Protocol of the Session on July 12, 2000

Zweitens. Bei Forschung, Entwicklung und Handel in den IT- und Multimediabranchen ist die Ostseeregion

(Ministerpräsidentin Heide Simonis)

in Europa führend. Hier müssen wir ganz schnell herankommen. Die gestrige Entscheidung ist ein erster riesiger Schritt, um wieder in die Reihe derjenigen zu gehören, die vorn mit dabei sind, und nicht zu denen, die hinterherlaufen und schauen, was die anderen machen. Diese Potenziale müssen gebündelt werden. Wir wollen eine Initiative „Wissensgesellschaft Ostsee“ gründen. Dazu werden wir der Bundesregierung konkrete Vorschläge machen.

Schließlich kann die Ostseezusammenarbeit einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die Beziehungen zwischen der EU und Russland zu verbessern - übrigens ein Wunsch aller Anrainerstaaten, der insbesondere unter der EU-Präsidentschaft der Finnen vorgetragen worden ist -, und zwar durch das Prinzip „Stabilität durch Kooperation“. Wir haben uns bereit erklärt mitzumachen. Ich habe im Bundesrat angeregt, der nördlichen Dimension der EU einen mit der Kommission und Russland abgestimmten Aktionsplan für Kaliningrad zur Seite zu stellen; denn wenn es dort nicht klappt, dann klappt es nirgendwo. Hier sind wir als Erstes gefragt.

(Beifall bei der SPD)

Wir werden im September in Kaliningrad gemeinsam mit dem Ostseerat und der Organisation der Subregionen eine Ostseekonferenz durchführen, die Beiträge für diesen Aktionsplan erarbeiten wird, die wir Ihnen dann gern vorstellen.

Es ist also klar, dass in diesem einen Jahr des deutschen Vorsitzes nicht alles gelöst werden kann. Aber vieles kann angeschoben werden und muss dann später vorangetrieben werden. Jetzt müssen jedenfalls die Weichen gestellt werden. Es gilt, die Sicherheitszusammenarbeit im Ostseeraum um Dimensionen zu erweitern, die sich nicht nur in U-Booten oder Waffen niederschlagen, sondern insbesondere im friedlichen Austausch von Wissen, Können und gemeinsamen Vorstellungen.

(Beifall bei der SPD)

Ich glaube, das Mare Balticum ist ein Konzentrationspunkt in Europa, in dem sich gemeinsame Ideale und Ideen, gemeinsame Geschichte und gemeinsame Erfahrungen bündeln. Das sollte sich in Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft wiederfinden. Daran sollten wir alle arbeiten. Unser Land ist als Pionier auf einem Gebiet vorangegangen, bei dem alle gedacht haben: Die Schleswig-Holsteiner haben ein bisschen viel Regen auf den Kopf gekriegt. - Das sollten wir auf jeden Fall beiseite räumen und voller Stolz sagen: Wir waren die Ersten und insoweit die Besten. Wir werden die Besten bleiben.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bevor wir zu den Anträgen kommen, möchte ich Gelegenheit nehmen, Besucher auf der Tribüne zu begrüßen, und zwar erstens Angehörige der Nachschubstaffel, Aufklärungsgeschwader 51 „Immelmann“, Kropp, zweitens Schülerinnen und Schüler der Hebbelschule Kiel sowie drittens Stadtführerinnen und Stadtführer der Stadt Kiel. Herzlich willkommen!

(Beifall)

Wir kommen jetzt zu den Anträgen. Wird das Wort zur Begründung der Anträge gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann treten wir in die Aussprache ein.

Für die SPD hat die Frau Abgeordnete Gisela Böhrk das Wort.

Herr Präsident! Meine Herren und Damen! SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben den Vorsitz der Bundesrepublik Deutschland im Ostseerat zum Anlass genommen, die Ostseekooperation sowie unsere Erwartungen und Perspektiven an den Vorsitz im Landtag zum Thema zu machen und zu diskutieren. Die Ostseekooperation ist von Beginn an eine Erfolgsgeschichte. Sie ist ein Beispiel dafür, wie aus einer Vision durch praktische Politik eine neue Zukunft entsteht.

Björn Engholm hat die Idee einer gemeinsamen Ostseeregion in den Achtzigerjahren entwickelt und Schleswig-Holstein geostrategisch positioniert als wie es damals hieß - Süden des Nordens, als Tor zu einer neuen wirtschaftlich und kulturell prosperierenden Region mit unendlichen Wachstumspotenzialen.

Heide Simonis und Gerd Walter sowie das gesamte Kabinett haben mit Unterstützung aller Fraktionen dieses Hauses Schritt für Schritt Konzepte und Kooperationsprojekte in Gang gesetzt. Dies ist eindrucksvoll in dem exzellenten Ostseebericht und dem Bericht der Ministerpräsidentin dargelegt.

Die verschiedensten Verbände und Institutionen einschließlich der Hochschulen des Landes haben Kooperationsnetzwerke geknüpft und damit Kontakte und Unterstützungsprojekte vorangetrieben.

Den so genannten NGOs verdankt SchleswigHolstein wesentlich seinen Ruf als Motor der Ostseekooperation. Last, not least hat das Parlament über die Ostseeparlamentarierkonferenz begonnen, Regierungshandeln zu begleiten und aktiv mitzuge

(Gisela Böhrk)

stalten. Ostseekooperation ist ein großes gemeinsames Anliegen, ein gemeinsames Leitprojekt in unserem Land.

(Beifall bei der SPD)

Aber es gibt auch Defizite, weniger bei den Konzepten als bei der Durchsetzung beschlossener Konzepte. Bei der A 20 zum Beispiel gibt es derzeit keine Entscheidung über die Weiterführung Richtung Osten. Polen scheint eher geneigt, der Südanbindung nach Berlin den Vorrang zu geben.

Bei der Umsetzung der Vereinbarungen zur Grenzabfertigung hakt es. Den verschiedenen Aktivitäten mangelt es nicht selten an Koordination. Prioritätensetzungen sind schwer auszumachen. Das kleine Sekretariat des Ostseerates in Stockholm ist mit den ihm übertragenen Aufgaben häufig überfordert und nicht genügend mit den NGOs verzahnt, die die Kooperation wesentlich tragen. Die Versammlung dieser Institutionen unter einem Dach würde die Arbeit effektivieren.

Es gibt aber auch strategische Mängel. In Brüssel fühlt sich kein Kommissar für die Ostseeregion zuständig. Die Vertretung der Ostseeinteressen geschieht eher individuell über die Einzelstaaten als abgestimmt mit dem Gewicht der gesamten Region. Es ist derzeit noch nicht klar, ob die Ostseeanrainerstaaten, die skandinavischen wie die baltischen, aber auch die Bundesregierung Ostseekooperation wirklich als strategische Orientierung im größer werdenden Europa verstehen, also als region building, als Entwicklung eines Raumes, einer Großregion, die Einflussfaktor im wachsenden Europa ist, ob sie verstehen, dass Ostseekooperation mehr ist als historische Wiedergutmachung oder der Aufbau bi- oder multilateraler Wirtschaftsbeziehungen, dass sie nicht ausschließlich historische Reminiszenz ist, jedenfalls da nicht verharren darf. Vielmehr geht es um den Aufbau einer konkurrenzstarken, wettbewerbsfähigen Großregion, deren Stimme im größer werdenden Europa gehört wird.

In den nächsten zehn Jahren fallen die Entscheidungen über die Neuverteilung der Waren- und Handelsströme. Die Ostseeregion kann, gestützt auf ein dichtes Netz von Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten und ein relativ hohes Bildungsniveau seiner Bürgerinnen und Bürger eine Spitzenregion in der europäischen Informationsgesellschaft werden, so wie es die Frau Ministerpräsidentin hier dargelegt hat. Die einzelnen Teilstaaten werden dies jeder für sich nur sehr schwer schaffen können. Sie werden in der wachsenden Konkurrenz der Märkte und im Kampf um europäische Chancen nur so stark sein können, wie sie zu gemeinsamen Aktionen und zu einer gemeinsamen Stimme fähig sind.

Die Ostseekooperation ist auch nicht mit der Osterweiterung erledigt. Im Gegenteil: Je größer die Konkurrenz wird, je mehr Märkte entstehen, desto bedeutender wird die Ostseekooperation, wenn sich die Ostseeanrainer als eine gemeinsame Region in Gesamteuropa verstehen.

Herr Präsident, die SPD-Fraktion hat ausgemacht, dass wir die Redezeit nicht genau halbieren, sodass ich noch um ein wenig Zeit bitte. Der Ostseerat kann zum weiteren Voranschreiten eine politische Führungsrolle übernehmen. Der Bundesregierung kommt dabei bei der Führung des Ostseerates eine Schlüsselfunktion zu. Man kann zum ersten Mal wirklich und berechtigt den Eindruck haben, dass eine Bundesregierung die strategische Bedeutung des Ostseeraums verstanden hat. Für mich ist der Testfall in der Frage, ob region building von der Bundesregierung verstanden und aufgegriffen wird, die Brücke über den Fehmarnbelt. Sie ist ein Schlüsselprojekt der Ostseekooperation, ein nationales Projekt und nicht irgendeine Brücke, die lokale Beschäftigung verdrängen kann. Sie ist ein Symbol für den Aufbruch, für das Annehmen der Herausforderungen und Chancen, die für die Ostseeanrainer durch das größere Europa entstehen.

(Beifall bei SPD, CDU, F.D.P. und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Schleswig-Holstein kann sich glücklich schätzen, dass die Landesregierung und mit ihr alle Fraktionen dieses Landtags dieses Zukunftsprojekt stützen.

Wo befindet sich Schleswig-Holstein nun im Wettbewerb innerhalb der Ostseeregion? Schleswig-Holstein hat damit begonnen, seine Position in der Ostseeregion zu stärken. Unsere Einbindung in das südliche Skandinavien und die konkreten Kontakte, unsere wirtschaftliche und technologiepolitische Ausrichtung auf IT-Technologien und die Informationsgesellschaft schaffen die Voraussetzungen dafür, an der boomenden Øresund-Region mitzuwirken und teilzuhaben. Es macht Sinn, die Achse nach Berlin und Hamburg fortzuführen und Sønderjylland sowie das südliche Norwegen einzubeziehen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Ich will auch Risiken benennen: Die Ostseepolitik ist ein ganz konkreter politischer Ansatz zur Einbeziehung Russlands innerhalb der regionalen Kooperationsnetze. Insbesondere der Aktionsplan zur nördlichen Dimension eröffnet Chancen der praktischen Erprobung und Einübung der Zusammenarbeit Russ

(Gisela Böhrk)

lands - beziehungsweise einzelner Regionen - mit der EU.

Es ist derzeit jedoch nicht ausgemacht, wie die EU ihr Verhältnis zu Russland praktisch gestalten will. Die zweifellos unumgänglichen und notwendigen Reformen der europäischen Institutionen und Verfahrensweisen können zu einer Dynamik im Kern Europas führen, mit der die Beitrittskandidaten nicht Schritt halten können. Die Osterweiterung darf aber nicht jahrzehntelang aufgeschoben werden, weil die Entwicklungsrückstände nicht kleiner, sondern größer werden. Eine Nachrangigkeit der Osterweiterung hinter der Reform der Institutionen würde nach meiner Auffassung neue Trennlinien aufbauen, die sich in sozialen Spannungen und wirtschaftlichen Problemen insbesondere an der deutschen beziehungsweise der europäischen Ostgrenze - niederschlagen könnten.

Reformprozess und Osterweiterung müssen Zug um Zug verwirklicht werden, damit nicht unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten von Kerneuropa und den Beitrittskandidaten deren Kandidatenstatus bis zum Nimmerleinstag verlängert.

Ich halte es für die Bundesrepublik Deutschland für entscheidend, dass sie in der Europäischen Union gegen die traditionelle Westorientierung - die Interessen der osteuropäischen Staaten dezidiert vertritt. Das gilt auch - und gerade - bei der Entscheidung über die Schrittfolge im Reformprozess der EU und das ist von erheblicher Bedeutung für die Politik gegenüber Russland. Ob Russland geostrategisch eher westlich oder östlich orientiert sein wird, kann uns nicht egal sein. Kaliningrad und der Aufbau von Kooperationsbeziehungen zu den russischen Regionen ist mit dem Aktionsplan eine konkrete und praktische Chance, die durch nationale und europäische Politik gestützt werden muss.

(Beifall bei SPD, F.D.P., BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Ich glaube, es ist Zeit für eine neue Ostpolitik. Wer, wenn nicht die deutsche Bundesregierung, sollte sie formulieren? Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung den Vorsitz im Ostseerat auch für solche Überlegungen nutzt.

(Beifall bei SPD, F.D.P., BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Die CDU hat in ihrem Antrag eine Reihe von Handlungsfeldern genannt, in denen das Land bereits tätig ist und verstärkt tätig sein wird und sein soll. Ich schlage vor, dass wir beide Anträge im Europaausschuss beraten.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, SSW und vereinzelt bei der CDU)

Nur ein redaktioneller Hinweis an die Kollegen von der SPD: Wenn zum jetzigen Stand der Beratung noch weiter das Wort gewünscht wird, dann müsste das über Kurzbeiträge gehen, da die offizielle Redezeit erschöpft ist.

(Ursula Kähler [SPD]: Das hat keiner ver- standen! Das war zu schnell!)

- Ich wiederhole es gern - auch etwas langsamer; ich lege Wert auf Verständlichkeit. Frau Kollegin Kähler, die offizielle und angemeldete Redezeit der SPDFraktion ist jetzt ausgeschöpft. Nach dem jetzigen Stand der Beratung müssten sich weitere - weil ja angekündigte - Redebeiträge der SPD auf Kurzbeiträge nach § 58 der Geschäftsordnung beschränken.

(Holger Astrup [SPD]: Sehr gut! - Beifall im ganzen Haus)

Für die Fraktion der CDU hat jetzt der Vorsitzende und Oppositionsführer im Schleswig-Holsteinischen Landtag, Herr Abgeordneter Martin Kayenburg, das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Simonis, Ihre Zielbeschreibung war sicherlich treffend und richtig. Wenn auch alle Fakten so gewesen wären, dann könnte man Ihnen wirklich nur zustimmen. Mir scheinen bei manchen Ihrer Ausführungen allerdings Wünsche die Eltern der Gedanken gewesen zu sein. Es ist zweifellos richtig, dass wir Flagge zeigen müssen. Frau Böhrk, bloßer Informationsaustausch ist mit Sicherheit nicht genug.

Ich möchte daran erinnern, dass der damalige Ministerpräsident Björn Engholm im Jahre 1989 eine Vision vom Wiedererstarken des Mare Balticum hatte. Nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs wollte Engholm die Idee der Hanse wieder beleben und mit einer „Neuen Hanse“ an alte Wirtschaftsbeziehungen und kulturelle Bindungen im Ostseeraum anknüpfen,

(Beifall der Abgeordneten Dr. Gabriele Köt- schau [SPD])