Meine Damen und Herren, Beschwörungsformeln und Jubelgesänge helfen in dieser Lage nicht weiter. Wir sollten den Bürgern offen sagen, der Verfassungsvertrag ist ein Kompromiss, er fixiert das zurzeit Erreichbare und bringt in manchen Punkten Fortschritte. Deshalb sollte er unsere Zustimmung erhalten.
Es gibt aber auch eine ganze Reihe von kritischen Punkten. Der Vertrag enthält vieles, was in einem Verfassungstext eigentlich nichts zu suchen hat, etwa Artikel III Ziffer 229, die dort verankerten Maßnahmen zur Förderung des Verbrauchs bestimmter Erzeugnisse. Meine Damen und Herren, nicht alles, was zurzeit politisch gewollt ist - wie etwa die Absatzförderung für französische Kolonialbananen - gehört neben der Grundrechtecharta und Aussagen zur institutionellen Ordnung der EU in ein solches europäisches Verfassungsdokument hinein.
Ein zweiter Punkt. Ein Wesensmerkmal jeder Demokratie besteht darin, dass die Bürger in regelmäßigen Abständen die da oben loswerden können, und zwar in unblutiger Weise, wenn sie mit den Leistungen der Obrigkeit nicht einverstanden sind. In Deutschland wird diese Entscheidung in ein paar Wochen wieder einmal, wenn auch in einem außergewöhnlichen Turnus, anstehen. Auf europäischer Ebene besteht aber insoweit weiterhin ein Demokratiedefizit. Umso ärgerlicher ist die mangelnde Bereitschaft zur Selbstbeschränkung in Brüssel, wo ständig 3.000 Arbeitsgruppen über neue Empfehlungen, Entwürfe und Richtlinien diskutieren.
Meine Damen und Herren, sicherlich eröffnet der Verfassungsvertrag mit seinen Bestimmungen zur Subsidiarität und zur Einrichtung eines Frühwarnsystems bei europäischen Gesetzgebungsvorhaben eine Chance, solchen Fehlentwicklungen in Zukunft besser gegensteuern zu können. Wir sind aber der Meinung, dass es noch besser gewesen wäre, hätte der Verfassungsvertrag auch Ansätze zum Abbau der europäischen Regelungsdichte und zur Rückverlagerung von Kompetenzen auf die nationale und regionale Ebene mit sich gebracht - im Sinne einer Selbstbeschränkung der EU auf Wesentliches statt ausufernder Zugriffe im Detail.
Zum Schluss noch ein konkretes Beispiel: Ob zum Beispiel geschossenes Wild unverzüglich in Kühltruhen zu verfrachten ist, darüber besteht vielleicht in Sizilien in anderer Form ein Regelungsbedarf als zum Beispiel in weiten Teilen des Jahres in nordeuropäi
Die Akzeptanz, die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger, wird auf Dauer nur dann weiter gewährleistet sein, Kollege Fischer, wenn man in dieser Hinsicht eine nachhaltige Reform der Europapolitik durchführt. Das ist jedenfalls unsere Überzeugung. Das wird die Aufgabe sein, ganz gleich wie die Referenden, die demnächst anstehen, ausgehen. Wenn sie - was wir hoffen - positiv sind, dann bleibt diese Aufgabe nach wie vor zu lösen. Die EU-Verfassung ist hierzu noch kein hinreichender Schritt. Aber auch, wenn es schief geht, ist eine solche Reform, eine solche grundlegende Reform der Ausrichtung, der Stoßrichtung der EU-Politik die einzige Möglichkeit, die Akzeptanz für die Europapolitik bei den Bürgern der Europäischen Union in Zukunft wieder deutlich zu steigern.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und der Präsidentin für ihre fast grenzenlose Geduld: minus eine Minute und 30 Sekunden.
Ich erteile für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Fraktionsvorsitzenden, Frau Abgeordneter Anne Lütkes, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die erste gesamteuropäische Verfassung stärkt das demokratische und bürgerrechtliche Fundament der Europäischen Union. Sie wird dazu beitragen, sowohl Identifikation nach innen zu schaffen als auch die Rolle Europas in der Welt zu stärken. Voraussetzung für eine stärkere Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit dem Projekt Europa ist ein nachvollziehbares Grundlagendokument. Dieses muss die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten in der EU stärken und hier markiert die Verfassung zwei erhebliche Fortschritte. Zum Ersten wird die bislang unverbindliche Grundrechtecharta zu einem Grundrechtekatalog mit Verfassungsrang. Zum Zweiten bewirkt die Auf
wertung des Europäischen Parlaments als gleichberechtigte Gesetzgebungskammer eine verbesserte demokratische Kontrolle.
Allerdings wurde ein wesentliches Reformelement nicht verwirklicht. Anstelle einer echten Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament bleibt es zunächst beim Letztentscheidungsrecht der Staats- und Regierungschefs.
Umso bedauerlicher ist es auch aus unserer Sicht, dass es in Deutschland kein Referendum gegeben hat. Wenn man an die Menschen in Europa die Erwartung richtet, sich mit Europa zu identifizieren, es als das ihre zu begreifen, dann sollte es selbstverständlich sein, dass sie ihr Votum dazu abgeben können und dürfen. Das hat aber in Deutschland nicht sein sollen.
- Ich war eine von denen, die das sehr frühzeitig gefordert haben, auch in diesem hohen Haus. Noch vor 15 Monaten hat es hierzu keine umfassende Zustimmung gegeben. Allerdings wäre es auch eine gesamtverfassungsrechtliche Debatte für Deutschland gewesen, die nicht geführt werden sollte.
Für die Zukunft gilt es, das undurchschaubare Gestrüpp der Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten zu verbessern und zu lichten. Die Verfassung hat hier zwar etwas beigetragen, aber es wurde nicht vollständig genug gelichtet. Es bleibt die Aufgabe, eine trennscharfe Neuordnung zu finden.
Und wir haben in den letzen Jahren europäische Staatsgewalten geschaffen - Legislative, Exekutive und Judikative -, aber nach wie vor fehlt das demokratische Element der Öffentlichkeit. Dies wird eine der wichtigsten Aufgabe der Europapolitik in der nächsten Zeit nach dem Erlass der Verfassung sein: eine gesamteuropäische, eine demokratische Auseinandersetzung darüber, wie die Entwicklung Europas sein soll, wo sich Europa hin entwickeln kann und nach ihrer Werteordnung soll. Damit wird die Diskussion über die Aufnahme von neuen Staaten, wie zum Beispiel die der Türkei, versachlicht und dem Populismus entzogen.
Meine Damen und Herren, wir haben heute zunächst die alte Drucksache 15/84 noch einmal unter unserem
Namen neu vorgelegt, das ist die ursprüngliche Drucksache von der großen Koalition. Wir haben dies getan, weil sich in der neuen Vorlage ausdrücklich zum Gottesbezug geäußert und das Fehlen des Gottesbezuges in der Verfassung ausdrücklich bedauert wird. Das ist ein Satz, den die grüne Fraktion in ihrer Gesamtheit nicht mittragen kann. Da wir aber ein Interesse daran haben, hier gemeinsam keine Jubelerklärung - meine Herren von der FDP - abzugeben, aber wenige Tage vor dieser entscheidenden Abstimmung zur Europäischen Verfassung - beispielsweise in Frankreich - eine gemeinsame Kompromissformulierung auch nicht verhindern, sondern eine möglichst breite Mehrheit erreichen wollen, haben wir wörtlich den alten Beschluss als Entwurf neu vorgelegt.
Der Landtag hat die Frage des Gottesbezugs in der letzten Legislaturperiode bereits schon einmal diskutiert. Die Beschlussmehrheit ging durch alle politischen Lager. Nun soll erneut darüber befasst werden.
Europa ist zum großen Teil christlich geprägt. Viele Leute bezeichnen sich explizit als Christen, sind Mitglied einer der Kirchen. Viele leben eine christlich geprägte eigene Religiosität und viele lehnen nicht nur Kirche und Christentum, sondern jede monotheistische Gottesreligion ab. Daneben gibt es eine alte jüdische Tradition und eine alte, aber auch eine neue muslimische. Darüber hinaus haben wir Bevölkerungsgruppen, beispielsweise in Großbritannien, die einen ähnlichen Migrationshintergrund und eine andere Religion haben. Diese Multikulturalität wird von den Europäerinnen und Europäern nicht als zu überwindender Makel, sondern als Wesen der Europäischen Union gesehen. Das Motto „Einheit in Vielfalt“ meint genau diese kulturelle Unterschiedlichkeit, aber auch Gemeinsamkeit.
Vor diesem Hintergrund empfinden wir es als schwierig, einen Gottesbezug in der Verfassung zu formulieren. Das würde auch dem Ziel der Integration hinderlich sein. Der Bezug auf die humanistische Tradition wird der Tatsache gerecht, dass die Europäerinnen und Europäer ihre Werte aus unterschiedlichen Quellen herleiten. Insofern hätte der Ursprungsantrag der großen Koalition zu einem Konsens führen können. Wir bedauern, dass durch die spätere Aufnahme des Gottesbezuges dieser Konsens verhindert worden ist.
Nun wollen wir heute - wenn es um die Einheit Europas geht - dem hohen Haus eine Abstimmung über drei Anträge, die in der Tendenz dasselbe möchten, nicht zumuten. Wir ziehen deshalb unseren eigenen
Antrag zurück und werden uns - aus den von Ihnen, Herr Dr. Klug, eben geschilderten grundsätzlichen Erwägungen, insbesondere zur Volksabstimmung über die Verfassung - dem Antrag Drucksache 16/96 anschließen. Wir ziehen also unseren Antrag zurück und werden den Antrag Drucksache 16/96 unterstützen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der Osterweiterung ist der Beschluss des Europäischen Rates über die Europäische Verfassung ein weiterer historischer Schritt der Europäischen Union. Die Notwendigkeit einer Neugestaltung der Rahmenbedingungen ergibt sich allein aus der Tatsache, dass ein Europa von 25 oder zukünftig gar 27 Mitgliedstaaten mit den bisherigen Spielregeln der EU nach dem so genannten Nizza-Vertrag im Grunde unregierbar ist. Gleichzeitig ist ein Grundrechtekatalog in die Verfassung integriert worden, wobei wir - in Klammern bemerkt - weiterhin die Aufnahme eines Gottesbezuges in die Verfassung ablehnen.
Zwar fehlt aus Sicht des SSW ein konkreter Passus über die Rechte der vielen nationalen Minderheiten in Europa, aber immerhin wurde in der Charta der Grundrechte - ich zitiere - die „Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas“ und ein Diskriminierungsverbot wegen „der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit“ aufgenommen.
Für Schleswig-Holstein als Bundesland war es wichtig, dass die Rolle der Regionen Europas mit der Annahme der Verfassung gestärkt wird. Dies ist mit einer Verbesserung der Kompetenzordnung, dem Frühwarnsystem bei der Subsidiaritätskontrolle und den Klagerechten erreicht worden. Gleichwohl vermissen wir, dass kein Mechanismus zur Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten und Regionen vorgesehen ist. Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt.
Um die konkrete Ausgestaltung und um die Inhalte der zukünftigen EU müssen die verschiedenen Regierungen, Parteien, Interessengruppen und die Bevölkerungen Europas weiterhin miteinander ringen.
Es gibt einen erheblichen Klärungsbedarf, welches Europa man dann nun will. Will man ein Europa des ökonomischen Liberalismus oder will man ein soziales Europa, wo auch der Sozialstaatsgedanke weiterhin eine entscheidende Rolle spielt? Gerade aus der ungeklärten Frage, wohin die Reise der EU in Zukunft gehen soll, speist sich ja das Unbehagen vieler Bürgerinnen und Bürger, die zum Beispiel ihre sozialen Errungenschaften in Gefahr sehen. Ob es stimmt oder nicht, ist eine andere Frage, aber man muss die Ängste der Menschen ernst nehmen.
Dabei ist es aus Sicht des SSW ein entscheidender Fehler, dass die Mitsprache der Bevölkerung bei wichtigen EU-Vertragsänderungen in der Bundesrepublik außer Acht gelassen wird. Deshalb hat der SSW von Anfang an einen Volksentscheid über die europäische Verfassung gefordert, denn die wichtigen Fragen der Europapolitik werden in Deutschland von jeher fernab der Bevölkerung entschieden.
Bei der Forderung nach einem Volksentscheid geht es uns also nicht darum, die Verfassung in Bausch und Bogen abzulehnen, sondern um die demokratische Mitsprache der Bevölkerung bei einem so weit reichenden Projekt. Ein Volksentscheid hätte dem Verfassungsvertrag ein größeres Maß an politischer Legitimation verliehen.
Natürlich ist eine solche Volksabstimmung ein Risiko für die Regierungen, die diesen Vertrag unterschrieben haben. Das zeigt das Beispiel Frankreich, wo man leidenschaftlich über das Für und Wider der Europäischen Verfassung diskutiert und wo ein großer Teil der Bevölkerung dem Vertragswerk auch heute noch ablehnend gegenübersteht. Die gleiche Skepsis gibt es in großen Teilen der Bevölkerung von Ländern wie Holland, Dänemark oder Großbritannien, wo auch Volksabstimmungen durchgeführt werden.