Schon mit der Durchführung dieser Veranstaltungen ist es den Initiatoren gelungen, auf die Herausforderungen der Pflegeproblematik hinzuweisen.
(Beifall der Abgeordneten Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Karl- Martin Hentschel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN])
Alle Teilnehmer am Diskussionsprozess - egal, ob sie die Verfassungsänderung ablehnten oder befürworteten - waren sich in dem Ziel einig, mehr zur Herstellung einer menschenwürdigen Pflege zu leisten. Wir streiten uns also lediglich, wie so oft in der Politik, über den richtigen Weg zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels.
Nach der ersten Lesung des Gesetzentwurfs der Volksinitiative haben wir uns mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Verfassung mehrfach in den Fraktionsarbeitskreisen Soziales, Innen und Recht und Eingaben befasst. Aber auch in der Gesamtfraktion gab es mehrere intensive Sachdiskussionen über das Für und Wider einer Verfassungsänderung.
Die Frage, die sich wie ein roter Faden durch alle Diskussionen hindurchzog, lautete: Was verändert sich ganz konkret an der Lebenssituation pflegebedürftiger Menschen, wenn wir unsere Landesverfassung um den Artikel 9 a, Schutz und Versorgung pflegebedürftiger Menschen, ergänzen?
Einige in unserer Fraktion glauben, dass sich die Einstellung der Gesellschaft zu dieser Problematik durch eine Änderung der Landesverfassung wandeln wird. Für sie ist dies der Weg zum Erreichen des gemeinsamen Ziels. Die Pflegeproblematik ist eine gesamtgesellschaftliche Problematik. Die CDU-Landtagsfraktion bleibt aber dabei, dass es insgesamt falsch ist, jedes politisch zu lösende Problem zunächst einmal in die Verfassung zu schreiben.
Für einige Fraktionskollegen - das will ich offen einräumen - wäre - wie schon gesagt - die Aufnahme eines neuen Artikel 9 a, Schutz und Versorgung pflegebedürftiger Menschen, wünschenswert. Sie werden heute auch so votieren. Aber das ist deutlich die Minderheit in der CDU-Fraktion.
Wir halten es dem Thema für angemessen - wir haben heute Morgen noch lange darüber diskutiert -, wenn in einer Abstimmung über eine solche Frage das gesamte Meinungsspektrum einer Landtagsfraktion zum Ausdruck kommt.
Ich weiß mich - da spreche ich ganz besonders für Torsten Geerdts und für Helga Kleiner - im Ziel mit allen Mitgliedern der CDU-Landtagsfraktion einig, gemeinsam mehr zur Herstellung einer menschenwürdigen Pflege leisten zu müssen. Es ist richtig, dass durch die Aussagen des Grundgesetzes - Herr Beran, das, was Sie ganz am Anfang Ihrer Rede sagten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ - auch die Gruppe der Pflegebedürftigen erfasst ist.
Andere betonen, dass man nach der Ausweitung der Staatszielbestimmungen in den vergangenen Jahren das trifft nicht nur die Landesverfassung, sondern genauso das Grundgesetz - jetzt nicht ausgerechnet bei der menschenwürdigen Pflege von einer Überfrachtung der Verfassung und einem Warenhauskatalog - das Wort „Spielball“ fiel - sprechen könne. Wenn man dies täte, müsste man auch die Beschlusslage vergangener Jahre hinterfragen.
Ein weiterer Kritikpunkt, der gegen die Aufnahme eines neuen Artikels 9 a, Schutz und Versorgung pflegebedürftiger Menschen, spricht, ist die Befürchtung, dass Erwartungen geweckt werden, die von der Politik nicht erfüllt werden können.
Auch dieser Gedanke hat im Entscheidungsprozess der CDU-Landtagsfraktion eine ganz maßgebliche Rolle gespielt.
Heute steht nun nicht nur die Änderung der Landesverfassung zur Abstimmung, sondern auch die Änderung des Landespflegegesetzes. Die Volksinitiative schlägt vor, dass vor § 1 eine Präambel eingefügt wird. Ich will Sie Ihnen jetzt nicht vorlesen; Sie kennen sie. Ergänzt werden soll sie durch den von Herrn Beran und Frau Birk vorgelegten Einschub - Sie kennen ihn auch; ich weiß jetzt nicht, wo mein Blatt ist; da ist es -:
„die den jeweils aktuellen Kenntnissen der Pflegewissenschaft entsprechen“. Dieser Präambel mit der Ergänzung werden wir zustimmen.
Wir machen damit auch deutlich, dass wir die meisten Punkte des Zehn-Punkte-Handlungsprogramms für eine menschenwürdige Pflege politisch unterstützen werden. Die zehn Punkte sind von der AWO und dem Sozialverband Deutschland zeitgleich mit dem Wunsch, die Landesverfassung zu ändern, in die Diskussion eingebracht worden. Sie beinhalten Forderungen, die bei einer Verwirklichung zu einer konkreten Verbesserung der Lebenssituation von Pflegebedürfti
gen führen würden. Aber die Erfüllung dieser Forderungen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist nicht zum Nulltarif zu haben. Sie kostet richtig Geld. Ich glaube, hier wird auch im kommenden Jahrzehnt die Herausforderung für den Sozialhaushalt liegen.
Alle Pflegebedürftigen haben ein Anrecht auf ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes Leben. Sie haben ein Anrecht auf soziale Integration und fachlich qualifizierte Hilfen. Wir brauchen ein solidarisches Sicherungssystem, das den Pflegebedarf gerecht abdeckt. Aber damit haben wir noch nicht das Problem der Vereinsamung und der im Finanzierungssystem nicht zu berücksichtigenden Betreuung geregelt.
Die CDU-Fraktion unterstützt viele Punkte des Handlungsprogramms der beiden Sozialverbände. Für uns ist Punkt 3 - Integration und Begegnung - von größter Bedeutung. Hier sind in der Tat alle gefordert: Vereine, Verbände, Schulen, Kindertagesstätten und auch die Parteien. Ich will an dieser Stelle auch ganz bewusst die Familie nennen. Familiäre Bezüge, Geborgenheit, Verantwortung für die ältere Generation das kann die beste Pflegeabsicherung nicht leisten. Die Menschen haben die größten Ängste, weil sie befürchten, dass im Pflegefall die private Lebensführung entscheidend eingeschränkt wird. Daher ist die Forderung der beiden Sozialverbände doch nur konsequent, beim Bau neuer Alten- und Pflegeeinrichtungen noch stärker darauf zu achten, dass nicht nur eine schlichte Bewohnbarkeit vorhanden ist. Diese Häuser sind Teil des Gemeinwesens. Hier muss sich auch etwas abspielen, zum Beispiel in kultureller, politischer und bildungsmäßiger Hinsicht. Der Servicehausgedanke so schreibt Torsten Geerdts - ist mir besonders sympathisch: eine alten-, behinderten- und pflegegerechte Wohneinheit und dazu die Möglichkeit, das individuell nötige Maß an Hilfe zu jeder Zeit in Anspruch nehmen zu können. Diese Servicehäuser werden in Zukunft in noch viel stärkerem Maße nachgefragt. Es gehört zum Stolz eines jeden Menschen, möglichst viel im Alltag eigenverantwortlich, selbstständig, unbeobachtet und frei von Zwängen erledigen zu können.
Wir reden also nicht nur über einen Gesetzentwurf zur Änderung der Verfassung. Die Bürger haben bei der Volksinitiative auch unterschrieben, weil sie besonders das 10-Punkte-Handlungsprogramm für eine menschenwürdige Pflege unterstützen wollten.
Herr Landtagspräsident - es gibt gerade einen Wechsel; jetzt haben wir gleich zwei Landtagspräsidenten auf einem Haufen -,
ich bitte um Abstimmung in zwei Teilen über den Gesetzentwurf. Die CDU-Landtagsfraktion wird der Ergänzung des Landespflegegesetzes um eine Präambel zustimmen - das hatte ich schon gesagt -, weil wir das 10-Punkte-Handlungsprogramm der AWO und des Sozialverbandes Deutschland unterstützen. Das ist Artikel 2. Darüber möchten wir extra abgestimmt haben. Folglich wünschen wir natürlich auch über Artikel 1 gesonderte Abstimmung, in dem es um die Verfassungsänderung geht. Bei uns wird jeder so abstimmen, wie er es mit seinem Gewissen ausgemacht hat. Damit bin ich eigentlich fertig.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es gibt Aussagen, die deshalb so wohltuend sind, weil sie schnörkellos und unmissverständlich sind. Frau Ministerin Moser, nach Ihren dankenswert klaren Worten bei der Auftaktveranstaltung der Volksinitiative im vergangenen Jahr hat stellvertretend für Sie Frau Ministerin Erdsiek-Rave ebenso klar und unmissverständlich formuliert - ich zitiere:
„Normen, Vorschriften, Gesetze, Regelungen haben wir in der Pflege reichlich und nach Auffassung vieler Beteiligter mehr als genug. Man könnte es auch so formulieren: Rechtlich gesehen haben wir die Pflege völlig im Griff. Dort liegen nicht die Defizite. Wer etwas anderes suggeriert, ist, wie ich glaube, auf dem Holzwege.“
„Brauchen wir ergänzend zu den bestehenden Vorschriften, also zu den gerade erst in Kraft getretenen Regelungen des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes, zusätzlich zur Heimgesetznovelle, zusätzlich zum PflegeleistungsErgänzungsgesetz wirklich eine Staatszielbestimmung für eine menschenwürdige Pflege in der Landesverfassung? Müssen wir mit Blick
auf die Mängel in der Pflege die in Artikel 1 des Grundgesetzes enthaltene Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde wirklich noch ergänzen?“
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, für die FDPFraktion sage ich klipp und klar: Nein, das müssen wir nicht. Nein, das sollten wir auch nicht tun.
Die aufgedeckten Mängel in der Pflege müssen wir beseitigen, und zwar durch konkretes Handeln und nicht durch Verfassungsänderung.
Damit es in Zukunft gar nicht mehr zu solchen gravierenden Mängeln kommt, müssen wir ebenfalls konkret handeln. Auch hier hilft eine Verfassungsänderung nicht weiter.
Ich sage an dieser Stelle noch einmal ganz klar und deutlich: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland stellt in Artikel 1 Abs. 1 die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen allen anderen Grundrechten voran. Der umfassende Schutz des Artikels 1 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 - also dem Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit - gilt auch und gerade den besonders schutzbedürftigen pflegebedürftigen Menschen.
Die Befürworter einer Verfassungsänderung sprechen von einem Anfang, von einem Zeichen oder einer Mahnung. Angesichts dessen muss ich, bei allem Respekt vor der Arbeit der Volksinitiative, sagen: Niemand in diesem Parlament wird ernsthaft behaupten wollen, das Thema Pflege beschäftige uns erst sei Mai des vergangenen Jahres. Ein Blick in das Offene Parlamentarische Auskunftssystem, kurz OPAL, zeigt: Zum Stichwort Pflege gibt es in der vergangenen Legislaturperiode 120 Treffer und für die laufende Legislaturperiode registriert OPAL bis zum heutigen Tage bereits 70 Vorgänge zum Thema Pflege.