Protocol of the Session on October 15, 2008

Drucksache 4/11670, Antrag der Fraktionen der CDU und der SPD, mit Stellungnahme der Staatsregierung

wurde von der Tagesordnung abgesetzt. Ich rufe auf

Tagesordnungspunkt 10

Abschaffung der Praxisgebühr

Drucksache 4/12715, Antrag der Linksfraktion

Hierzu können die Fraktionen Stellung nehmen. Es beginnt die Linksfraktion. Danach folgen CDU, SPD, NPD, FDP, GRÜNE und die Staatsregierung, wenn sie das wünscht. Ich erteile jetzt der Linksfraktion das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren Abgeordneten! Auf der Grundlage des § 28 SGB V, geändert durch das Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung vom 14. November 2003, wird seit dem 1. Januar 2004 die sogenannte Praxisgebühr erhoben. Diese Praxisgebühr treibt die Teilprivatisierung gesundheitlicher Risiken voran. Das betrifft besonders ärmere Bevölkerungsgruppen. Deren medizinische Grundversorgung ist durch die Praxisgebühr und andere Zuzahlungen gefährdet bzw. schon jetzt zum Teil nicht mehr gewährleistet. Daran ist besonders prekär, dass diese Patientinnen und Patienten in der Regel besonders hohen Gesundheitsrisiken unterliegen.

Dem Antrag zur Abschaffung der Praxisgebühr kommt jetzt nach Festlegung des Gesundheitsfonds eine neue Bedeutung zu. Unsere Bürgerinnen und Bürger und dabei besonders unsere Rentnerinnen und Rentner hier in Sachsen sind durch den Gesundheitsfonds besonders belastet. Da helfen auch Gespräche von Herrn Tillich in Berlin nicht. Der festgelegte Betrag von 15,5 % für den Gesundheitsfonds ist definitiv von jedem zu zahlen. Die Staatsregierung sollte sich in Berlin starkmachen und gerade jetzt für Teilausgleiche wie die Abschaffung der Praxisgebühr sorgen.

Machen wir uns nichts vor: Die Gebühr für die Inanspruchnahme eines an der ambulanten ärztlichen, zahnärztlichen oder psychotherapeutischen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringers, kurz gesagt die Praxisgebühr, verursacht vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte Fehlsteuerungen im Gesundheitswesen. Zwar werden absolut notwendige Arztbesuche weiter getätigt, die Arztkontakte zur Prävention und bei sogenannten Bagatellerkrankungen in den unteren Einkommensklassen sind jedoch stark zurückgegangen. Dies führt zu einer unzureichenden Früherkennung und Verschleppung von Krankheiten, was wiederum langfristig zu erhöhten Kosten im Gesundheitswesen führen wird. Darüber hinaus ist durch die Praxisgebühr eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes zum Nachteil der Bürgerinnen und Bürger niedrigerer Einkommensklassen gegeben.

Werte Abgeordneten! Das Prinzip der solidarischen Krankenversicherung, wonach junge für alte, gesunde für kranke und reiche für arme Versicherte solidarisch eintreten, wird hier von den Füßen auf den Kopf gestellt.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Die Versichertengemeinschaft hat aber Anspruch auf eine Abdeckung der durch Krankheit entstehenden Kosten. Diese Versicherungspflicht wurde mit gutem Grund eingeführt. Mit der Versicherungsprämie wurde den Menschen ein Stück mehr Sicherheit gegeben. Damit wurden Lebensrisiken wie Krankheit, Pflege, Alter, Arbeitslosigkeit und Unfall durch die Sozialversicherungen abgefangen. Mit diesem Prinzip ist Deutschland über 130 Jahre gut gefahren.

Frau Lauterbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Vielen Dank, Herr Präsident! Frau Lauterbach, Sie haben eben die Praxisgebühr als Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes bezeichnet. Meinen Sie damit den Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz?

Ich meine, dass die Praxisgebühr jetzt die Menschen finanziell belastet, die wenig Einkommen haben.

Gestatten Sie eine weitere Frage?

Sie können Sie stellen.

Danke. Sie haben eben die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes gerügt. Ist Ihnen bekannt, dass das Bundesverfassungsgericht gegen die Einführung der Praxisgebühr keine verfassungsrechtlichen Bedenken geäußert hat?

Das mag sein.

Vielen Dank.

Aber sehen Sie es einmal aus moralischer Sicht.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Ich weiß nicht, ob Sie das können.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Beim Inkrafttreten der Gesundheitsreform 2003 wurde gesagt, dass die Einführung der Praxisgebühr und der Zuzahlungen eine positive Wirkung auf den Arbeitsmarkt hätte. Die Folge ist jedoch eine milliardenschwere Kostenverlagerung von den Arbeitgebern auf die Arbeitnehmer, und zwar durch Leistungsausgrenzung, Änderungen bei der Finanzierung von Zahnersatz und Krankengeld sowie Zuzahlungen wie die Praxisgebühr. Nur so würden neue und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstehen und

vorhandene gesichert, wurde damals behauptet. Dieses Ziel, liebe Abgeordneten, wurde nicht erreicht, im Gegenteil. Es werden fortgesetzt Opfer von den Menschen verlangt und ihnen Lasten aufgebürdet, ohne dass die versprochenen positiven Wirkungen eintreten. Die Lasten von Zuzahlungen wie der Praxisgebühr tragen ausschließlich die Kranken.

Aufgrund der Zuzahlungen ist die ärztliche Versorgung für die Betroffenen gefährdet bzw. nicht länger gewährleistet. So haben insbesondere Patientinnen mit schlechtem Gesundheitszustand die Anzahl der Arztbesuche am stärksten reduziert. Neben dem Gesundheitszustand hat auch das Einkommen die Reaktion auf die Praxisgebühr beeinflusst. In der untersten Einkommensgruppe ist der Anteil der Menschen, die auf einzelne Arztbesuche verzichten, mitunter verzichten müssen und sich stattdessen ohne ärztliche Hilfe auskurieren, am höchsten und liegt hier bei 37 % im Vergleich zum Durchschnitt von 27 %. Das sind unerwünschte Nebenwirkungen der Gesetzgebung.

Wer Menschen durch Zuzahlungen wie die Praxisgebühr von der medizinischen Versorgung ausgrenzt, nimmt Folgeschäden billigend in Kauf.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Das ist einfach nur zynisch. Die Kosten, die der Gesetzgeber mit dieser Maßnahme einsparen will, werden durch viel zu späte Arztbesuche in die Höhe getrieben. Die Praxisgebühr, die bekanntlich von der CDU/CSU in das Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz gedrückt worden ist, muss endlich gestoppt werden.

(Vereinzelt Beifall bei der Linksfraktion)

Ich fordere Sie auf, sich im Bundesrat starkzumachen: Der § 28 Abs. 4 SGB V – ich habe es bereits gesagt –, in dem die Bestimmungen für die Erhebung der Praxisgebühr festgelegt worden sind, ist zu streichen.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Herr Abg. Krauß vertritt die CDU- Fraktion.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie von der Linkspartei haben versucht, die Praxisgebühr als unsozial abzustempeln.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion: Das ist sie!)

Fakt ist jedoch: Die Praxisgebühr ist sozial ausgewogen.

(Gelächter bei der Linksfraktion)

Der wissenschaftliche Dienst der AOK kam in einer Studie zu dem Schluss, dass soziale Gründe nicht den Arztbesuch behindern. Weiter heißt es in dieser bereits veröffentlichten Studie: „Die anfänglichen Unsicherheiten bei den Versicherten haben sich gelegt, vermutlich nicht

zuletzt aufgrund einer inzwischen eingespielten Härtefallpraxis.“

(Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion)

Nein, nein, mehr als 2 % seines Bruttoeinkommens muss niemand zuzahlen, chronisch Kranke lediglich 1 %. Viele Untersuchungen sind zuzahlungsfrei, zum Beispiel Vorsorgeuntersuchungen, nicht nur während der Schwangerschaft, sondern auch beim Zahnarzt, Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, Gesundheits-Checks ab dem 35. Lebensjahr und Schutzimpfungen, beispielsweise gegen Grippe. Bestimmte Krankenkassen verzichten auf die Praxisgebühr, wenn die Patienten einen bestimmten Hausarzt ausgewählt haben oder bei Chronikerprogrammen eingetragen sind. Das ist auch der Grund dafür, warum viele Menschen mittlerweile zuzahlungsbefreit sind. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren zahlen gar keine Praxisgebühr. Die Zuzahlungsbefreiungen – ich hatte es schon angeführt – führen letztendlich dazu, dass diejenigen, die überfordert sind, keine Zuzahlungen zu leisten haben – es gibt also keine soziale Auswahl –, die über die Leistungsfähigkeit der Betroffenen hinausgehen würden.

(Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion)

Wir sprechen hier nicht über drei Versicherte, die zuzahlungsbefreit sind, sondern es ist ein Großteil. Wir können sagen: Ein Jahr nach der Einführung war in Sachsen jeder Fünfte zuzahlungsbefreit.

(Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion, steht am Mikrofon.)

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ja, bitte schön.

Herr Pellmann, bitte.

Herr Abg. Krauß, meinen Sie, dass die 80 Euro, die ein Hartz-IVBetroffener – also ein Empfänger von Arbeitslosengeld II – pro Jahr zuzahlen müsste, diesem Menschen bei seinem Einkommen, was er durch die Leistung erhält, nicht schwer wehtut und dass er dann möglicherweise entscheidet, dass er das Geld an dem Tag, an dem er unbedingt zum Arzt gehen muss, nicht hat und dass dieser Zustand etwas mit sozialer Benachteiligung zu tun hat?