehends gefährdet. Arbeiten für einen Hungerlohn ist keine Seltenheit; das haben wir gehört.

Wenn man sich den untersten Tarifbereich in manchen Branchen ansieht, stellt man fest, dass er mit Regelungen, die neben tariflichen Vereinbarungen existieren, durchaus vergleichbar ist. Er bewegt sich auf einem Niveau, das nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Derzeit müssen sich im Westen 12,1 % und im Osten 9,5 % aller Vollzeitbeschäftigten mit einem Arbeitsentgelt abfinden, das unterhalb der Armutsgrenze liegt. Diese liegt bei 50 % des nationalen Durchschnittsverdienstes der abhängig Beschäftigten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir die angesprochene Problematik ernsthaft diskutieren wollen, dann sollten wir uns der Bedeutung der Begrifflichkeit und deren Auswirkungen auf die Betroffenen bewusst sein.

Mir ist kürzlich eine Einladung zu einem Seminar bzw. zu Foren, in denen mit dem Thema „Armut ist geil?!“ geworben wurde, zugegangen. Es ging um Billiglohn und Mindesteinnahmen in Deutschland. Wenn Hearings mit dem Titel „Berichte aus der Zukunft der Armut“ oder „Einkommen ohne Auskommen“ stattfinden, dann sind wir, denke ich, im Interesse Millionen Betroffener gefordert, für mehr Klarheit und Wahrheit zu sorgen.

Für die Darstellung der komplexen Zusammenhänge gibt es unterschiedliche Sichtweisen, aber nur ein Ziel: Arbeit! Die Definition des Begriffes Arbeit gestaltet sich nach wie vor schwierig; genauso verhält es sich mit der Lohnfindung. Ob ein Lohn gerecht ist, kann von uns nicht diskutiert werden; die Frage allerdings, ob er ausreicht, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist durchaus von uns zu diskutieren.

Es wurde viel darüber geredet, in welchen Ländern wann welcher Mindestlohn eingeführt worden ist – das möchte ich nicht wiederholen. Ein Fakt aber ist vergessen worden zu erwähnen, nämlich die Frage, auf wie viele Personen das zutrifft. In Spanien, Großbritannien, den Niederlanden und Irland erhalten zwischen 0,9 und 2,2 % der Beschäftigten den Mindestlohn, in Portugal dagegen 4 %, in Frankreich 13,9 % und in Luxemburg 15,5 %.