Für meine Fraktion sage ich ausdrücklich: Es ist eine andere Ebene als die Bitte um Vergebung des deutschen Volkes durch die Parlamentarier für die Verbrechen der Nazizeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns stattdessen schauen, wie wir heute den damaligen Opfern helfen können, das Erlebte so gut wie möglich zu überwinden. Wir werden unseren konstruktiven Beitrag leisten.
Ich danke Herrn Abgeordneten Wolfgang Kubicki und erteile für den SSW im Landtag der Frau Abgeordneten Anke Spoorendonk das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Aufarbeitung der bundesweiten Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren geschieht seit etwa fünf Jahren im Petitionsausschuss des Bundestages. Dort fordern ehemalige Heimzöglinge aus jener Zeit ihr Recht auf Entschädigung und eine Entschuldigung für das Unrecht, das an ihnen begangen wurde. Insgesamt ist dies ein besonders dunkles Kapitel westdeutscher Geschichte und seiner Justiz- und Sozialpolitik. Was sich seinerzeit hinter den Mauern von staatlichen und kirchlichen Einrichtungen zugetragen hat, macht tief betroffen. Es hat, nicht nur nach heutigem Ermessen, nichts, aber auch gar nichts mit der Erziehung von Kindern und Jugendlichen zu tun. Daher ist es auch angemessen, dass sich der Landtag mit dem Schicksal der ehemaligen Heimkinder befasst.
Ich muss aber auch sagen, dass ich es sehr bedauerlich finde, dass es nicht gelungen ist, den Ursprungsantrag der Grünen in einen interfraktionellen Antrag umzuwidmen. Aus Sicht des SSW wäre es der Sache angemessen gewesen, wenn sich der Schleswig-Holsteinische Landtag gleich parteiübergreifend positioniert hätte. Das soll heißen, wenn der interfraktionell angeforderte Bericht vorliegt, sollten wir dies unbedingt nachholen.
Wer sich mit dem Thema Heimkinder näher befasst, wird bei seiner Recherche unweigerlich feststellen, dass sich das Landesfürsorgeheim Glückstadt durch sein unrühmliches Ansehen besonders hervortut. Das Gebäude in Glückstadt hatte bereits eine Vorgeschichte, bevor es als Landesfürsorgeheim in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren genutzt wurde. Als Korrektionsanstalt und Landesarbeitsanstalt wurde es von 1875 bis 1933 genutzt, und in der Nazi-Zeit wurde das Gebäude als sogenanntes „wildes KZ“ genutzt und danach bis 1945 weiter als Landesarbeitshaus. Es stellt sich hierbei die Frage, was man sich überhaupt dabei gedacht hat, Kinder und Jugendliche in einem Gebäude mit einer solchen Geschichte wegzusperren. Aber wer sich die Geschichte des Gebäudes des Konzentrationslagers Neuengamme anschaut, wird eine ähnliche Vorgeschichte wiedererkennen.
Es macht aber deutlich und ist symbolisch dafür, nach welchem Muster die Erziehung in dem Heim stattgefunden hat. Ziel dieser Erziehung war es, Kindern und Jugendlichen ihr „unsittliches“ und „asoziales“ Verhalten auszutreiben und sie unter furchtbaren Bedingungen gefügig zu machen, damit sie „gehorsam“ und „ordentlich“ wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden können.
Es handelte sich hierbei nicht ausschließlich um jugendliche Straftäter, die eine Strafe abzusitzen hatten. Auch waren zum damaligen Zeitpunkt nicht alle Insassen als Straftäter verurteilt. Sie waren gesellschaftlich verurteilt, und die Einweisungsgründe reichten von „arbeitsscheu triebhaft“ und „arbeitsscheu haltlos“ bis „erziehungsschwierig“, „kriminell gefährdet“ und „schwachsinnig“. Damit es hier nicht zu Missverständnissen kommt: Auch jugendliche Straftäter hätten damals niemals unter solchen Bedingungen weggesperrt werden dürfen.
Unter dem Strich betrachtet sagen diese Beurteilungen nichts über die Jugendlichen und alles über das damalige System aus.
Der damalige „Ausschuss für Volkswohlfahrt“ des Schleswig-Holsteinischen Landtages - der Kollege Baasch sprach es an - hat sich 1969, nachdem es einen Aufstand im Landesfürsorgeheim gegeben hat, in zwei Sitzungen mit dem Heim beschäftigt. Mit Entsetzen liest man die Protokolle von damals und steht fassungslos der Tatsache gegenüber, dass das Heim erst Ende 1974 geschlossen wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben heute die Chance, dieses Kapitel gemeinsam mit damaligen Heiminsassen aufzuarbeiten. Daher begrüßen wir die Initiative von Ministerin Trauernicht, ehemalige Jugendliche der damaligen Landesfürsorgeanstalt Glückstadt zu einem runden Tisch einzuladen und darüber hinaus zwei Mitarbeiter im Landesarchiv einzustellen, um die dort lagernden über 7.000 Akten zu ordnen und zu archivieren. Eine Dokumentation des ersten runden Tisches liegt bereits vor. Auch das ist schon gesagt worden. Gemeinsam wurde dort beschlossen, dass eine weitergehende Aufarbeitung erfolgen soll. Das macht deutlich, dass sich Schleswig-Holstein seiner Verantwortung gegenüber seinen Schutzbefohlenen bewusst ist.
Nun ist es unsere Aufgabe als Landesparlament, daraus die politischen Konsequenzen zu ziehen. Ich teile die Auffassung des Kollegen Kubicki: Natürlich kann Unrecht nicht aufgeteilt werden. Unrecht ist Unrecht. Trotzdem ist es richtig, in der Aufarbeitung dieses Unrechts zu sagen: Was sich
die Gesellschaft an Schuld den Zwangsarbeitern, den Opfern des Nationalsozialismus gegenüber aufgeladen hat, hat eine andere Qualität.
Aber wir schulden es den Opfern, dass wir die Geschichte der Heimfürsorge in Schleswig-Holstein aufarbeiten und dass wir daraus Konsequenzen ziehen. Wir schulden es uns selbst, dass wir gesellschaftspolitische Konsequenzen daraus ziehen, wenn es um die Weiterentwicklung des Jugendstrafvollzugs geht. Auch diesen Punkt möchte ich hier ansprechen. Auch da teile ich die Auffassung des Kollegen Kubicki ausdrücklich.
Ich danke der Frau Abgeordneten Spoorendonk. Das Wort für die Landesregierung erhält die Ministerin für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren, Frau Dr. Gitta Trauernicht.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf dem diesjährigen Kinder- und Jugendhilfetag ist der Journalist Peter Wensierski für sein Buch „Schläge im Namen des Herrn“ mit dem Medienpreis ausgezeichnet worden. Ich fand es außerordentlich gut. Ich war auch bei dieser Veranstaltung anwesend. Ich habe mich darüber gefreut, denn er hat den Preis dafür erhalten, dass er mit diesem Buch das Schweigen durchbrochen hat. Nachdem dieses Buch erschienen ist, haben Tausende von Menschen ihr schweres Lebensschicksal nicht mehr versteckt, sie haben sich in dem Verein ehemaliger Heimkinder zusammengetan, sie schreiben beeindruckende Biografien, sie geben Interviews, sie sind auf Veranstaltungen anwesend. Sie wollen, dass nach vielen Jahrzehnten über diese Zeit geredet wird. Heute 45- bis 60-Jährige fordern Aufklärung über die Umstände, die sie zu Zöglingen von Fürsorgeanstalten werden ließen. Sie fordern Aufklärung über die Zustände, unter denen sie in diesen Heimen leben mussten. Sie wollen wissen, warum es möglich war, dass es zu solch entwürdigenden Erziehungspraktiken kam, warum ihnen schulische Förderung vorenthalten wurde, warum sie durch schlecht oder gar nicht bezahlte Arbeit ausgebeutet wurden.
digung für daraus entstandenen Schaden. Das sind schwierige Themen, sensible Themen. Dies fordern auch Ehemalige aus dem Landesfürsorgeheim Glückstadt, und die wenden sich nicht an die Bundesebene, auch sondern an uns.
In jüngster Zeit - es ist jetzt schon einige Jahre her beschäftigen sich Wissenschaftler und Verbände, Heimträger und die öffentliche Jugendhilfe, aber auch die Politik mit diesem dunklen Kapitel der jüngeren Jugendhilfegeschichte. Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages hat eine differenzierte Anhörung vorgenommen und beabsichtigt - so meine Information, weil ich mit ihm in engem Kontakt stehe -, jetzt ebenfalls einen bundesweiten runden Tisch einzurichten, an dem die Ehemaligen, aber auch Vertreter der Jugendhilfe und die Politik gemeinsam arbeiten.
Sie haben es bereits gesagt: Ich habe Anfang des Jahres einen solchen runden Tisch in SchleswigHolstein hier im Landtag in einem Raum einen ganzen Samstag mit Ehemaligen des Landesfürsorgeheims Glückstadt durchgeführt. Es waren auch einige Vertreter aus der öffentlichen und freien Jugendhilfe und auch einige Journalisten bei dieser Veranstaltung anwesend.
Die Veranstaltung selbst gehörte für mich, die ich mich seit Jahrzehnten mit diesem Thema beschäftige, zu den beeindruckendsten Erlebnissen, die ich jemals gehabt habe. Warum? Wir haben uns ganz systematisch der Frage zugewandt und jeden der zwölf anwesenden Ehemaligen erzählen lassen: Warum bin ich ins Heim gekommen? Was ist mir dort passiert? Was ist danach aus meinem Leben geworden?
Diese Berichte zeigten einmal mehr, dass viele Menschen aus dieser Zeit der öffentlichen Erziehung für ihr gesamtes Leben geprägt sind. Sie fühlen sich missachtet, verletzt und beschädigt und das, obgleich die Heime eigentlich die Hilfe sein sollten, die Hilfe aus Lebenssituationen, die oft von den Ehemaligen so beschrieben wurden, dass sie unerwünscht waren, weil sie Kinder von Alleinerziehenden waren oder weil neue Familienkonstellationen dazu führten, dass sie übrig waren.
Gleichzeitig - und das war für mich so beeindruckend - habe ich diese zwölf Menschen als Persönlichkeiten wahrgenommen, als Menschen wie Sie und mich, die mit dieser Zeit umgehen, die versucht haben, das Beste aus ihrem Leben zu machen und die mit Augenmaß die Diskussion mit uns führen, nicht anklagend, nicht wehleidig, sondern sehr solide, aber auch sehr selbstbewusst.
Es gibt wissenschaftliche Studien, es gibt Biografien, auch die von meinem Ministerium vorgelegte Dokumentation über den runden Tisch legt Zeugnis über eine schwarze Pädagogik mit verheerenden Folgen ab. Es handelt sich hier nicht um Einzelschicksale, sondern um ein System der öffentlichen Erziehung mit der Endstation Fürsorgeerziehung. Abschreckung, Abschiebung, Strafen - das waren die zentralen Prinzipien. Wer nicht gehorchte, kam ins Heim. Wer sich dort nicht anpasste, kam in die geschlossene Unterbringung. Wenn das nicht reichte, gab es Fürsorgeerziehung in Glückstadt, und dort gegebenenfalls als weitere Maßnahme die Isolation in der sogenannten Box.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Problematische - und dafür bin ich Herrn Kubicki sehr dankbar - ist, dass dieses in der Zeit der 50er-, 60erund 70er-Jahre geschehen ist, dass dieses aber auch vor Kurzem noch in einem benachbarten Bundesland in der gleichen Weise geschehen ist, weil offensichtlich niemand versteht, dass es, wenn man die geschlossene Unterbringung erst einmal eingerichtet hat, eine Kette der Bedrohung und Drohung mit dieser Institution gibt.
Glückstadt ist nicht das einzige, aber ein besonders unrühmliches Kapitel dieser Zeit. Wir hatten andere schlimme Heime in Schleswig-Holstein, aber es gab Tausende dieser Heime in Deutschland. Aber auch die Lebenssituation in Pflegefamilien war manchmal außerordentlich bedrohlich und problematisch.
Bemerkenswert ist, dass die Zustände in Glückstadt bereits in den 50er-, 60er- und 70er-Jahre Gegenstand kritischer Bewertungen waren. Es gab HeimRevolten, es gab parlamentarische Debatten, es gab Zeitungsberichte, es gab Proteste von Jugendämtern. Die Mitarbeiter seien schlecht ausgebildet, die Räume schlechter als im Jugendgefängnis, die Heimordnung veraltet, das Einsperren der Zöglinge rechtswidrig. Glückstadt sei eine besondere Form von Arrest. An Minderjährigen würde verkappter Strafvollzug praktiziert. All das finden wir in der Lektüre der Akten aus früheren Zeiten.
Das Bemerkenswerte ist, dass einer beim runden Tisch sagte: Während einem Gefängnisaufenthalt ein Gerichtsverfahren und eine Verurteilung mit einem bezifferten Strafmaß vorausging, war es so, dass man die Sorge haben musste, aus Glückstadt erst mit der Volljährigkeit entlassen zu werden.
nicht Erziehung und Freiheit, sondern rigide Gehorsamkeitserziehung um jeden Preis - das war dass, was sich in diesen Heimen abspielte.
Das Tabu muss gebrochen werden, die Ereignisse müssen ans Licht der Öffentlichkeit. Zurzeit werden 7.000 Akten im Landesarchiv Schleswig-Holstein archiviert. Wir werden damit bereits im Spätsommer fertig werden. Wir unterstützen Forschungsarbeiten. Professor Schrapper von der Universität Konstanz - ein in diesem Bereich renommierter Wissenschaftler - hat einen Antrag bei der „Aktion Mensch“ gestellt. Wir hoffen, dass er einen Zuschlag dafür bekommt. Wir sind in der Diskussion mit dem Petitionsausschuss, von dem wir uns natürlich auch eine Beschlussfassung erhoffen, denn er beschäftigt sich inzwischen seit zwei Jahren mit dem Thema. Wir haben dieses Thema auch bei der Jugendministerkonferenz im Mai dieses Jahres eingebracht, wir haben mit dem Bundesministerium, mit der Bundesjugendministerin und mit ihrem Staatssekretär darüber diskutiert, vor allem aber stehen wir mit den Ehemaligen des runden Tisches in Kontakt.
Es braucht manchmal nicht viel. Einer der Ehemaligen rief mich an und sagte, unter den letzten 500 Akten, die jetzt archiviert werden, ist seine Akte gefunden worden. Dieser Mann ist aus Berlin gekommen, obwohl er es sich nicht leisten konnte. Es war uns möglich, ihm die Reise zu finanzieren. Er hatte nicht das Geld für die Fotokopie seiner Akte. Und offensichtlich war es außer mir niemandem möglich, ihm diese Kopie zukommen zulassen. Das zeigt: Es sind manchmal die ganz kleinen Dinge. Daran arbeite ich zurzeit. Ich möchte auch die Möglichkeit geben, dass ein Infotelefon im Landesjugendamt jedem der Ehemaligen Gelegenheit gibt, sich zu informieren und ins Gespräch zu kommen.
Es ist für mich ein Gebot der Moral, mit ihnen auf gleicher Augenhöhe zu reden, Mitgefühl zu zeigen, Bedauern auszudrücken und um Verzeihung zu bitten - auch wenn wir nicht persönlich Schuld auf uns geladen haben.
(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, SSW und der Abgeordneten Dr. Hei- ner Garg [FDP] und Susanne Herold [CDU])
Ich selbst habe Anfang der 70er-Jahre zu diesem Thema gearbeitet, sogar promoviert und Bücher geschrieben. Mir war immer wichtig, dass sich diese Geschichte der Fürsorgeerziehung nicht wiederholt. Ich habe mich immer gegen die geschlossene Unterbringung gewandt und immer für moderne Formen der Kinder- und Jugendhilfe eingesetzt. Nie wieder schwarze Pädagogik! Aber eines hatte ich offensichtlich nicht im Blick: dass es ein Aufbearbeitungsbedürfnis der Betroffenen gibt. Es hat lange gedauert, aber es nicht zu spät. Geben wir den Betroffenen die Chance der Aufarbeitung, geben wir ihnen ein Stück ihrer Würde zurück und machen wir klar - wie zum Beispiel mit dem Kinderschutzgesetz -, dass wir hier in Schleswig-Holstein ein klares Bekenntnis für eine moderne, für menschliche, für eine wirkungsvolle Jugendhilfe abgeben.
Ich danke der Frau Ministerin für ihren Bericht. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.
Bevor wir in die Abstimmung eintreten, schlage ich Ihnen vor, abweichend von der Geschäftsordnung den interfraktionellen Antrag Drucksache 16/2177 zu einem selbstständigen Antrag zu erklären, um gesondert über ihn abstimmen zu können. - Widerspruch sehe ich nicht. Dann werden wir so verfahren.