Protocol of the Session on April 29, 2004

Dennoch gibt es in der Bevölkerung Ängste gegenüber der Osterweiterung. Der Gedanke, dass mit der Osterweiterung auch Arbeitsplätze aus Deutschland abgezogen werden, um im billigeren EU-Ausland zu produzieren, ist vorhanden. Allerdings widerspricht die Deutsche Wirtschaft selber dieser These. Sie sieht in der Osterweiterung einen guten Entwicklungs

schritt. So sagte Ludolf von Wartenberg, der BDIHauptgeschäftsführer, in einem „Spiegel“-Interview am 9. Dezember, ein Wachstumsprogramm für ganz Europa werde die Osterweiterung sein. Für die deutsche Wirtschaft werde die Osterweiterung einen großen Schub bringen.

Das EU-Wirtschaftswachstum in den neuen Beitrittsländern, meinetwegen durch den Zuzug mittelständischer Unternehmen, den wir ja beobachten können, bringt erfahrungsgemäß auch in Deutschland Wachstum hervor. Wenn dort produziert wird, geschieht dies in der Regel mit einem sehr hohen Anteil in Deutschland gefertigter Komponenten.

Aber nicht nur in Deutschland sind diese Ängste präsent, auch in unseren Nachbarstaaten wie zum Beispiel in Polen wird die geplante Erweiterung mit Sorge betrachtet. Ängste vor steigenden Preisen bei gleichzeitig zögerlicher Angleichung der Löhne an das EU-Niveau sind dort allgegenwärtig. Dies hat meine Fraktion bei unserer Polenreise vor zwei Wochen in zahlreichen Gesprächen immer wieder erfahren. Das gilt insbesondere auch für die sehr kleinteilige polnische Landwirtschaft. Gerade in diesem Bereich bestehen die Befürchtungen auch zu Recht, denke ich.

Bei meinem Aufenthalt im Frühjahr dieses Jahres in Tschechien und in der Slowakei habe ich solche Vorbehalte und Ängste von den Menschen dargestellt bekommen. Man kann es ja auch vorausrechnen.

(Die Ministerpräsidentin bringt dem Redner ein Glas Wasser)

- Das ist nett, Frau Simonis. - Das ist eine Ministerpräsidentin! - Vielen Dank.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Ich war also im Frühjahr in Prag, in der Slowakei und auch in Polen. Später war ich noch einmal mit der Fraktion in Polen. Selbstverständlich ist den Menschen klar, dass trotz eines sehr überdurchschnittlichen Wirtschaftswachstums die Angleichung an EUNiveau mindestens 20 Jahre dauern wird. Das kann man ausrechnen. Gleichzeitig sind sie aber mit dem Preisniveau konfrontiert. Die Menschen haben Angst, dass sie bei den Löhnen nicht mithalten und den Lebensstandard der EU nicht bezahlen können.

Alle Mitgliedstaaten der EU haben einen gemeinsamen Entwicklungsprozess durchgemacht und stehen heute auf derselben Entwicklungsstufe. Schon in Artikel 2 der Charta der europäischen Identität heißt es, Grundwerte wie Toleranz, Humanität und Brüderlichkeit seien aus vielfältigen Wurzeln entstanden und

(Detlef Matthiessen)

in allen Ländern Europas verankert. Eine EU der Bürger ist auf gutem Wege. Packen wir es gemeinsam mit den zehn neuen Ländern an. Ich bin begeistert von der kulturellen Vielfalt, die ich bei meinen kurzen Besuchen dort kennen lernen durfte. Es gibt viele Traditionen in den neuen Beitrittsländern, die uns durch den früheren Eisernen Vorhang bislang recht unbekannt geblieben sind. Ich freue mich insbesondere auch auf die interessanten menschlichen Begegnungen. Ich denke, die kulturelle Vielfalt Europas muss erhalten werden. Ich will nicht, dass der europäische Einigungsprozess bedeutet: „Wi ward alle Amerikaners“. Ich glaube, das Motto muss heißen: Einheit in der Vielfalt. Willkommen Europa!

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Für den SSW im Schleswig-Holsteinischen Landtag erteile ich jetzt seiner Sprecherin, der Frau Abgeordneten Anke Spoorendonk, das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anfang der Woche nahm eine schleswigholsteinische Delegation unter der Leitung von Landtagspräsident Heinz-Werner Arens in Danzig an einer Konferenz zur Gründung des „Parlamentsforums südliche Ostsee“ teil. Zentraler Gedanke der Veranstaltung war die Bildung von Netzwerken auf der Ebene der Parlamente. Akteure dieser Netzwerkbildung sind in diesem Zusammenhang die nordpolnischen Wojewodschaften Pommern und Westpommern und die beiden Bundesländer SchleswigHolstein und Mecklenburg-Vorpommern. Folgerichtig wurde im Anschluss an das Treffen in Danzig von unserem Landtagspräsidenten und von dem Vorsitzenden des Sejmik der Wojewodschaft Westpommern eine gemeinsame Erklärung über die Zusammenarbeit zwischen dem Sejmik und dem Schleswig-Holsteinischen Landtag unterschrieben.

Am Vorabend der historischen Osterweiterung der EU zum 1. Mai ist dies ein ganz wichtiges Signal.

(Beifall des Abgeordneten Rolf Fischer [SPD])

Mit dieser regionalen Zusammenarbeit leisten wir einen positiven Beitrag zur Integration der neuen EULänder, die an der Ostsee liegen.

(Beifall bei SSW, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Der SSW steht zu dieser verstärkten regionalen Zusammenarbeit, nicht nur, weil die Ostseeregion eine Wachstumsregion ist, sondern auch, weil diese Art der Kooperation aus unserer Sicht künftig noch an Gewicht gewinnen wird.

Eine EU der 25 wird eine andere EU sein als die der 15; da darf man sich nichts vormachen. Ein Merkmal dieser Zusammenarbeit ist ja, dass es bereits viele Gremien und viele Formen von Netzwerken gibt. Das ist ihre Stärke, genauso wie es auch zu ihren Stärken gehört, dass sie von unten gewachsen ist. Darüber sollten wir uns freuen. Mit diesem Pfund sollten wir weiterhin wuchern.

Anlässlich der EU-Erweiterung hat es verschiedene Umfragen gegeben. Aus vielen gehen Ängste hervor. Daher ist es wichtig, deutlich zu machen, dass die Osterweiterung für Schleswig-Holstein und für Deutschland sowie für den Rest der EU eine Chance darstellt.

Allerdings müssen wir uns auch dem Problem stellen, dass viele westliche Unternehmen wegen der niedrigen Löhne und der niedrigen Steuern ihre Arbeitsplätze in die neuen EU-Staaten verlagern, während bei uns viele Menschen ihre Arbeit verlieren. Daher brauchen wir beispielsweise EU-weite Regelungen für die Unternehmensbesteuerung und soziale Mindeststandards, die das massive Lohndumping verhindern.

Bei den Ängsten dürfen wir aber nicht vergessen, dass es auch in den Beitrittsländern Ängste gibt, zum Beispiel in Polen. Insgesamt dürfen wir nicht schönreden, dass wir in Deutschland Polen gegenüber eine besondere Verpflichtung haben, gerade wenn es um Vorurteile geht. Die Abstände sind geringer geworden. In den Köpfen der Menschen gibt es aber immer noch Barrieren, am meisten bei den Menschen, die keine Polen kennen. Darum sage ich: Es gehört zu den Erfahrungen des deutsch-dänischen Grenzlandes, dass das Erlernen der Sprache des Nachbarn die wichtigste Voraussetzung für die Durchlöcherung von Grenzen ist, der geografischen und derjenigen in den Köpfen der Menschen.

(Beifall bei SSW und vereinzelt bei SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Gerade diese Erfahrung, denke ich, wird in einer regionalen Zusammenarbeit dazu führen können, dass Menschen einander näher kommen und dass Vorurteile und Barrieren abgebaut werden können.

Zuletzt möchte ich noch einen Punkt ansprechen, der dem SSW ganz besonders am Herzen liegt, nämlich

(Anke Spoorendonk)

die Frage der Akzeptanz einer größeren EU bei den Bevölkerungen Europas und die damit verbundene Frage, welche Verfassung sich Europa gibt und wie diese legitimiert wird. Auch wenn es ein Risiko darstellt, meinen wir weiterhin, dass die neue europäische Verfassung unbedingt durch eine Volksabstimmung in Deutschland bestätigt oder abgewiesen werden muss.

(Beifall beim SSW)

Aus demokratischer Sicht und um die Akzeptanz der EU in den Völkern Europas wirklich zu verankern, sollten in allen EU-Ländern entsprechende Volksabstimmungen durchgeführt werden. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger in diesen Prozess mitnehmen, wenn die historische Chance einer EUErweiterung genutzt werden soll.

(Beifall im ganzen Haus)

Das Wort für die Landesregierung erteile ich jetzt der Frau Ministerpräsidentin Simonis.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der 1. Mai 2004 wird ein Tag sein, an dem wir uns daran zu erinnern haben, dass Europa einen neuen Charakter bekommen hat. Ost- und Westeuropa kommen endlich wieder zusammen. Die zehn neuen Mitglieder, die im Wesentlichen aus dem Osten kommen, werden uns bereichern: Estland, Litauen, Lettland, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern.

Ein Europa der 25 mit rund 450 Millionen Menschen wird eine besondere Rolle zu spielen haben. Ein halbes Jahrhundert nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft markiert dieser Schritt einen großen Aufbruch in eine gemeinsame Zukunft. Diese fünfte und zugleich größte Erweiterung steht für die Attraktivität der europäischen Idee. Endlich überwinden die Europäer die Folgen der fast 50-jährigen schmerzvollen Spaltung in Ost und West. Der Friedensnobelpreisträger Willy Brandt hat mit seiner Ostpolitik eine neue Kultur des Vertrauens begründet, die jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ihre Früchte trägt.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Gerade für uns Deutsche hat diese Erweiterung der Europäischen Union eine besondere Bedeutung. Ohne Unterstützung aus Moskau und Danzig, aus Prag und Budapest wäre die Berliner Mauer wohl nicht gefal

len. Ohne europäische Einigung hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben. Deshalb hat Deutschland eine besondere Verantwortung für Europa, die wir auch gern übernehmen wollen.

Mit der Aufnahme der zehn neuen Mitglieder wächst auch das politische, soziale, kulturelle und ökonomische Potenzial eines ganzen Kontinents wieder zusammen. Meist stehen in den europapolitischen Debatten dieser Tage die ökonomischen Themen, die Risiken und die Chancen im Vordergrund. Andere fallen da ein bisschen zurück. Doch auch die anderen Ziele sollten wir nicht aus dem Auge verlieren: die Wahrung von Frieden und Freiheit, von Demokratie und Wohlstand für die Bürgerinnen und Bürger. Kunst, Kultur, Wissenschaft, Filme, Literatur, das alles wird uns bereichern. Minderheiten werden eine neue Rolle spielen können. Schön für uns ist, dass Deutsch wieder in einem großen Rahmen gesprochen wird. Viele Menschen in den Beitrittsländern sprechen mit einer geradezu atemberaubenden Eleganz unsere Sprache, die wir in deren Sprache niemals erreichen würden. Daher bin ich manchmal ganz beschämt, wenn ich in Estland mit jemandem rede, der Deutsch parliert, dass es geradezu faszinierend ist.

(Beifall im ganzen Haus)

Schaffen müssen wir allerdings auch, dass wir vom Frieden nach außen und von Mahnungen an andere nur dann reden dürfen, wenn wir den Frieden und die Konflikte innerhalb Europas gelöst bekommen. Es gibt bei uns eben noch Regionen, in denen Menschen nicht friedvoll leben wollen und können und andere bedrohen, verletzen, ja sogar mit dem Tode bedrohen.

Wir leben heute allerdings im Großen und Ganzen in einem wohlhabenden und friedlichen Europa, in dem Kriege weit entfernt zu sein scheinen. Andere Regionen der Welt beneiden uns um diesen Zustand. Europa kann zu einem Modell für friedliche und demokratische Entwicklungen in der Welt werden, wenn es zeigt, dass es mit seinen Minderheiten ordentlich umgeht, dass es sich darum bemüht, dass alle die gleiche Chance bekommen, dass junge Menschen eine Ausbildungschance bekommen. Erst dann, wenn wir diese Aufgaben für uns alle im großen Europa lösen, können wir von den anderen erwarten, dass sie bei uns ein bisschen abgucken und es übernehmen.

Die Landesregierung begrüßt in diesem Zusammenhang, dass die Europäische Kommission mit einem neuen Nachbarschaftsprogramm im Besonderen die Zusammenarbeit mit Russland vertiefen will, damit dieses sich nicht ausgeschlossen oder gar von Europa bedroht fühlten.

(Ministerpräsidentin Heide Simonis)

Die Menschen in den Beitrittsländern haben in der letzten Zeit überragende Leistungen erbracht. Angesichts des Hangs der Deutschen, bei Schwierigkeiten zunächst in tiefe Depression zu verfallen, vermag ich mir gar nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn man uns gesagt hätte: Nehmt euer altes System, das ihr kennt, schmeißt es weg und nehmt ein anderes, entgegengesetzt wirkendes. - Ich glaube, wir würden uns heute noch fragen, wer uns das angetan hat, bevor wir überhaupt nur den ersten Schritt getan haben.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Die Menschen im Osten mussten sich innerhalb weniger Jahre in einem radikal anderen Gesellschaftssystem zurechtfinden, und dies unter großen wirtschaftlichen und auch sonstigen Opfern, aber immer in dem Vertrauen darauf, dass am Ende etwas Besseres, etwas wirtschaftlich Sichereres und etwas steht, das in die Zukunft führen wird. Die Umbrüche, die sie erlebt haben, die sie überwunden und gemeistert haben, waren wirklich fundamental und haben das Äußerste von ihnen verlangt.

Die mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer haben in den vergangenen Jahren einen ebenso radikalen wie erfolgreichen Strukturwandel vollzogen, der wirklich unseren Respekt verdient. Sie haben Mut und Gestaltungskraft bewiesen. Sie haben bewiesen, dass sie Visionen haben, und sie haben Ausdauer bewiesen. Wenn man sich das vor Augen hält, dann sollten uns die vielen positiven Erfahrungen aus den neuen Mitgliedstaaten Mut machen. Sie sollten uns im Grunde genommen verbieten, immer nur von den Risiken zu reden, sondern uns ermuntern, auch und in erster Linie von den Chancen zu sprechen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, FDP und SSW)

Schleswig-Holstein begrüßt die neuen EU-Mitglieder. Mit unseren Partnern in der Ostseeregion werden wir unsere erfolgreiche Zusammenarbeit fortsetzen und sie in vielen Bereichen noch intensiver gestalten. Mit der Osterweiterung der EU wächst das Gewicht des Nordens in Europa. Das ist auch gut so; denn auch dazu haben wir ein Stück mit beigetragen. Dazu wollen wir auch in Zukunft mit beitragen. Diese Chancen will die Landesregierung gemeinsam mit Ihnen und den vielen anderen Akteuren im Lande nutzen, für Schleswig-Holstein, für die gesamte Region, für das Mare Balticum und alle Anrainerstaaten, die in der Zwischenzeit gute Freunde von uns geworden sind.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, FDP und SSW und vereinzelt bei der CDU)