Protocol of the Session on March 11, 2004

Förderung der Lesekultur von Kindern und Jugendlichen in Schleswig-Holstein

Antrag der Abgeordneten des SSW Drucksache 15/3274

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall.

Mit diesem Antrag wird ein Bericht der Landesregierung auf dieser Tagung beantragt. Ich darf fragen: Wird beantragt, dass über den Antrag, einen Bericht zu geben, zunächst abgestimmt werden soll? - Die Landesregierung signalisiert jetzt die Bereitschaft zur Abgabe dieses Berichts. Damit ist ein Einvernehmen hergestellt.

Zur Abgabe des Berichts seitens der Landesregierung erteile ich das Wort der Bildungsministerin, Frau Erdsiek-Rave.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gefordert ist ein Bericht. Dafür stehen mir fünf Minuten Zeit zur Verfügung. Deswegen berichte ich in aller Kürze. Möglicherweise wird im Ausschuss Weiteres berichtet.

„300 Grundschulklassen in Schleswig-Holstein nehmen an einem freiwilligen Lesetraining teil“, „Klausdorfer Realschüler gehen regelmäßig in die Gemeindebibliothek“, „Wettbewerb ‚Schöler, leest Platt’“, „Beim Vorlesewettbewerb des deutschen Buchhandels beteiligen sich mehr Schüler als sonst“ - das sind nur ein paar der Schlagzeilen der letzten Wochen, die sich mit diesem Thema befassen. Sie belegen: So engagiert gehen unsere Schulen und die Öffentlichkeit mit der Forderung und dem Ziel, mehr zu lesen,

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

eine andere, eine bessere Lesekultur zu finden, und mit dem PISA-Befund um.

Kitas, Schulen, aber auch Büchereien, Buchhandlungen, Vereine und Verbände sowie viele Einzelpersonen als Vorleser und Märchenerzähler haben ein vielfältiges Angebot entwickelt. Sie alle haben die Querschnittsaufgabe „mehr Lesekultur, mehr Lesen“ angenommen. Ihre Projekte richten sich an Nichtleser und an junge Leser. Denn wir haben zwar Nachholbedarf, aber wir sind kein Entwicklungsland.

Knapp 50 % der Jungen und etwa 75 % der Mädchen - diese Geschlechterdifferenz ist allerdings beachtlich - lesen freiwillig, wie sie in Befragungen im Rahmen der PISA-Studie angegeben haben. Dieses Ergebnis gilt unabhängig von der Schule. Sie gilt insbesondere für Schleswig-Holstein. Unsere 15Jährigen liegen in puncto Leselust deutlich über dem deutschen PISA-Durchschnitt.

Dennoch ist klar: Die Zahl der Nichtleser ist viel zu hoch. Klar ist auch: Wer zu Hause das Lesen und Vorlesen nicht kennt, wer also das entsprechende kulturell anregende Milieu nicht hat, muss für das Buch immer gewonnen werden, damit er in der Schule, in der Ausbildung und im Beruf überhaupt Chancen hat.

(Beifall bei der SPD)

Lesemotivation entsteht aber nicht durch gutes Zureden oder durch Anordnung. Nichts wirkt dabei überzeugender als die Erfahrung, dass Lesen Spaß macht, Freude macht. Deswegen sind Initiativen so wichtig und Kampagnen so willkommen, und zwar solche, die auf die Bedürfnisse vor Ort reagieren und mit dem Kapital vor Ort wuchern, sei es von Amts wegen oder ehrenamtlich. Ich erwähne das Beispiel Kiel-Mettenhof, wo ein ganzer Stadtteil über Wochen hinweg quer durch alle Schulen ein bestimmtes Buch gelesen hat. So etwas kann man nicht von oben verordnen.

Unsere Aufgabe ist es, Strukturen zu schaffen, auf die alle zugreifen können, um flexibel damit umzugehen und sie weiterzuentwickeln.

Wir stärkten und stärken die Lesekompetenz unter anderem durch Fachtagungen und Lehrerfortbildung. Wir fördern eine Studie zur Lesemotivation von Schülerinnen und Schülern der Klassen 5 bis 9, die an der CAU durchgeführt wird, gefördert von der DFG und vom Land unter dem Namen „LISA“. Das Literaturreferat des Ministeriums fördert landesweit die Kinder- und Jugendbuchwochen und das Kinder- und Jugendprogramm des Literaturhauses. Wir unterstützen Autorenlesungen und Schreibwerkstätten in den Schulen durch die Förderung des Friedrich-Bödeker

Kreises. Dies ist übrigens eine hervorragende Initiative, die es wirklich nachhaltig zu fördern gilt.

(Beifall bei SPD und FDP)

Damit niemand das Rad neu erfindet, wenn er für das Lesen wirbt, legen das Literaturreferat meines Hauses und die Fachberaterin Deutsch am IQSH demnächst, das heißt in ein paar Wochen, eine Broschüre mit Hinweisen auf Literaturvermittler, Angebote zur Leseförderung, Arbeits- und Förderkreise, Leselisten, Internetadressen und so weiter vor.

Die Zuständigkeit für die Schulbüchereien liegt bei den Schulträgern. Der Büchereiverein SchleswigHolstein unterstützt sie mit der mobilen Schülerbücherei und mit Themenkisten zur Unterrichtsbegleitung. Auch dies ist eine wichtige Initiative.

Nun noch ein paar Worte zu den aktuellen Vorhaben, über die unsere Schulen bereits durch einen Brief von mir informiert worden sind. Wir haben in Zusammenarbeit mit dem Beltz-Verlag - das ist, wie Sie vielleicht wissen, ein großer Kinderbuchverlag - einen Wettbewerb für Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 3 und 4 ausgeschrieben, bei dem es 125 Leseecken für Klassen zu gewinnen gibt. Wenn Sie bedenken, wie groß die Zahl der Grundschulen ist, die wir im Lande haben, dann kommt fast jede vierte Schule, die mitmacht, in den Genuss eines solchen Gewinns, also einer Leseecke. Ich bedanke mich schon jetzt beim Beltz-Verlag, dass er das ermöglicht hat.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Am besten holt man auch Nichtleser dort ab, wo sie am liebsten sind, oft nämlich vor dem Computer. Deshalb starten wir einen Lesetreff im Internet, und zwar am 23. April, dem internationalen Tag des Buches. Dieser Tag soll in ganz Schleswig-Holstein im Zeichen des Lesens stehen. Ich habe die Schulen bereits dazu aufgefordert. Die Überschrift dieses Tages ist „Schleswig-Holstein liest“. Er soll ein großer Erfolg werden. Das wird er nur, wenn alle dabei mitmachen. Meine Bitte an Sie lautet daher: Fördern Sie jeweils in Ihrem Umfeld, in Ihrem Wahlkreis und vor Ort eine Lesezeit und eine Vorleseinitiative. Fordern Sie dazu auf, machen Sie auch selbst mit. Machen Sie mit bei der Lesezeit, damit das Ganze ein voller Erfolg wird!

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW - Wolfgang Kubicki [FDP]: Frau Ministerin, wir werden Ihnen die Levi- ten lesen!)

Ich eröffne die Aussprache. Für die Antragsteller erteile ich für den SSW im Schleswig-Holsteinischen Landtag Frau Abgeordneter Anke Spoorendonk das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es mag sein, dass dies ein weiches Thema ist. Wenn man aber bedenkt, was uns die PISA-Studie ins Stammbuch geschrieben hat, dann denke ich, dass dies ein ganz wichtiges weiches Thema ist. Insgesamt ist es so, dass die PISA-Studie seit nunmehr zwei Jahren zum festen Inventar jedweder Bildungsdebatte gehört. Wer sich jedoch die Mühe macht, nachzulesen, was bisher hier im Hause zum Thema PISA gesagt wurde, wird eingestehen müssen, dass wir uns nur am Rande und eigentlich nur in der ersten Grundsatzdebatte zu PISA mit dem Lernumfeld der Kinder und Jugendlichen befasst haben. Auf die Kulturtechnik des Lesens bezogen heißt dies, dass es höchste Zeit ist, breiter anzusetzen und den Blick nicht auf die Schule zu verengen.

Schule allein kann das Bild der PISA-Studie nicht ändern. Beim Vergleich der OECD-Länder zeigt sich, dass der Anteil der 15-Jährigen, die angeben, überhaupt nicht zum Vergnügen zu lesen, in Deutschland bei 42 % liegt und von keinem anderen Land übertroffen wird. Eine andere Statistik weist in die gleiche Richtung. Laut PISA kreuzten 54,5 % der Jungen die Aussage an: Ich lese nicht zum Vergnügen. Bei den Mädchen waren es 29 %. In der Begründung habe ich andere Zahlen angegeben, ich habe aber noch einmal nachgelesen.

Aus anderen Studien wissen wir, dass sich Jungen und Mädchen im Grundschulalter im Hinblick auf ihr Interesse am Lesen noch nicht bedeutsam unterscheiden. Wir wissen, dass die allermeisten Kinder am Anfang ihrer Schulkarriere Lust zum Lesen haben. Wann und durch was das Interesse am Lesen verloren geht, ist meines Wissens bisher noch nicht untersucht worden.

Durch PISA wissen wir aber, dass die soziale Herkunft vor allem bei der Lesekompetenz eine zentrale Rolle spielt. Die Unterschiede gehen von oben nach unten weit auseinander und verfestigen sich in den weiterführenden Schulen. Diese wiederum schaffen es nicht, die Schwächen auszugleichen. Bei den Lesetests weichen die Leistungen der Jugendlichen aus Arbeiterfamilien um über 100 Punkte von denen aus der oberen Gesellschaftsschicht ab. Das ist die höchste Abweichung innerhalb der OECD-Studie.

Wir brauchen also eine konzertierte Aktion für die Leseförderung. Ich bin der Ministerin dankbar dafür, dass sie gesagt hat, was schon alles läuft. Ich sehe das als Anerkennung dieses Themas an. Es heißt aber immer noch, dass sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammentun müssen, um ihrer gemeinsamen Verantwortung gerecht zu werden.

Es gilt in erster Linie, das Lesen außerhalb der Schule zielgerechter zu fördern. Dabei verkenne ich gar nicht, dass unter anderem die Stiftung Lesen sowie die Tätigkeiten von Verlagen zusammen mit dem, was wir von der Ministerin gehört haben, seit Jahren hervorragend laufen. Seit Jahren werden hervorragende Kampagnen gefahren. Das ist über alle Zweifel erhaben.

Angesagt ist also Leselust statt Lesefrust. Was sich jedoch so einfach anhört, erfordert nicht nur ein Engagement im Sinne der Stiftung Lesen, sondern auch den Einsatz gesellschaftlicher Ressourcen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist der von einer Bund-Länder-Kommission erarbeitete Aktionsrahmen zur Förderung der Lesekultur. Ich denke, darauf können wir im Ausschuss noch näher eingehen.

Seit PISA wissen wir auch, dass der Bildungsauftrag der Kindergärten genauso wichtig ist wie der unserer Schulen. Anders formuliert: Heute erhalten wir die Rechnung dafür, dass die Bundesrepublik diesen Bereich über Jahrzehnte vernachlässigt hat. Die andere Seite dieses Problems ist nämlich die Tatsache, dass es zunehmend mehr Elternhäuser gibt, in denen die Eltern viel zu wenig erzählen. Aus ganz vielen Untersuchungen wissen wir nämlich, dass das Vorbild der Eltern kaum zu ersetzen ist.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Ekkehard Klug [FDP])

- Das ist so! Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir die gesellschaftliche Entwicklung nicht zurückdrehen können. Darum muss die Arbeit der Kindergärten gestärkt werden.

(Beifall bei SSW, CDU, FDP und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Konkret heißt das, dass der ganze Bereich des Lesens einen höheren Stellenwert in der Ausbildung von Pädagogen und Erziehern erhalten muss.

Auch Bibliotheken sind wichtig. Leider habe ich nicht mehr genug Zeit, dies näher auszuführen. Wir haben Schulbibliotheken. Das reicht aber lange nicht aus. Wir müssen also eine verstärkte Kooperation zwischen öffentlichen Bibliotheken und Schulen haben. Hier ist es kontraproduktiv, dass in den Kommunen gekürzt und gespart wird, dass Gemeinden sich

(Anke Spoorendonk)

aus der Fahrbücherei zurückziehen und dass Öffnungszeiten reduziert werden.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und des Abgeordneten Dr. Henning Höppner [SPD])

Das hängt also eng mit den Forderungen zusammen, die wir in diesem Bereich nach PISA stellen. Ich finde, wir müssen das im Ausschuss detailliert analysieren und uns vielleicht noch konkretere Maßnahmen erzählen lassen.

(Beifall bei SSW, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die Fraktion der SPD erteile ich Herrn Abgeordneten Dr. Ulf von Hielmcrone das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lesekultur setzt die Beherrschung der Kulturtechnik Lesen voraus. Das ist mehr als die Fähigkeit, ein „B“ von einem „P“ zu unterscheiden. Meine Großmutter aus Franken sprach übrigens immer von dem weichen und von dem harten „B“. In der Orthographie aber war sie topp!

Der SSW hat in seinem Antrag und in der Begründung völlig zu Recht auf die bestürzenden Ergebnisse der PISA-Studie hingewiesen. Die dort ermittelte Lesekompetenz setzt sich zusammen aus der Fähigkeit, einem Text Informationen zu entnehmen, diese textbezogen zu interpretieren und über sie zu reflektieren und sie zu bewerten. Mich beunruhigt dabei nicht in erster Linie der 22. Platz, den Deutschland bei der PISA-Auswertung einnahm, sondern dass 10 % der 15-jährigen deutschen Schüler nicht einmal die Kompetenzstufe 1 erreichen. Anders gesagt: Sie sind funktionale Analphabeten.

42 % der Schüler geben an, sie würden nie zum Vergnügen lesen. Nur 13 % lesen nach eigenen Angaben täglich mindestens eine Stunde. Es kann kaum noch überraschen, dass die PISA-Studie den direkten Zusammenhang zwischen der sozialen Stellung des Elternhauses und der Lesekompetenz feststellt. Anke hat drauf hingewiesen. Dennoch wäre es völlig falsch, pauschal festzustellen, dass junge Menschen heute nicht lesen. In meiner Jugend war es Karl May, den wir lasen, auch wenn damals viele Erwachsene sagten, das sei Zeitverschwendung und Schundliteratur. Die Maßstäbe haben sich geändert. Was haben nun Winnetou und Harry Potter gemeinsam? Immerhin

haben sie gemeinsam, dass sie junge Menschen zum Lesen führen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, SSW und des Abgeordneten Jost de Jager [CDU])

Alle drei Jahre wieder, wenn Frau Rowling wieder einen neuen Harry-Potter-Band fertig gestellt hat, der jedes Mal noch umfangreicher ist als der vorangehende, kommen die Druckerpressen kaum nach. Den Buchhändlern werden um Mitternacht fettleibige Bände von mehr als 1.000 Seiten zugestellt, und das immerhin ohne Illustrationen. Sie gehen weg wie die warmen Semmeln. Ich weiß, wovon ich rede. Meine Frau ist Buchhändlerin. Manchmal komme ich mir etwas Potter-geschädigt vor. Sagen Sie es ihr aber bitte nicht weiter! Das zeigt: Es ist eben nicht so, dass der Fisch nicht beißen will, man muss ihm nur den richtigen Köder anbieten.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)