Protocol of the Session on March 11, 2004

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Ministerin hat in aller Kürze eine sehr beeindruckende Liste von Maßnahmen vorgetragen, die im Land zur Förderung der Lesemotivation der Kinder und Jugendlichen ergriffen werden. Auch hier kann ich wieder auf die Erfahrungen meiner Ehefrau zurückgreifen. Sie organisiert nämlich für den nördlichen Landesteil den Vorlesewettbewerb. Vor einigen Jahren hat sie noch darüber geklagt, dass das Interesse nicht sehr hoch sei. Nun hat sich dies entscheidend geändert. Fast alle Schulen, auch die Sonderschulen, alle Gymnasien und Haupt- und Realschulen, beteiligen sich an diesem Lesewettbewerb und nehmen manchmal sehr viele Mühen in Kauf, beispielsweise wenn ein Schüler von Langeneß mit der Lore erst einmal aufs Festland gebracht werden muss. Ihnen und ihren Lehrern sollten wir unsere Anerkennung aussprechen!

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, SSW und des Abgeordneten Jost de Jager [CDU])

Natürlich ist es notwendig, dass Schule und Elternhaus bei der Lesemotivation an einem Strang ziehen. Gemeinsam können sie der Abwehrhaltung vorbeugen, dass der Umgang mit Büchern und mit Texten nur eine lästige Pflicht ist, die man in der Schule absolvieren muss, dann aber möglichst schnell abschüttelt. Sicherlich ist richtig, dass der Umgang mit dem Computer auch Lesetechniken voraussetzt.

Wir müssen uns aber noch viel mehr um Kinder und Jugendliche kümmern, die von Hause aus keine entsprechenden Anreize bekommen. Ich will das Thema

(Dr. Ulf von Hielmcrone)

nicht überstrapazieren. Ich sehe aber auch hier ein wichtiges Tätigkeitsfeld der Ganztagsangebote, denjenigen Schülerinnen und Schülern, denen der Einstieg in die Literatur schwerer fällt als anderen, den Zugang zu erleichtern.

In Schleswig-Holstein ist der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen bei der Lesekompetenz mit knapp 17 Punkten relativ gering. Deutschlandweit sind es 25, im OECD-Durchschnitt sogar 35 Punkte. Die Ministerin hat die Zahlen zur unterschiedlichen Lesemotivation mit 75 % zu 50 % ja bereits genannt. Darüber müssen wir reden. Wir müssen auch darüber reden, warum die Selbstmotivation von Jungen so unzureichend ist.

Wir müssen diesen Bericht im Bildungsausschuss sehr ernsthaft erörtern und vertiefen. Vor vielen 100 Jahren war das Lesen eine Geheimtechnik, die nur wenige kannten. Dazu darf es nicht wieder kommen. Ich bin auch zuversichtlich, dass bei den vielen Aktivitäten, die wir alle gemeinsam unternehmen wollen - die Ministerin hat einen guten Weg beschritten, sodass wir ihr die Leviten nicht zu lesen brauchen -, vorankommen und Lesen weiterhin eine weit verbreitete notwendige Kulturtechnik bleibt und eine Erfindung, die so wichtig ist wie das Feuer oder das Rad.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Das Wort für die Fraktion der CDU erteile ich jetzt Herrn Abgeordneten Uwe Greve.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Was man nicht aufschreibt, ist nie gewesen“, heißt ein deutsches Sprichwort. Das Aufgeschriebene ist das kollektive Gedächtnis des Menschen. Lesen eröffnet uns das Wissen im weitesten Sinne des Wortes vom Lokalen bis zum Weltweiten. Neben der Sprache ist Lesen die zentrale Kulturtechnik überhaupt.

Im Stand der Pflege einer Sprache und der Lesekultur zeigt sich, ob eine Kultur aufsteigt oder verfällt. Unzureichende Sprachpflege in Deutschland und verfallende Lesekultur sind deshalb zwei Seiten derselben Medaille. Was auch in unserem Land verkannt wird, ist die Tatsache, dass lesearme Zeiten immer auch phantasiearme Zeiten sind. Und wo die Phantasie verkümmert, verkümmert die Innovationskraft. Und wo die Innovationskraft verkümmert, ist der wirtschaftliche Niedergang vorgezeichnet. Das ist die Realität, die sich mit diesem Thema verbindet.

Von den zahlreichen schon genannten Ursachen, die zu der heutigen Misere geführt haben, möchte ich keine wiederholen. Ich möchte nur eine hinzusetzen, und zwar die negative Besetzung des Begriffes „Leistung“ durch die Bildungsreformer der 70er- und 80erJahre.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU - Wider- spruch bei der SPD)

Das ist ein zentrales Thema. Deshalb muss es immer wieder einmal ins Gedächtnis zurückgerufen werden. Das Gerede vom angeblich übertriebenen Leistungsdruck war ein bedeutendes Signal für die Reduzierung von Anforderungen an Schüler nicht nur im Bereich von Sprache und Lesen, sondern auch in anderen Bildungsfeldern, zum Beispiel der Mathematik, der Geschichte und anderen Fächern.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

Viele dieser Defizite sind bis zum heutigen Tage nicht ausgeräumt.

„Wer nicht liest“, so sagt ein thailändisches Sprichwort, „erfährt nichts über schlechte Erfahrungen vergangener Generationen und muss sie deshalb leidvoll wiederholen“. Ein Beispiel. Hätten die mittelalterlichen Bürgermeister das in den Bibliotheken der Klöster erhaltene antike Wissen über Hygiene genutzt, hätte es das Drama von Pest- und Cholera-Epidemien in Europa und in Deutschland nie gegeben und Millionen von Menschen wären am Leben geblieben. Wissen darüber wäre in Büchern vorhanden gewesen!

Die Pflege der Lesekultur muss deshalb wieder eine zentrale Aufgabe unserer Bildungspolitik sein. Dieses Bildungsziel ist leichter erreichbar als andere. Denn Lesen - die Ministerin hat es sehr schön gesagt - ist auch etwas, was froh macht, was heiter macht und was man als eine positive Freizeitbetätigung bezeichnen könnte. Lesen, hat Goethe gesagt, bringt „Erkenntnis und Belehrung“, aber auch „Genuss und Belebung“. Das Letztere haben Sie bereits erwähnt.

(Günter Neugebauer [SPD]: Da hat er Recht!)

Wer die Lesekultur fördern will, kommt mit Lesewettbewerben und all den vielen Beispielen, die Sie genannt haben, nicht aus. Jedes dieser Beispiele ist richtig und gut. Aber es gehört noch einiges mehr dazu. Besonders wichtig erscheint es mir, dass im Deutschunterricht, nachdem Kinder die Technik des Lesens erlernt haben, das Lesen von Novellen, Erzäh

(Uwe Greve)

lungen und Gedichten wieder eine größere Rolle spielt.

(Beifall des Abgeordneten Manfred Ritzek [CDU])

Wer die Lesekultur fördern will, muss sich aber auch Fernsehsendungen am Nachmittag vorstellen können, in denen Märchen und Geschichten erzählt werden, in denen zum Beispiel auch Jugendschriftstellerinnen und -schriftsteller aus ihren Büchern vorlesen. Das würde die Phantasie der zuschauenden Kinder erhöhen und insbesondere dazu beitragen, dass der negative Einfluss von Zeichentrickfilmen, die unsere Kinderprogramme in so großer Anzahl prägen, zurückgedrängt wird.

(Beifall bei der CDU)

Wer die Lesekultur fördern will, muss auch grundsätzlich unserer Sprache wieder einen höheren Wert zumessen. Eine der großen Aufgaben der deutschen Kulturpolitik ist deshalb, ein deutsches Sprachinstitut zu gründen, in dem unsere Sprache endlich wieder systematisch gepflegt wird. In Italien gibt es ein solches Institut seit 1560, in Frankreich mit der Akademie Francaise seit 1635. Wir überlassen die Fortentwicklung der Sprache derzeit der Werbung oder oft auch fragwürdigen sprachlichen Rittern des Zeitgeistes.

Wer die Lesekultur fördern will, muss sich auch mit dem Elend der deutschen Jugendzeitschriften auseinander setzen. Wer die drei auflagenstärksten in die Hand nimmt - „Bravo“, „Starflash“ und „Mädchen“ -, findet ein Gemisch von Starkult, Konsumanimation und Frühsexualisierung in einer Sprache, die die englische Sprachwissenschaft heute ironisch als „Denglish“ und nicht mehr als Deutsch bezeichnet. Sachbuch und Literatur, aber auch Baukunst und Malerei oder populäre Wissenschaft kommen in diesen Zeitschriften überhaupt nicht vor. Wenn wir uns von dieser Situation weiterhin nur resigniert abwenden, wird sich daran nichts ändern. Die Politik muss den Mut haben, sich endlich einmal stärker mit den Verantwortlichen für diese Zeitschrifteninhalte kritisch auseinander zu setzen.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

Nicht zuletzt kann sich - spezifisch für SchleswigHolstein - das von uns vorgeschlagene Literaturfestival positiv auf die Lesegewohnheiten in unserem Land auswirken. Angedacht ist, dass Schriftsteller, Dichter und Autoren vormittags in Schulen kommen und mit den Schülern lesen und diskutieren. Impulse solcher Art können das Interesse am Lesen allemal stärken.

Ich bin der Überzeugung, Frau Spoorendonk: Das ist kein weiches Thema, sondern ein durchaus zentrales Thema. Ich freue mich, dass Sie es aufgegriffen und wir es endlich systematisch diskutieren können und vorantreiben wollen.

(Beifall bei CDU und FDP)

Das Wort für die FDP im Schleswig-Holsteinischen Landtag erteile ich dem Abgeordneten Dr. Ekkehard Klug.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Förderung der Lesekultur, das ist ein viel wichtigeres Thema, als manche vermuten mögen. Wer nämlich hier etwas voranbringt, der nutzt der Bildung viel mehr als durch alle Vorschläge, dieses oder jenes im Bildungswesen anders zu organisieren. Denn hier geht es um den Zugang zu Bildungsinhalten und damit um eine wesentliche Voraussetzung zum Erwerb von Bildung. Die Kulturtechnik Lesen ist ein Schlüssel, der die Tür zur Bildung öffnet.

(Beifall)

Die PISA-Studie, aber auch wissenschaftliche Untersuchungen der Stiftung Lesen haben eindeutig gezeigt: Nicht nur die Lesefähigkeit, sondern auch die Bereitschaft und das Interesse am Lesen sind in Deutschland rückläufig, und zwar in einem erschreckenden Tempo. Spektakuläre Bestsellerauflagen wie die der Harry-Potter-Bücher können nicht darüber hinwegtäuschen, dass immer weniger Menschen viel lesen, viele jedoch immer seltener ein Buch zur Hand nehmen.

Bei den schleswig-holsteinischen Schülern liegt der Anteil der schwachen Leser, die allenfalls simple Texte verstehen, mit mehr als 26 % sogar noch über dem Bundesdurchschnitt von 23 %. In Bayern beträgt der Anteil der schwachen Leser bei den 15-jährigen Schülern 14,5 %. Um diesen Trend zu stoppen, bedarf es einer bildungspolitischen Strategie, an der viele mitwirken müssen, Eltern, Erzieher in Kindertageseinrichtungen, Lehrer in den Schulen, Träger von Schulbibliotheken und öffentlichen Büchereien.

Wesentliche Weichenstellungen erfolgen bereits im Vorschulalter durch Vorlesen und auch den Umgang mit Bilderbüchern, die die Phantasie und die Neugier der Kinder wecken. Hier liegt auch der wesentliche Beitrag der Eltern, aber natürlich auch der Kindergärten, den diese zur Förderung der Lesekultur liefern müssen. Niemand kann ernsthaft behaupten, dafür

(Dr. Ekkehard Klug)

keine Zeit zu haben. Schließlich sitzen deutsche Erwachsene im Durchschnitt täglich zweieinhalb Stunden vor dem Fernseher, und manche Kinder verbringen noch viel mehr Zeit pro Tag vor dem Flimmerkasten.

Meine Damen und Herren, die Arbeit der Grundschulen wird extrem erschwert, wenn nicht zuvor in den Familien, aber auch in den Kindertageseinrichtungen die nötigen Bildungsgrundlagen geschaffen worden sind. Dazu zählt eben auch das Fundament der Lesekultur, das bereits im Vorschulalter angelegt werden muss. Zum Bildungsauftrag der Grundschule gehört vor allen Dingen die Vermittlung der Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen. Darauf muss die Arbeit der Grundschulen auch durch Überarbeitung der Lehrpläne besser als bisher ausgerichtet werden. Die Grundschule muss auch in der Lage sein, Defizite bei Lesefähigkeit und Textverständnis frühzeitig festzustellen und sie durch individuelle Förderung der Kinder auszugleichen. Auch in den Betreuungszeiten außerhalb des Unterrichts, auch in Ganztagsangeboten, auch im Rahmen der Betreuung in Grundschulen sollte der Umgang mit Texten und Büchern unterstützt werden, etwa durch die Einrichtung von Leseecken und Schulbüchereien.

Lesen ist auch Anstrengung und nicht nur ein Vergnügen. Die kulturelle Technik, abstrakte Symbole zu entziffern, ist erst rund 5.000 Jahre alt. Erst im vorletzten Jahrhundert, im 19. Jahrhundert, wurden Lesen und Schreiben mit der Durchsetzung der Schulpflicht ein allgemeiner Bildungsstandard. Lesen ist eine Kulturtechnik; also durchaus nicht natürlich. Nur wenn Kinder neugierig sind und neugierig gemacht werden auf das, was sie sich beim Lesen erschließen können, werden sie die Anstrengungsbereitschaft entwickeln, die das Lesen erfordert und die auch natürlich den Verzicht auf allgemein verfügbare leichtere Unterhaltungsangebote voraussetzt.

(Vereinzelter Beifall bei der FDP)

Erfolgreiche Pädagogik überwindet diese Hürde, indem sie Kinder auf den Inhalt guter Bücher neugierig macht und ihnen die Freude am Lesen vermittelt. Susanne Gaschke hat dies in ihrem Essay „Kinder brauchen Bücher und Eltern, die das begreifen“ so formuliert:

„Die einfache Kunst des Lesens hat im Klima des ökonomisch motivierten Nützlichkeitswahns nur eine Chance, wenn sie sich modisch als Kompetenz tarnt und irgendwie zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts beizutragen scheint. Die mögliche Frucht des Lesens, nämlich Bildung, spielt in der Diskus

sion nach PISA keine Rolle. Und gar über den Genuss beim Lesen zu sprechen, über Freude an Büchern, an Märchen und Romanen klänge in der diffusen Schulkrisenstimmung geradezu frivol.“

Wenn Kinder und Jugendliche Freude am Lesen haben, werden sie auf ihrem Bildungsweg umso eher bereit und in der Lage sein, sich auch schwierigere Lesestoffe zu erschließen. In einem Interview mit der „Zeit“ hat die Bildungsforscherin Elsbeth Stern festgestellt:

„Wenn ich lernen will, Texte zu lesen und zu verstehen, muss ich eben anspruchsvolle Texte lesen und interpretieren.“

Auf die Inhalte der Bildung kommt es an, nicht nur, aber erst recht auch bei der Entwicklung der Lesekompetenz.

(Beifall)