Protocol of the Session on June 19, 2002

Die Befürworter einer Verfassungsänderung sprechen von einem Anfang, von einem Zeichen oder einer Mahnung. Angesichts dessen muss ich, bei allem Respekt vor der Arbeit der Volksinitiative, sagen: Niemand in diesem Parlament wird ernsthaft behaupten wollen, das Thema Pflege beschäftige uns erst sei Mai des vergangenen Jahres. Ein Blick in das Offene Parlamentarische Auskunftssystem, kurz OPAL, zeigt: Zum Stichwort Pflege gibt es in der vergangenen Legislaturperiode 120 Treffer und für die laufende Legislaturperiode registriert OPAL bis zum heutigen Tage bereits 70 Vorgänge zum Thema Pflege.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, auch die Antwort auf die Frage, wie wir mit unseren älter werdenden Menschen umgehen, mit wie viel Respekt wir hilfsund pflegebedürftige Menschen behandeln, kann nicht durch ein Ja zur Verfassungsänderung gegeben werden. Ob bewusst oder nicht: Mit dem Ja zur Verfassungsänderung werden Erwartungen bei Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen und den Pflegenden geweckt, die wir so nicht erfüllen können. Beteuerungen, man wolle keine Erwartungen, bei wem auch immer,

(Dr. Heiner Garg)

wecken, sind da wenig hilfreich. Die Menschen werden nämlich zu Recht fragen, was das Ganze eigentlich soll, wenn sich die Situation der Pflegebedürftigen nicht ändert, die Voraussetzungen, unter denen gepflegt wird, gleich bleiben. Das soll ja alles noch kommen, höre ich dann immer wieder, im begleitenden Zehn-Punkte-Programm der Initiative, in Gesetzentwürfen, die aus der Mitte des Parlamentes kamen und weiter kommen werden, in Offensiven, die die Landesregierung anstößt. Dazu kann ich nur sagen: Gut so! Zugleich aber frage ich: Wozu dann die Verfassungsänderung? Die am häufigsten gegebene Antwort ist dann, die Verfassungsänderung könne ja nicht schaden.

Erstens stimmt das unserer Auffassung nach nicht. Wenn falsche Erwartungen bei den Menschen geweckt werden, ist das sehr wohl schädlich.

(Beifall bei der FDP)

Zweitens lasse ich mir vor diesem Hintergrund gern ein konservatives Verfassungsverständnis attestieren und bleibe dabei: Allein die Tatsache, dass eine Verfassungsergänzung nicht schaden könne, ist ja wohl noch kein schlagkräftiges Argument, für sie zu votieren.

(Beifall bei der FDP)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Liste der vor uns liegenden und zu bewältigenden Aufgaben ist unendlich lang. Ich will deshalb nur das Wesentliche herausgreifen. Wir haben dafür Sorge zu tragen, dass nach der Qualität in den stationären Einrichtungen ebenfalls die Qualität ambulanter Pflegedienste unter die Lupe genommen wird. Ich will dabei ganz bewusst offen lassen, wer diese Kontrollen in Zukunft übernehmen soll, weil die Frage, wer das tun soll, für uns noch nicht abschließend beantwortet ist.

Wir müssen sicherstellen, dass die aufgedeckten Mängel abgestellt werden und in Zukunft weniger Mängel entstehen können. Wir müssen daran arbeiten, die Attraktivität der Pflegeberufe insgesamt zu erhöhen. Mit ein bisschen mehr Bezahlung ist es nämlich nicht getan. Herkömmlicher Dreischichtbetrieb mit Wochenenddiensten, fehlende Ausbildungsvergütung, nach wie vor keine bundeseinheitliche Ausbildungsregelung und schließlich kaum Karrierechancen - all das fördert nicht unbedingt den Drang junger Frauen und Männer, sich für den Pflegeberuf zu entscheiden.

Wir müssen schließlich eine ehrliche Debatte darüber führen, dass wir den finanziellen Bedarf für eine menschenwürdige Pflege in einer älter werdenden Gesellschaft, in der die Zahl der Erwerbstätigen abnimmt, nicht mehr aus einer umlagefinanzierten, am Erwerbseinkommen orientierten Pflegesozialversiche

rung decken können. Die Frage nach einer Verfassungsänderung verstellt meiner Auffassung nach daher den Blick auf den tatsächlichen Kraftakt, der inhaltlich vor uns liegt.

Das gilt auch und gerade im Hinblick auf die Argumentation, die Verfassung zu einem historischen Spiegel politischer Themen machen zu wollen, die in einem Bundesland besonders unterstrichen werden sollen. Wer so argumentiert, den frage ich: Warum dann kein Recht auf exzellente Bildung in der Landesverfassung? Warum dann kein Recht auf Arbeit in der Landesverfassung? Warum dann kein Recht auf Schutz vor kriminellen Handlungen in der Landesverfassung? Sind Arbeit, Bildung und innere Sicherheit keine Themen, die in Schleswig-Holstein besonders unterstrichen werden?

(Widerspruch bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

- Hören Sie doch einfach ganz in Ruhe und entspannt zu! - Wer davon spricht, die Aufnahme einer neuen Staatszielbestimmung erfülle wenigstens die Funktion der Mahnung, im Engagement nicht nachzulassen, der reduziert die Landesverfassung zu einem politischen Merkzettel.

(Beifall bei der FDP)

Schließlich bleibt die immer wieder viel beschworene Symbolfunktion. Der Kollege Hentschel hat dazu unmissverständlich klar gestellt, für ihn käme reine Symbolik, die nichts kostet, nicht in Frage; nur wenn die Aufnahme in die Verfassung tatsächlich konkret und nachweisbar etwas bewirke, mache sie Sinn - und koste dann auch etwas.

(Zuruf von der FDP: Hört, hört!)

Und jetzt zitiere ich den Kollegen Hentschel wörtlich:

„Aber dann plädiere ich dafür, ein konkretes Leistungsgesetz zu schaffen, das genau definiert, was wir tatsächlich wollen und was nicht“.

(Zuruf von der CDU: Da hat er Recht!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür plädiere ich dann auch!

(Beifall bei FDP und CDU)

Es geht nämlich gerade nicht darum, die Voraussetzungen für eine Rechtsgüterabwägung zweier gleichrangiger Schutztatbestände zu schaffen. Es geht einzig und allein darum, die mehr als reichlich vorhandenen Regelungen rund um die Pflege endlich mit Leben zu erfüllen.

(Beifall bei der FDP)

(Dr. Heiner Garg)

Es geht darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass eine menschenwürdige Pflege vom Pflegebedürftigen erlebt und vom Pflegenden gelebt werden kann. Hier stehen wir in der Pflicht, und hier dürfen wir es uns nicht so einfach machen. Wer für die in Zukunft noch deutlich zunehmende Zahl hilfs- und pflegebedürftiger Menschen wirklich etwas ändern will, der verweigert sich nicht länger der Diskussion um die Änderung der Finanzierungsform der Sozialversicherung, der arbeitet mit an einer neuen gemeinsamen Ausbildung für die Pflegebereiche, der berücksichtigt das älter werdende Gesicht bei der zukünftigen Stadtentwicklungsplanung, der schafft Lebens- und Begegnungsräume für Jung und Alt.

„Das Land schützt die Rechte und Interessen pflegebedürftiger Menschen und gewährleistet nach seinen Kräften und Zuständigkeiten eine Versorgung, die allen Pflegebedürftigen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Forderung teilt die FDP-Fraktion uneingeschränkt. Meine Forderung lautet allerdings: machen! Menschen dafür gewinnen! Geld dafür ausgeben! Der rechtliche Rahmen dafür ist längst geschaffen worden.

(Beifall bei der FDP)

Wir alle müssen weiter zusammen daran arbeiten, diesen längst geschaffenen rechtlichen Rahmen auch wirklich mit Leben zu erfüllen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Abstimmungsvorschlag der Frau Kollegin Schwarz stimmt die FDPFraktion zu. Der Präambel für das Landespflegegesetz wird die FDP-Fraktion ebenfalls zustimmen. Die Verfassungsänderung lehnen wir ab.

(Beifall bei FDP und CDU)

Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat die Frau Abgeordnete Angelika Birk.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen, dass die Volksinitiative zur Pflege auch im Landtag gewinnt. Sie hat viele Menschen in diesem Lande gewonnen, und davor haben wir großen Respekt, den wir hier auch schon mehrfach zum Ausdruck gebracht haben.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dem Landtag steht nun heute eine Entscheidung bevor, bei der wir alle gewinnen oder verlieren können. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wir fünf hier in dieser Runde, appellieren besonders gerade an die Abgeordneten der CDU und der FDP, den beiden Anträgen der

Regierungsfraktionen und dem Antrag des SSW zuzustimmen. Eine Volksinitiative zu einem Anliegen, das alle Menschen betrifft, die eine so breite Diskussion in der Bevölkerung initiierte, sollten wir auch im Landtag parteiübergreifend unterstützen.

Der Antrag zur Verfassungsänderung erklärt die Verpflichtung zur menschenwürdigen Pflege zum Verfassungsziel. Er verpflichtet Landesregierung und Landtag zur aktiven Förderung dieses Anliegens, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Der Antrag zur Änderung des Pflegegesetzes betont in der Präambel noch einmal ausdrücklich die Wahrung der Selbstbestimmung auch hilfs- und pflegebedürftiger Menschen, und ergänzend zur Formulierung der Volksinitiative haben wir von den Regierungsfraktionen auch noch die aktuellen Erkenntnisse der Pflegewissenschaft hineingenommen, um als Gesetzgeber, Herr Garg, die Umsetzung dieser ganzheitlichen Handlungsansätze als verbindliche Leitlinie der Pflege in Schleswig-Holstein zu definieren.

Nun weiß ich, dass hier im Raum noch viele Zweifler sitzen, und deshalb möchte ich mich nun gerade mit den Argumenten der FDP auseinander setzen. Ich finde Ihre Argumente - um es einmal philosophisch auszudrücken - undialektisch. Natürlich ist es richtig, dass wir vor allem ein Umsetzungsdefizit haben. Darin kann ich Ihnen uneingeschränkt zustimmen. Doch wenn es nun eine Volksinitiative gibt, die gerade dies zum Thema macht und uns als Gesetzgeber in Zeiten sehr knapper Kassen auch eine Richtschnur mit auf den Weg gibt, dann sind wir doch, glaube ich, nicht sehr gut beraten, diesen Leuten in den Rücken zu fallen. Wir sollten dann doch sagen: Ja, wir wollen das, und wir wollen es so sehr, dass wir es sogar in die Landesverfassung aufnehmen, und wir machen uns auch - das haben hier alle Rednerinnen und Redner gesagt - das Zehn-Punkte-Programm zu Eigen; auch dazu möchte ich gleich noch Stellung nehmen.

Auch wenn ich mir die Geschichte unserer Verfassung anschaue, komme ich zu dem Ergebnis, dass das wichtig ist. Sie, Herr Garg, haben gesagt, Sie möchten nicht, dass die Verfassung der Spiegel einer Auseinandersetzung um politische Grundsätze eines Landes ist. Ich weiß gar nicht, was eine Verfassung soll, wenn sie das nicht ist.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Ich habe gefragt, warum dann andere Ziele nicht darin stehen!)

Denn wir haben in der Verfassung auch die Gleichstellung von Männern und Frauen, und auch der Umweltschutz kommt dort vor. Sogar das Thema Sport hat dort Eingang gefunden. Das ist noch gar nicht so lange her. Ja, wenn diese Dinge als Ergebnis lebendiger

(Angelika Birk)

Auseinandersetzung in diesem Land Eingang in die Verfassung gefunden haben, dann hat der SSW doch Recht, wenn er Diskussionen aufgreift, die wir auch im Fachausschuss schon geführt haben: Dann müssen wir die Verfassungsziele insgesamt erweitern, und dabei darf die Pflege selbstverständlich nicht fehlen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Herr Garg, Sie haben gemeint, wir würden damit die Leute betrügen und etwas versprechen, was wir nicht halten können. Ich glaube, wenn wir dieses Argument, wie Sie es hier verfechten, durchhalten, dürfen wir fast überhaupt kein Gesetz machen. Denn der Gesetzgeber kann nie dafür garantieren, dass ein Gesetz hundertprozentig eingehalten wird. Dafür gibt es doch Gerichte und dergleichen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD - Widerspruch von CDU und FDP)

- Es ist mir ein bisschen zu unruhig. Ich kann nicht fortfahren, wenn Sie dauernd dazwischenrufen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Offensichtlich ist hier auf der rechten Seite des Hauses die Vorstellung „alles oder nichts“ vorherrschend. Man will lieber gar nichts, denn es könnte ja sein, dass man nicht alles bekommt. Ich dagegen denke, wir sollten realistisch bleiben.