Protocol of the Session on January 30, 2008

(Manfred Ritzek)

Die Europäische Union hat mit dem Reformvertrag einen Meilenstein für kommunale Rechte in der Europäischen Union gesetzt. Das belegt die gleich zu Beginn in den Artikeln 3 a und 3 b festgelegte Achtung des Rechts der nationalen, regionalen und kommunalen Selbstverwaltung. Dort heißt es:

„Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. … Die nationalen Parlamente achten auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips …“

Die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips und die Einbeziehung der Staaten, Regionen und Kommunen in die Subsidiaritätsprüfung werden hoffentlich die Rathäuser, die Landratsämter und alle Menschen in der Europäischen Union nachhaltig vor überbordender EU-Politik schützen. Ein eigenes Klagerecht des Ausschusses der Regionen vor dem Europäischen Gerichtshof bei einer Verletzung dieses Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsrechts stärkt das Prinzip.

Wir alle sind gefordert, das Subsidiaritätsprinzip umzusetzen. Die Europäische Union wird mit dem neuen Grundlagenvertrag handlungsfähiger, schlanker und demokratischer.

Unsere entscheidende Aufgabe ist es, die Menschen stärker in den Prozess der Europäischen Union einzubeziehen. Der Vertrag von Lissabon eröffnet die Chance dazu. Wir sind herausgefordert, daran mitzuwirken, sofort und hier in unserem Land.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der SPD)

Ich danke Herrn Abgeordneten Manfred Ritzek. Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun Herr Abgeordneter Rolf Fischer.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben von dem Minister sehr viel gehört. Vielen Dank noch einmal an dieser Stelle für den Bericht, der das komplexe und komplizierte Geflecht dargestellt hat, das diesem Reformvertrag zugrunde liegt. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich einige Schwerpunkte stärker auf politische Wertun

gen legen und nicht so sehr in die Institutionenkunde einsteigen.

(Beifall der Abgeordneten Anette Langner [SPD], Dr. Heiner Garg [FDP] und Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

„Frohgemut ins europäische Dickicht“ titelte eine große deutsche Wochenzeitung zur Unterzeichnung des Europäischen Reformvertrages von Lissabon. So ganz falsch ist dies nicht. Der vorliegende Text ist zwar etwas kürzer als der ehedem abgelehnte, aber nicht nur der europäische Laie wird weiterhin seine großen Probleme mit Umfang, Lesbarkeit und Verständlichkeit haben.

Und doch ist dieser europäische Reformvertrag ein wichtiger Schritt aus der Krise Europas, die es nach den negativen Referenden in Frankreich und in den Niederlanden zu überwinden galt. Er bietet eine verbesserte Grundlage für das Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger im erweiterten Europa, und zwar deshalb, weil wir mehr Demokratie in Europa haben, weil das Europäische Parlament gestärkt wurde, weil die Bürgerrechte durch ein europäisches Bürgerbegehren gestärkt sind und weil die nationalen Parlamente mehr Rechte bekommen haben, bei europäischen Fragen mitzuwirken. Kurz gesagt: Wir haben jetzt mehr verankerte Bürgerrechte. Das ist für mich der wahre Erfolg dieses Vertrages.

Die Grundrechtecharta, die jetzt rechtsverbindlich ist, stellt faktisch eine europäische Verfassung dar, auch wenn der Chartatext leider nicht im Gesamtvertrag enthalten ist und es in Großbritannien und Polen nicht nachvollziehbare Einschränkungen gibt. Der Minister hat darauf hingewiesen.

Wir haben immer gesagt - auch in diesem Parlament -, dass wir nicht nur eine Wirtschafts- sondern vor allen Dingen eine europäische Wertegemeinschaft wollen. Das war und ist unser Ziel, weil nur die gemeinsamen Werte ein friedliches und demokratisches Miteinander in Europa garantieren. Mit dem Ziel, das mit der Grundrechtecharta verbunden ist, haben wir diesen Weg zu mehr Bürgerrechten, zu mehr Demokratie und zu mehr Humanität in Europa erreicht. Das ist eine große politische Leistung und das ist der Durchbruch dieses Reformvertrages.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt beginnt die Ratifizierungsphase und ich appelliere an die Regierung, aber auch an die Fraktionen hier im Landtag: Die Ratifizierungsphase ist kein Selbstläufer,

(Manfred Ritzek)

und wir dürfen den Kardinalfehler der ersten Runde nicht wiederholen. Das heißt, wir müssen das öffentliche Gespräch noch stärker forcieren, als wir es bislang getan haben. Wir brauchen jetzt eine intensive und klare Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern. Die Reformen sind zweifellos ein Erfolg, wie ich finde, aber sie sind für viele Menschen auch nur eine neue Mechanik. Wir müssen deshalb für diesen Reformvertrag werben, ihn lesbar und verständlich machen, damit die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich den Wert erkennen, der mit diesem Reformvertrag geschaffen wurde.

(Beifall beim SSW)

Das ist auch deshalb wichtig, weil Europa ein lernendes System ist - wir haben diesen Begriff ja schon gehört - und sich auch weiter verändern wird. Die Bürgerinnen und Bürger und wir - ihre Vertreter in den Parlamenten - müssen also über die Zukunft der Union, über die gemeinsamen Werte und die damit verbundene europäische Identität immer wieder sprechen.

So wichtig ein Europa der Nützlichkeit ist, so wenig kann es ohne die grundsätzlichen Überzeugungen auf Dauer überleben.

(Beifall bei der SPD)

Viele Menschen brauchen Zeit, sich mit dem neuen Gesicht Europas anzufreunden und Vertrauen zu fassen. Deshalb werbe ich dafür, auch die Kritiker an diesem Reformvertrag, die sich Gedanken in Richtung Aufrüstung und ähnliche Entwicklungen machen, ernst zu nehmen und das Gespräch mit ihnen zu suchen.

Der Vertrag ist auch eine große Chance für Schleswig-Holstein. Nicht nur, dass wir die Verfassung oder den Reformvertrag immer wieder begrüßt und uns auch mit Initiativen beteiligt haben - wir können aus unserer Situation als aktiver Partner in der Ostsee- und in der Nordseekooperation den Dialog im Bereich der neuen Außenpolitik verstärken und auch neu beleben.

Die europäische Außen- und Nachbarschaftspolitik, die durch den neuen - leider nicht so zu nennenden - europäischen Außenminister formuliert wird, muss auch die Regionen Europas einbeziehen, wenn sie mit Leben erfüllt werden soll.

Ohne Regionen geht in diesem Europa gar nichts.

(Beifall bei SPD und SSW)

Ich plädiere deshalb ganz entschieden für eine europäische Landespolitik, wie sie auch schon vom Europaminister bestimmt und dargestellt wurde, die

wir aber immer wieder neu analysieren und festlegen müssen. Das ist kein statischer Prozess. Ich glaube, wir würden auf der Basis dieser neuen Strukturen, über die wir hier diskutieren, den Einfluss Schleswig-Holsteins auf Dauer verlieren, wenn es uns nicht gelänge, diese Europapolitik zu einem dynamischen Prozess zu machen, das heißt, immer wieder, auch hier im Parlament, im Europaausschuss und in den Gremien dafür zu sorgen, dass wir unsere Politik diesen neu entstehenden Verhältnissen in Europa, den neu entstehenden Beziehungen so anpassen, dass wir den Vorteil, den wir in der Ostseeregion bisher haben, weiter beibehalten können.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Jürgen Weber [SPD]: Er ist ein leidenschaftlicher Europäer!)

- Leidenschaft ist ganz wichtig bei diesem Thema, insbesondere, weil viele das vermissen lassen. Insofern nehme ich einmal den Begriff des Kollegen Weber auf und führe diese Idee auch ein bisschen weiter, da ich schon einmal am Mikrofon stehe: Wir haben die Möglichkeit, unsere regionale Politik weiter zu vertiefen.

Ich möchte ganz entschieden darum bitten, dass wir die Kontakte gerade zu Polen und Russland vor dem Hintergrund der Diskussion, die dieser Reformvertrag mit der polnischen Seite ja auch durchaus schwierig hat werden lassen, über die regionale Ebene vertiefen. Es geht um die nördlichen Woiwodschaften, mit denen es Parlamentspartnerschaften gibt. Es geht um Königsberg/Kaliningrad, es geht um Sankt Petersburg, und es geht auch - das möchte ich an dieser Stelle einwerfen - um Archangelsk, eine bisher in diesem Parlament noch nicht häufig angesprochene Region. Mit ihr unterhält Schleswig-Holstein vielfältige Beziehungen. Wenn wir von einer neuen Außenpolitik in Europa sprechen, an der sich die Regionen beteiligen sollen, dann sollte auch diese Region neu und stärker berücksichtigt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eine ganze Reihe von Möglichkeiten, durch die Formen der Subsidiaritätskontrolle auch als Land und als Bund europapolitisch mitzumischen. Das ist, glaube ich, eine Chance, die wir nutzen sollten. Das Frühwarnsystem, das definiert wurde, ist ja auch in diesem Landtag anhand zweier Probeläufe diskutiert worden. Ich will an dieser Stelle klar sagen: Noch sind die Fristen viel zu kurz. Wir werden kaum wirklich Einfluss nehmen können. Aber der Kern und daher gilt dem Landtagspräsidenten durchaus Dank, dass er zwei solcher Probeläufe hat durch

(Rolf Fischer)

führen lassen - beziehungsweise der dahinterstehende Gedanke ist, dass diese Strukturen natürlich unmittelbar mit politischem Einfluss und damit mit politischer Macht verbunden sind. Und nur, wenn es uns gelingt, diese Strukturen auch aufzunehmen und zu verwirklichen, können wir auch politisch Einfluss in Brüssel und Berlin auf europäische Fragen nehmen. Da sind wir, glaube ich, ganz gut aufgestellt. Das sollten wir vertiefen. Auch diese Chance bietet der Reformvertrag für die regionalen Parlamente. Wer diese Regeln beherrscht, kann mitmachen, und ich denke, wir haben da eine gute Ausgangsposition.

Ich will am Schluss noch einen Punkt ansprechen, der mir ganz besonders wichtig ist. Wir werden zukünftig noch mehr Wert auf die soziale Dimension Europas legen müssen. Es ist klar, dass die damalige Ablehnung des Verfassungsvertrags auch mit den Ängsten von Menschen zu tun hat - Angst vor Arbeitsplatzverlust, vor Dumpinglöhnen, vor europäischer Konkurrenz am Arbeitsplatz. Selbst, wenn diese Ängste zum großen Teil unbegründet sind, sind sie doch vorhanden und ernst zu nehmen.

Die soziale Dimension dieses Reformvertrags ist wichtig. Demonstrationsrecht, Recht auf Arbeitnehmervertretung, freie Gewerkschaften, Streikrecht sind für uns Selbstverständlichkeiten, für viele EUBürger jedoch durchaus nicht. Hier gilt es, auf Dauer gleiche Standards zu schaffen, damit es nicht zu sozialen Verwerfungen in diesem neuen Europa kommt, denn soziale Verwerfungen würden die Identität, von der ich vorhin gesprochen haben, sehr langsam wachsen lassen. Menschen identifizieren sich nur mit einem politischen System, wenn sie sehen, dass es sie ernst nimmt und ihre Forderungen zu erfüllen, ihre Probleme zu lösen vermag. Die Chance dafür ist durch den Reformvertrag größer geworden.

Ein gutes europäisches Jahr liegt hinter uns. Ein gutes europäisches Jahr liegt hoffentlich vor uns, denn in einem Jahr soll der Reformvertrag von allen Beteiligten ratifiziert sein und am 1. Januar 2009 in Kraft treten. Wir nehmen, denke ich, den Bericht des Ministers zur Kenntnis. Wir werden - das wäre mein Vorschlag - gerade die regionalen Aspekte im Europaausschuss immer wieder aufnehmen und diskutieren.

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir haben keine europäische Verfassung mit diesem Vertrag, aber an dem Ziel einer europäischen Verfassung sollten wir festhalten. Denn eines ist richtig: So wie eine Sprache eine Grammatik braucht, um weiterleben zu können, brauchen Werte eine Verfassung. In

diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei SPD, CDU, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Ich danke Herrn Abgeordneten Rolf Fischer und erteile für die FDP-Fraktion Herrn Abgeordneten Dr. Ekkehard Klug das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der in Lissabon von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geschlossene Reformvertrag ist eine Konsequenz aus den in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten Volksabstimmungen über den EU-Verfassungsvertragsentwurf. Vereinfacht gesagt: Man backt nun deutlich kleinere Brötchen, versucht aber, die Grundsubstanz der angestrebten Reformen zu retten.

Lange wurde gezetert, lange wurde mit Scheitern gedroht und immer noch versucht, ein wenig mehr für das eigene Land herauszuholen. Am Ende stand jedoch ein Ergebnis: der in Lissabon geschlossene Vertrag. Er bedeutet hoffentlich ein Ende der Stagnation, die wir in Europa in den letzten beiden Jahren erlebt haben. So haben die Staats- und Regierungschefs in diesen letzten beiden Jahren sehr viel Energie darauf verwandt, über die europäischen Institutionen zu verhandeln. Statt sich weiter über mathematische Formeln, Sitzverteilungen und die Schreibweise von Wörtern zu streiten, kann die Europäische Union nunmehr, nach Abschluss des Vertrags, wieder an politische Herausforderungen herangehen. Es ist ja unbestritten, dass es eine ganze Reihe von politischen Herausforderungen in den konkreten Politikfeldern gibt: Terrorismusbekämpfung, Kriminalitätsbekämpfung, wirtschaftliche Konkurrenz im globalen Wettbewerb.

Die sozialen Belange der Menschen in der Europäischen Union, die Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Forschungsraums mit dem Ziel, diese Europäische Union in Wissenschaft und Forschung international auf einem ersten Platz im Wettbewerb mit anderen Regionen, mit anderen Staaten zu halten beziehungsweise verlorenen Boden gutzumachen, schließlich die Themenbereiche Klimaschutz und Umweltpolitik - es gibt so viele Sachthemen, so viele auch dringende konkrete Aufgaben, dass es wichtig ist, dass man auf europäischer Ebene wieder den Kopf frei hat für die Bewältigung dieser konkreten Herausforderungen.

(Rolf Fischer)

Das Grundproblem der Europäischen Union in der jüngsten Zeit - das hat gerade die Entwicklung der letzten beiden Jahre gezeigt - ist, dass das, was man kurzgefasst als Vertiefung bezeichnet, also die Reform der inneren Strukturen, der Institutionen, nicht mit dem sich sehr schnell vollziehenden Prozess der Erweiterung der Europäischen Union um immer neue Mitglieder mitgehalten hat. In dieser großen EU ist es - das hat die jüngste Zeit nur allzu deutlich gemacht - unglaublich schwierig, gemeinsame Vereinbarungen in Sachen Strukturreformen zu treffen.

Der größte Minuspunkt, das größte Manko, ist aus meiner Sicht, dass die Grundrechtecharta - das ist schon angesprochen worden - nicht Teil des Vertragstextes geworden ist, sondern nur noch in einer Fußnote, in einem Verweis, auftaucht.

(Beifall bei der FDP und der Abgeordneten Anke Spoorendonk [SSW])

Großbritannien, aber auch Polen, haben sich Vorbehalte einräumen lassen, dass zum Beispiel dann in der Konsequenz vor britischen Gerichten nicht Klage unter Bezugnahme auf die EU-Grundrechtecharta geführt werden kann. Das ist aus meiner Sicht das, was man am meisten bedauern muss.