Protocol of the Session on May 25, 2005

Natürlich ist eine solche Volksabstimmung ein Risiko für die Regierungen, die diesen Vertrag unterschrieben haben. Das zeigt das Beispiel Frankreich, wo man leidenschaftlich über das Für und Wider der Europäischen Verfassung diskutiert und wo ein großer Teil der Bevölkerung dem Vertragswerk auch heute noch ablehnend gegenübersteht. Die gleiche Skepsis gibt es in großen Teilen der Bevölkerung von Ländern wie Holland, Dänemark oder Großbritannien, wo auch Volksabstimmungen durchgeführt werden.

Aber nur, wenn man die EU-Verfassung offensiv mit den Bürgern diskutiert, kann man sie auch überzeugen.

(Rolf Fischer [SPD]: Wer hindert uns dar- an?)

In Frankreich hat sogar jeder Haushalt den Vertragstext der Verfassung per Post zugeschickt bekommen. Es ist zwar nicht unerheblich, ob die Bürgerinnen und Bürger Frankreichs nun Ja oder Nein zu dieser Verfassung sagen, aber aus unserer Sicht ist es noch wichtiger, dass es eine demokratische Auseinandersetzung über die Zukunft der Europäischen Union gibt. Nichts ist schlimmer als ein allgemeines Desinteresse.

Eine Auseinandersetzung über Ziele und Zukunft der EU gibt es bei uns so gut wie gar nicht. Die Bürgerinnen und Bürger müssen aber mitreden können. Ansonsten bleibt Europa für sie ein Projekt der Mächtigen und der politischen Eliten und nicht ein Projekt der Völker.

Ich fasse zusammen: Um in der Frage über die Zukunft der Europäischen Union überhaupt weiterzukommen, müssen wir auch unsere Debatten über Europa anders gestalten. Allmählich ist es ein Selbstgänger, dass wir mit der EU ein Projekt des Friedens, der Freiheit und der Demokratie haben. Das ist mittlerweile kein Diskussionspunkt mehr. Das heißt: Die Zeit der feierlichen Reden sollte eigentlich vorbei sein. Es gilt, die Ärmel hochzukrempeln; denn es gibt noch sehr viel zu tun, wenn wir uns wirklich ernsthaft mit der Frage auseinander setzen, wohin die Reise der Europäischen Union weiterhin gehen soll.

Deshalb bitte ich darum, dass wir im Europaausschuss künftig auch wirklich diese Diskussion führen.

(Beifall bei SSW und FDP)

Ich danke der Abgeordneten Anke Spoorendonk.

(Wortmeldung des Abgeordneten Dr. Ekke- hard Klug [FDP])

- Wir sollten zunächst der Regierung Gelegenheit geben, sich zu äußern. Ich erteile dem Europaminister Uwe Döring das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben gerade erlebt, dass ein gemeinsamer Antrag gestellt wird. Es ist ein interessanter Tag heute. Irgendjemand hat heute Morgen gesagt: Es wächst zusammen, was zusammengehört. Offensichtlich formiert sich auch die Opposition. Dass das gerade beim Thema Europa der Fall ist, ist das eine.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der SPD)

(Minister Uwe Döring)

Ich möchte kurz auf das Thema zurückkommen und beide Aspekte ansprechen, die in den bisherigen Redebeiträgen genannt worden sind. Einmal war dies der Jubel. Ich denke, der Jubel gehört auch dazu; denn es ist ein gewaltiger Schritt, den wir hier vorangehen. Anzusprechen ist aber auch die Kritik, die teilweise zu Recht geäußert wurde.

Aber zunächst zum Positiven. Wer hätte noch vor wenigen Jahren gedacht, dass wir tatsächlich einmal an einen Punkt kommen, an dem wir über eine gemeinsame Europäische Verfassung abstimmen. - In Wirklichkeit ist es nur ein Verfassungsvertrag; deswegen ist er auch so dick. - Dies ist ein gewaltiger Fortschritt, den sich jene, die Anfang der 50er-Jahre die europäische Entwicklung in Gang gebracht haben, so haben gar nicht vorstellen können.

Allerdings muss man dazu sagen: Es gibt das Sprichwort: Erfolg ist eine Folgeerscheinung und darf niemals zum Ziel allein werden. Ich denke, dieses Zitat passt hier sehr gut, denn die Ratifizierung der Europäischen Verfassung spiegelt genau dies wider. Wir haben es an dieser Stelle geschafft, wir sind bis hierher gekommen. Dies war eine Folge vieler positiver Entwicklungen. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Sicherung von Frieden, wirtschaftlichem Nutzen, auch die Vermehrung der Durchschlagskraft gemeinsamer europäischer Interessen. Aber, meine Damen und Herren, wir haben das Ziel beileibe noch nicht erreicht. Das Ziel heißt: Wir müssen tatsächlich die Menschen in Europa von Europa überzeugen. Denn machen wir uns nichts vor: Auch die Debatte, die wir heute führen, ist - um es einmal klar auszudrücken - eine Debatte der politischen Kaste, sie ist keine Debatte, die in der Bevölkerung ernsthaft geführt wird.

(Vereinzelter Beifall)

So ist ja auch die Entwicklung gewesen. Europa war eine Angelegenheit von Idealisten, die in der Folge des Zweiten Weltkrieges bewegt waren. Danach kam eine Phase, zu der man sagen kann: Wir haben uns um die wirtschaftliche Entwicklung gekümmert, es gab den Aufschwung. Dann kam eine Phase, in der Europapolitik sozusagen etwas für einige wenige gewesen ist, die sich damit identifizierten, beziehungsweise, es war Teil eines politischen Kabaretts, zu dem entsprechende Beiträge geliefert wurden, wie sie auch der Kollege Klug geliefert hat, indem man auf bestimmte Maßnahmen hinweis. Herr Klug, der Reiz ist groß. Das kann ich gut nachvollziehen. Jeder hat ein Beispiel in petto. Wir sind dann in den 90erJahren angekommen, in denen es relativ irrelevant war. Wir hatten andere Sorgen.

Jetzt allerdings, meine Damen und Herren, befinden wir uns in einer Situation, die man, etwas flapsig ausgedrückt, etwa so beschreiben könnte: Europa ist aus der verkehrsberuhigten Zone der Studienräte auf der Ebene der Fliesenleger angekommen. Das heißt ganz konkret: Die Menschen empfinden einen Eingriff in das tägliche Leben.

Wir werden in zwei Tagen noch über die Entsenderichtlinie diskutieren und wir werden über die Antidiskriminierungsrichtlinie diskutieren. Wenn Sie heute in einer Zeitung ein Foto von rumänischen Arbeitern sehen, die sich freuen, dass sie demnächst zu Europa gehören, dann werden Sie nicht erleben, dass die allgemeine Meinung lautet: Schön, dass diese Menschen nach Europa kommen, dass sie in Frieden und Freiheit kommen. Vielmehr wird die Frage gestellt werden: Kostet es meinen Arbeitsplatz? Das heißt, wir sind in der Wirklichkeit angekommen. Deswegen muss meiner Meinung nach auch bei einer solchen Verfassungsdebatte Europa aus Sonntagsreden heraus und in die allgemeine Politik hineingenommen werden.

(Beifall bei SPD, CDU und SSW)

Herr Klug, ich komme jetzt zu dem Thema, das Sie angesprochen haben, zum Referendum. Es mag sein, dass ein Referendum so etwas unterstützen würde. Nur, ich muss Ihnen auch sagen: Wir hätten mindestens dieselben Probleme, die Frankreich hat. Die Zustimmung der Bevölkerung wäre beileibe nicht sicher. Wir würden wahrscheinlich eine sehr geringe Beteiligung haben und wie es tatsächlich ausginge, weiß keiner von uns. Deswegen sage ich auch ganz deutlich: Wir sollten mit all diesen Beispielen, die - wie gesagt - jeder von uns kennt, vorsichtig sein. Sie kennt jeder von uns. Meistens ist die Regulierungswut Brüssels eine Regulierungswut, die wir selbst hervorgerufen haben.

(Beifall des Abgeordneten Lars Harms [SSW])

Auf der einen Seite - auch hierauf werden wir am Freitag zurückkommen - loben wir in Sonntagsreden Europa; auf der anderen Seite wirken wir im Alltag an europäischen Regelungen mit. Wenn es schief gegangen ist, war es keiner. Diese Doppelstrategie der Europapolitik führt zu Europaverdrossenheit. Diese können wir uns überhaupt nicht mehr leisten.

(Vereinzelter Beifall bei SPD und CDU)

Ich hoffe, dass die Diskussionen, die wir jetzt führen, dazu beitragen, mehr Verständnis in der Bevölkerung zu wecken. Ich hoffe, dass wir etwas klarer und ehrlicher mit Europa umgehen. Denn wir sind jetzt an

(Minister Uwe Döring)

einem ganz gefährlichen Punkt: Wir sind an der sozialen Dimension Europas angekommen. Und, meine Damen und Herren, wenn das schief geht, dann geht womöglich das europäische Projekt schief. Dann werden Rechtsradikale und andere Elemente Aufschwung bekommen, die wir alle miteinander nicht wollen.

(Beifall bei SPD, CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir hoffen, dass die Ratifizierung und das, was wir in den Parlamenten an Debatten geleistet haben, dazu beiträgt, dass wir eine gute Grundlage haben, und ich hoffe, dass wir alle miteinander davon ausgehen und uns wünschen, dass Europa in gute Verfassung kommt.

(Beifall bei SPD, CDU und SSW)

Ich erteile jetzt nach § 56 Abs. 4 unserer Geschäftsordnung Herrn Abgeordneten Claus Ehlers das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister Döring, herzlichen Dank für Ihren Beitrag, der viele Stichworte enthielt, die uns im täglichen Leben berühren und uns zum Teil auch Angst machen - muss ich ganz ehrlich sagen. Denn die Akzeptanz für Europa ist in der Politik eine ganz andere als in der Bevölkerung. Wie Europa heute in unser tägliches Leben, in unser Wirtschaftsleben eingreift, ist zum Teil unerträglich geworden. Ich nenne einige Beispiele.

Es gibt eine Milchhygieneverordnung. Da schreibt Europa den Meiereien vor, wo die Gummistiefel der Arbeiter zu hängen haben, dass man nicht von der Dienstwohnung in den Betrieb gehen darf, dass die Fliesen nicht eckig sein dürfen, sondern rund sein müssen.

Es gibt eine Fleischhygieneverordnung. Zum Hintergrund: Die Fleischhygieneverordnung ist auf Druck der großen Fleischmultis in Europa zustande gekommen, die genau wussten, dass die kleinen und mittelständischen Betriebe die Bedingungen nicht erfüllen können. Das führt zu einer Europaverdrossenheit.

Wenn wir jetzt die Erweiterung in Europa sehen, müssen wir uns gemeinsam die Frage stellen, ob wir uns damit nicht überheben. Ist das noch ein Wirtschaftsraum? Passen wir kulturell noch zusammen? Ist es finanzierbar, meine sehr geehrten Damen und Herren?

Als Landwirt sage ich Ihnen: Wir hängen am Tropf der Europäischen Gemeinschaft, obwohl wir Bauern es im Grunde nicht wollen. Wenn man die bürokratischen Auswüchse sieht - die sind auf den Höfen unerträglich geworden.

(Beifall bei CDU und FDP)

Es liegen zwei weitere Wortmeldungen nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung vor. Zunächst Herr Abgeordneter Fischer!

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie es mich kurz machen.

Erstens. Ich habe, insbesondere von den Oppositionsfraktionen, viel darüber gehört, was für Europa alles zu tun sei, wie schwierig das alles sei und wo wir stünden. Ich kann Ihnen nur sagen: Machen Sie es, machen Sie Europapolitik, gehen Sie zu den Menschen, sprechen Sie mit den Menschen! Wir brauchen kein Referendum, um die Leute zu informieren. Das können wir jede Woche am Infostand machen. Ein solches Engagement, wie es hier immer eingefordert wird, sollten wir auch nach außen zeigen. All die Kritik, die Sie geäußert haben, richtet sich im Kern an uns selbst. Gehen Sie raus, schreiben Sie Ihre Ortsvereine an, machen Sie Infostände, gehen Sie zu den Menschen hin, sprechen Sie mit Ihnen über die Verfassung! Dafür brauchen Sie überhaupt kein Referendum. Das können Sie schon jetzt machen.

Ich will es einmal als Versprechen werten, dass all die Oppositionsfraktionen und auch die Kollegen aus der Koalition sagen: Das machen wir von nun an; wir sind offensiver in unseren Parteien und Wahlkreisen, um dieses Thema nach vorn zu bringen. Dann hätte die Diskussion hier schon einen guten Schritt nach vorn gebracht. Das fände ich eine gute Sache.

Zweitens. Das wollte ich vorhin nicht so deutlich sagen, weil mir ohnehin immer eine Tendenz zur Harmonisierung unterstellt wird. Man kann mit der Forderung nach einem Volksentscheid natürlich populistisch umgehen. In jeder Veranstaltung zu sagen: „Wir finden es gut, wenn die Bürger mitreden, weil die Identifikation höher ist“, diese Auffassung kenne ich. Ich begrüße auch die Möglichkeiten, die wir mit den plebiszitären Elementen in unserer Landesverfassung haben. Herr Dr. Klug, Sie wissen aber ganz genau, dass das Grundgesetz das im Augenblick nicht hergibt. Das steht nicht darin. Das ist nicht möglich. Mit einer Zweidrittelmehrheit kann man es hinein

(Rolf Fischer)

schreiben, wenn man es will. Dann erwarte ich Ihre Initiativen.

(Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Die FDP- Bundestagsfraktion hat eine Initiative gestar- tet!)

- Das weiß ich ja. Sie haben aber keine Mehrheit dafür bekommen. Also besteht diese Möglichkeit nicht.

Sie wissen auch, dass es für die Idee Europa und Europäische Verfassung eher kontraproduktiv ist, wenn man das in Form eines möglicherweise nicht verpflichtenden Referendums, eines bundesweiten Meinungsbildes - oder wie immer Sie es nennen wollen - macht. Das würde nicht nur dem Instrument Volksentscheid schaden, sondern auch der Idee von Europa.

(Beifall der Abgeordneten Holger Astrup [SPD] und Dr. Henning Höppner [SPD])

Es mag zwar gut sein, den Leuten das in Veranstaltungen zu sagen, die dann sagen: Das finden wir prima, wir wollen alle mitreden. Aber die Konsequenzen haben Sie dabei noch lange nicht bedacht: Welches Quorum, welche Verbindlichkeit, wie soll das aussehen? Ich verweise auf die Diskussion, die wir zu diesen Fragen bei der Ergänzung der Landesverfassung hatten. So einfach ist das nämlich nicht.