Protocol of the Session on December 14, 2001

(Beifall des Abgeordneten Jürgen Weber [SPD])

Meine Damen und Herren, Bildung ist aber keine Ware, die man herstellen kann.

(Beifall bei FDP und SPD)

Ein Haus kann man bauen lassen und kaufen, Bildung jedoch nicht. Der Vergleich zum Hausbau macht deutlich, worin der Unterschied liegt: Es ist bei der Bildung so, als müsse derjenige, der das Haus besitzen will, selber die Baugrube ausschachten, die Steine schleppen und auch noch an der Architektur mitwirken. Ohne diese sehr weit reichende Eigenleistung desjenigen, der Bildung erhalten soll oder will, gelingt es selbst mit den besten didaktischen Methoden und der exzellentesten Lehrerversorgung nicht.

David Blunkett, Bildungsminister im ersten Kabinett von Tony Blair, hat deshalb in diesem Sinne sehr zu Recht von einer „Kultur der Anstrengung“ - „culture of effort“ - gesprochen, die nötig sei, um gute Bildungsergebnisse zu erreichen. Die Preisfrage lautet nun: Wie erreicht man eine solche Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft, ohne zu „kinderfeindlichen Paukschulen“ japanischer oder koreanischer Art zu gelangen?

(Beifall bei FDP, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Auf jeden Fall ist das eine Einstellungs-, eine Mentalitätsfrage, die durch technokratische Pseudo-Reformen niemals beantwortet werden kann. Deshalb möchte ich vor manchen Herangehensweisen warnen. Ich habe einen Pressezettel des SPD-Landesverbandes vorliegen,

(Lothar Hay [SPD]: Das ist nicht die Auffas- sung unserer Fraktion!)

wo in der Sprache der Betriebswirtschaftslehre von „ISO 9100“ und „Controlling“ die Rede ist. Das genau ist einer der pseudotechnokratischen Irrwege, vor denen ich warne.

(Beifall bei FDP, SPD, CDU und SSW - Lo- thar Hay [SPD]: Wir teilen die Auffassung des SPD-Landesverbandes nicht!)

- Das nehme ich mit Freude zur Kenntnis, Herr Hay.

Die Zeit ist zu knapp, um noch auf viele Dinge im Detail einzugehen. Deshalb möchte ich nur noch ein paar Stichpunkte zu Einzelbereichen hinzufügen. Punkt eins: Kindergarten und Vorschulalter. Viele Bildungsdefizite entstehen in Deutschland bereits im Vorschulalter.

(Beifall der Abgeordneten Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Aufklärung, Beratung und Hilfe für Eltern sind daher ebenso notwendig wie Kindertagesstätten, die durch spielerisches - das sei drei Mal betont - Lernen auf kindgerechte Art und Weise sowohl sprachliche Ausdrucksfähigkeiten fördern als auch Freude am Lernen vermitteln, und zwar über Erfolgserlebnisse, die die Kinder weiter für die Bildung motivieren können.

(Beifall bei FDP, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Zweiter Punkt: Ganztagsschulen. Ganztagsschulen dürfen weder Betreuungseinrichtungen noch DauerUnterrichtsanstalten von 8 bis 16 Uhr sein.

(Beifall im ganzen Haus)

Der Hauptzweck der Ganztagsangebote sollte darin liegen, Schülern soziales Lernen zu ermöglichen, Verantwortungs- und Einsatzbereitschaft zu fördern, also jene erzieherischen Defizite auszugleichen, die den Lehrern heute die Arbeit mit einem Teil der Schüler so sehr erschweren.

(Beifall der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Kurz gesagt: Das Ganztagsangebot ist darauf auszurichten, die Bildungsfähigkeit und die Bildungsbereitschaft dort zu erhöhen, wo sie heute mangelhaft ist.

(Beifall bei FDP, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Punkt drei: Ausländerkinder. Das schlechte Abschneiden der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen ausländischer Herkunft ist einer der Schwachpunkte, die durch die PISA-Studie zu Tage gefördert worden sind. Ist es nicht besser, jungen Ausländern zunächst hinreichende Deutschkenntnisse zu vermitteln und sie erst dann - allerdings möglichst früh - in Klassen mit deutschen Schülern gemeinsam zu unterrichten?

(Beifall bei FDP, SPD, CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Abschaffung der früher in Schleswig-Holstein vorhandenen Vorbereitungsklassen war - das sei als kritisches Wort in die Vergangenheit gestattet - offenbar ein Fehler. Professor Jürgen Baumert, der Chef des

(Dr. Ekkehard Klug)

Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, verweist auf das Beispiel skandinavischer Nachbarländer:

„Wir wissen..., dass Länder wie Norwegen und Schweden sehr viel striktere Einschulungsregelungen und Förderkonzepte haben. Dort werden die Kinder erst dann eingeschult, wenn sie die Landessprache ausreichend sprechen und im Unterricht mitkommen.“

Punkt vier: Einschulungsalter! Es wäre geradezu idiotisch, das Einschulungsalter generell abzusenken. Nötig ist mehr Flexibilität.

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave: Haben wir!)

Nach gesicherten medizinischen Erkenntnissen - die Debatte gibt es: generell mit fünf! Lesen Sie die Presse! Das wissen Sie - sind manche Kinder schon mit fünf Jahren, andere aber erst mit sieben Jahren in ihrer Entwicklung so weit, dass sie - um ein einfaches Beispiel zu nennen - Buchstaben und Zahlen in eine sinnvolle, logische Reihenfolge bringen können.

(Vizepräsidentin Dr. Gabriele Kötschau übernimmt den Vorsitz)

Wenn man diese Entwicklungsunterschiede ignoriert und sie alle zum Stichtag - Lebensalter fünf - in die Grundschulklasse hinein presst, belastet man die Grundschulen mit Problemen, die sie schlechterdings nicht bewältigen können.

(Beifall im ganzen Haus)

Punkt fünf: Guter und quantitativ ausreichender Unterricht! Ohne diese Grundvoraussetzung wird eine Besserung der Ergebnisse der Schulen nicht zu erreichen sein. Wenn man darauf hinweist, dass Hauptschüler vor zehn Jahren in diesem Land im Schnitt 30 Wochenstunden Unterricht hatten und es jetzt 25 Stunden Unterricht sind, ist es nicht verwunderlich, dass bei einer besonders schwierigen Schülerklientel in vielen Bereichen die Ergebnisse nicht den Hoffnungen und Erwartungen entsprechen.

Wir haben in diesem Land einen krankheitsbedingten Unterrichtsausfall von etwa 5 % nach den Stichprobenerhebungen, die die Landesregierung regelmäßig alle paar Jahre vornimmt. Wir haben darüber hinaus ein Stundenfehl von durchschnittlich 7 % - auch, wenn Sie das seit einigen Jahren in den Berichten zur Unterrichtsversorgung nicht mehr erwähnen. Der letzte Bericht des Landesrechnungshofs zum Thema Unterrichtsbedarf stellt fest:

„Um eine gleichmäßige Bedarfsbasis zu schaffen, hat das Bildungsministerium... eine

durchschnittliche Unterrichtsversorgung von 93 % der Stundentafeln zugrunde gelegt.“

Daraus kann man ablesen: Von vornherein ist ein durchschnittliches Stundenfehl von 7 % einkalkuliert. Wenn dann noch 5 % Unterrichtsausfall durch Krankheitsfälle hinzukommt, sind wir im Schnitt bei 12 %. Dann gibt es Presseberichte wie die von vor ein paar Tagen aus Lübeck. Der Kreiselternbeirat der Gymnasien hat aufgrund besonderer örtlicher Probleme von einem Stundenfehl von 20 % gesprochen. Diese Zahl ist durchaus nicht aus der Luft gegriffen. Solche Ausreißer auch in noch extremere Werte hinein sind möglich, wenn man im Durchschnitt schon so hoch liegt.

Es bleibt dabei: An Bildung darf nicht mehr - auch das ist eine Botschaft aus der PISA-Studie - gespart werden, auch wenn Finanzminister Möller, auch wenn der Bund der Steuerzahler dieser Meinung sind.

(Beifall der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich sage Ihnen: Wer jetzt noch an Bildung spart, der spart die Grundlagen unseres Wohlstandes und unserer sozialen Stabilität in diesem Land zu Tode.

(Beifall im ganzen Haus)

Das Wort hat jetzt Frau Abgeordnete Birk.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den sehr differenzierten Beiträgen von Herrn Weber und Herrn Dr. Klug kann ich hier feststellen: Einig sind wir uns wohl alle: Bildung muss das Hauptanliegen der gesamten Gesellschaft werden. Aber dann wird es schon differenzierter: Wir sind mit Ihnen in vielem einig, Herr Klug und Herr Weber, allerdings nicht in der Frage, ob es wieder neue Sondernischen, neue Sondersysteme für hoch begabte oder Menschen mit besonderen Handicaps geben muss. Hierüber sollten wir noch einmal diskutieren. Ich bedauere, dass sich die CDU mit ihrer Forderung nach einem zentralen Prüfungssystem nur auf einen sehr kurzen Sprung eingestellt hat. Wir brauchen aber tatsächlich eine Bildungsreform. Daran führt kein Weg vorbei, Herr de Jager.

Die Analyse der Schwächen und das 8-PunkteProgrammin der Zeitschrift „Spiegel“ zu PISA liest sich für mich, als habe jemand das grüne Parteiprogramm abgeschrieben. Ich möchte das deshalb hier in Auszügen zitieren.

Als Bündel von Maßnahmen, um die Weichen für den weiteren Lebensweg zu stellen, wird hier beschrieben:

(Angelika Birk)

Kindertagesstätten und Kindergärten müssen zu einem Bildungswerk werden. Sie müssen ihren Bildungsauftrag erfüllen - nicht mit Pauken, sondern mit altersgerechten Förder- und Lernmöglichkeiten. Dies gilt natürlich auch für Migranten!

Der „Spiegel“ kommt zu dem zweiten Punkt, nämlich dass Sprachtests in Aussicht gestellt werden müssen, um die Eingangsphase in der Schule auch für diese Kinder gut zu gestalten.

Ein sehr wichtiger Punkt, der sich durch die ganze Analyse des „Spiegel“-Artikels zieht - hier möchte ich manchem Vorredner widersprechen -, ist der Hinweis darauf, dass das hierarchisch gegliederte Schulsystem in Deutschland überholt ist, dass andere Länder, beispielsweise Finnland, mit einem egalitären Bildungssystem offensichtlich besser abschneiden. Alle Kinder in den ersten neun Jahren in einer Schule, das ist in vielen Ländern Standard. Das sollte uns doch nachdenklich machen. Das spricht nicht gegen mehr individuelle Förderung und das spricht auch nicht dagegen, dass es natürlich Lernsituationen gibt, in denen nicht alle Kinder in einer Lerngruppe sind, weil sie unterschiedliche Niveaus haben. Aber das spricht gegen Auslese. Das spricht dagegen, dass man ein Kind, das nicht mitkommt, einfach in eine andere Schule abschieben kann.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)