Protocol of the Session on December 8, 2011

Ja. Ich möchte den Satz aber erst beenden. Wir haben 7,84 Millionen atypische Beschäftigungsverhältnisse, das heißt, fast jeder Dritte abhängig Beschäftigte in Deutschland ist in einem atypischen Beschäftigungsverhältnis tätig. Jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte arbeitet zu einem Niedriglohn. 1,35 Millionen Erwerbstätige müssen ihr Arbeitseinkommen mit ALG II, mit Hartz IV aufstocken. Dann wehren Sie sich immer noch gegen einen gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro, was gerade einmal 1.350 Euro brutto im Monat bedeutet. Ich frage mich, was daran noch sozial ist. Geben Sie Ihre Blockade doch endlich auf, Kolleginnen und Kollegen von der CDU!

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Herr Kollege Baldauf, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.

Herr Kollege, unabhängig davon, dass in dem Antrag drei Gesetze genannt sind, frage ich Sie: Geben Sie mir recht, dass diese Regelung zu Hartz IV von der rotgrünen Koalition in Berlin gemacht wurde?

(Beifall und Zuruf der Abg. Frau Klöckner, CDU: Genauso ist es!)

Geben Sie mir auch recht, dass das Bundesurlaubsgesetz, das Entgeltfortzahlungsgesetz und das Arbeitszeitrecht unter Rot-Grün geändert wurden?

(Beifall der CDU – Hoch, SPD: Natürlich, bei der CDU passiert überhaupt nichts! – Frau Klöckner, CDU: Jetzt sind wir beim Thema! – Dr. Weiland, CDU: Historische Wahrheiten! – Billen, CDU: Aber es ist noch schöner, ihn sprachlos zu sehen! – Weitere Zurufe von der CDU – Glocke der Präsidentin)

Das Wort Herr Kollege Köbler.

Ich wollte einmal hören, ob Sie noch etwas Sinnvolles dazu beizutragen haben.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Soweit ich mich erinnern kann, wurde damals die Reform des SGB II mit den Mehrheiten der Fraktionen der SPD, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU verabschiedet. Mindestens zwei Parteien haben auf ihren Bundesparteitagen, nämlich die SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, erkannt, dass es soziale Auswüchse und Mängel in der Gesetzgebung gibt. Sie haben entsprechende Beschlüsse gefasst, dass sie dann, wenn sie 2013 wieder an die Regierung kommen, das entsprechend ändern. Diese Einsicht ist bei Ihnen offensichtlich nicht angekommen. Zumindest haben Sie sich heute entsprechend geäußert.

Meine Damen und Herren, Menschen, die in Vollzeit arbeiten, müssen von dieser Arbeit auch leben können. Eine Studie des von Ihnen im Bund verantworteten Arbeitsministeriums zeigt, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns keine negativen Folgen auf den Arbeitsmarkt hat. Das heißt, glauben Sie doch endlich einmal Ihre eigenen Fakten. Legen Sie Ihre ideologischen Scheuklappen ab.

Gehen Sie bei dem gesetzlichen Mindestlohn mit und schließen Sie keinen Wischiwaschi-Kompromiss wie auf Ihrem Bundesparteitag, von dem am Ende keiner leben kann. Sagen Sie, das ist die Untergrenze beim gesetzlichen Mindestlohn. Er ist keineswegs ein Eingriff in die Tariffreiheit, sondern eine Stärkung für die Tarifverhandlungen, weil er alle Branchen betrifft und dort greift, wo die Organisationsgrade bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht so hoch sind.

Es ist vor allem eine soziale Verpflichtung des Gesetzgebers, den Tarifparteien eine Untergrenze vorzugeben. Alles, was darüber hinaus abgeschlossen wird, wird selbstverständlich gerne von der Politik zur Kenntnis genommen und in Rheinland-Pfalz im Tariftreuegesetz und bei der öffentlichen Vergabe entsprechend angewendet. Ich glaube, wir können stolz darauf sein, dass wir im Land Vorreiter sind, was diese Thematik angeht.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich komme zum letzten Satz. Natürlich kann man nicht alles mit Gesetzen regeln. Es kommt auch auf den Vollzug und die gelebte Praxis in den Betrieben an. Deswegen muss sich die Politik der Diskussion über gute Arbeit stellen

(Glocke der Präsidentin)

und sie immer wieder dort führen, wo sie nicht praktiziert wird. Deshalb ist es gut, dass wir heute darüber sprechen und feststellen, dass es bei den Paketzustellern keine Arbeitsbedingungen im Sinne von guter Arbeit gibt. Wir möchten die Landesregierung auffordern und dabei unterstützen, in diesem Sinne weiterhin aktiv zu bleiben.

Herzlichen Dank.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Für die Landesregierung hat Frau Staatsministerin Dreyer das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Herren und Damen Abgeordnete! Ich möchte mich zunächst einmal bei der SPD-Fraktion und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehr herzlich für diesen Antrag bedanken. Ich möchte auch erklären warum. Ich finde, es ist ein bisschen zum Schämen, wie dieses Thema heruntergeredet wird.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben im April erlebt, dass in Mainz vier Subunternehmer eines Paketdienstes, der allerorts bekannt ist, aufgrund der Knebelverträge gestreikt haben, die in diesem Bereich gang und gäbe sind. Wir haben erlebt, dass nach dem Streik den Personen gekündigt worden ist, weil es selbstverständlich in den Unternehmen nicht gern gesehen wird, wenn man auf die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich hinweist.

Meine sehr verehrten Herren und Damen, das ist Grund genug, einfach einmal dahinter zu schauen. Frau Dr. Machalet hat es schön dargestellt. Wir gehören alle der Generation an, die online bestellt. Auch meine Mutter tut das inzwischen. Es ist das Geschäft der Zukunft, dass wir uns sehr stark neben dem Einkaufen in der Stadt dieser Online-Dienste bedienen. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, was danach passiert.

Was danach passiert, ist gut beschrieben worden. Es gibt bekannte Paketzusteller, die einen Subunternehmer haben. Der Subunternehmer hat einen Subunternehmer usw. Das ist meistens eine Person. Dort herrschen Verhältnisse, die man nicht gutheißen kann, Herr Baldauf. Man kann als Parlamentarier nicht sagen, was können wir dagegen tun. Wir können verdammt viel dagegen tun. Ich will Ihnen einiges aufzeigen.

Vorher möchte ich Ihnen zwei Beispiele zu Gemüte führen. In einem Fall wird von einem Fahrer berichtet, dem entgegen der abgeschlossenen vertraglichen Vereinbarung, die die Bezahlung eines Stundenlohnes vorsieht, tatsächlich nur die gelieferten Pakete vergütet werden. Der Preis pro Paket wird mit 60 Cent angegeben, wobei die Bezahlung auch nur dann erfolgt, wenn das Paket auch ausgeliefert wird. Die Zeiten des Be- und Entladens bleiben genauso wie die Kosten für die Autoanschaffung, das Benzin, die Steuern, die Versicherung und die Reparaturen usw. unberücksichtigt. Der Krankheits- und Urlaubsfall wird auch nicht einbezogen. Solche Fahrer kommen alles in allem am Ende im Schnitt auf einen Stundenlohn von 3 Euro.

Bei dem anderen Fall geht es um einen Fahrer, der den vereinbarten Stundenlohn erhält. Dieser hat allerdings eine gewisse Anzahl von Paketen auszuliefern und ist mindestens 13 oder 14 Stunden unterwegs, um sie ausliefern zu können. Das ist auch eine Möglichkeit,

geringe Löhne zu bezahlen; denn auch dann kommt man nur auf einen Stundenlohn zwischen 3 Euro und 4 Euro.

Meine sehr geehrten Herren und Damen, wir leben heute in einer Zeit, in der uns das Internet sehr viel möglich macht. Deshalb haben wir auch die Verpflichtung hinzuschauen, wie die Arbeitsverhältnisse derer sind, die uns die Pakete nach Hause bringen. Deshalb gibt es eine Lösung.

Es ist mir klar, dass Sie nach dem Beschluss der CDU zur Lohnuntergrenze keine Phantasie dazu haben; denn diese Lohnuntergrenzen bringen überhaupt nichts. Ich glaube, Frau Dr. Machalet oder Herr Köbler haben gesagt, dass dies ein gutes Beispiel dafür ist zu zeigen, wie wenig es bringt, in bestimmten Branchen irgendetwas regeln zu wollen.

Wir brauchen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Das bringt nicht nur den Beschäftigten, sondern auch den Sozialversicherungssystemen und den jeweiligen Subunternehmen etwas; denn sie befinden sich nicht in der Klemme, permanent in der Lohnspirale nach unten mithalten zu müssen und das an ihr Personal abzudrücken.

Das hat auch mit der Frage eines fairen Wettbewerbs auf unserem Markt zu tun. Ich finde, deshalb ist es ein bisschen scheinheilig zu sagen: „Frau Machalet, wenn Sie dort bestellen, müssen Sie doch wissen, dass das Paket für nichts ausgeliefert wird.“ Natürlich haben wir die Verantwortung zu betrachten, wer ausliefert. Wenn Sie bei Amazon oder Zalando bestellen, sehen Sie immer, dass unten auf den kleinen Schildchen die Paketlieferanten stehen.

Hier gibt es große Unterschiede. Es gibt auch einen großen Paketlieferanten, der Tarifverträge und Festangestellte hat. Dieser behandelt seine Leute anständig. Natürlich müssen wir als Konsumenten darauf achten. Aber machen Sie sich doch nichts vor. Wir können doch nicht als Konsumenten allein über den Weg der Kontrolle dafür sorgen, dass diese durchlässigen Systeme nicht immer wieder in der Wirtschaft zum Missbrauch genutzt werden. Deshalb plädiere ich für den gesetzlichen Mindestlohn, weil wir nicht in der Lage sind, in jeder Branche zu überprüfen und zu schauen, ob der jeweilige Mindestlohn oder die Lohnuntergrenze, die festgelegt worden sind, auch eingehalten werden.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich komme zum letzten Punkt. Herr Pörksen hat es schon in einer Kurzintervention klargestellt.

Herr Baldauf, ich finde, es ist unverschämt, dass Sie das im Zusammenhang mit der Bereitschaftspolizei vortragen, was durch den Innenminister klargestellt worden ist. Selbstverständlich hält sich die Landesregierung an Tariflöhne. Auch wenn Sie sich in dem Bereich wenig auskennen, ist es nun einmal so, dass es auch dort Veränderungen in den Löhnen gibt.

Aufgrund des Tarifvertrags zur Regelung der Mindestlöhne – ich denke, eher Tariflöhne – für die Sicherstellungsdienstleistungen am 11. Februar 2011 ist die Zahlung eines höheren Tariflohns fällig geworden. Wir waren auch verpflichtet, das zu tun. Vergaberechtlich war das nicht ohne Weiteres möglich. Deshalb wurde der Vertrag im gegenseitigen Einvernehmen aufgelöst. So einfach ist das.

Ich sage Ihnen noch etwas. Im Bewachungsgewerbe gibt es inzwischen Tariflöhne, die je nach der Qualifikation der Menschen unter 8,50 Euro liegen. Selbst wenn Sie Verträge mit Qualifikationsstufen nach 8,50 Euro abschließen, können Sie neben den Leuten – ich weiß nicht, wie viele beschäftigt sind – herlaufen und fragen, ob jemand, der gerade mit dieser Qualifikation beschäftigt ist, tatsächlich den Lohn bekommt oder ob das nicht der Fall ist. Der Auftragnehmer hat doch überhaupt kein Problem damit, Aushilfen oder andere Personen zu schicken und so zu tun, als würde er es einhalten. Schieben Sie bitte nicht die Verantwortung für einen ordentlichen Lohn auf die Kontrolle von Branchentarifverträgen!

Das werden wir nie durchhalten, und wir können es auch nicht kontrollieren. In einem Kleinbetrieb, wie mein Ministerium es ist, kann man es noch; denn dort trifft man die Leute noch auf dem Flur. Da kann man sagen: Ach, ich habe Sie noch nie gesehen. Was verdienen Sie eigentlich?

Aber wollen Sie in einem Unternehmen, in dem beispielsweise 100 Leute bewachen, nachts persönlich herumlaufen und fragen, ob der Unternehmer Aushilfen geschickt hat oder nicht oder ob die alle wirklich 8,50 Euro bekommen? – Nein, das ist ein ganz klares Plädoyer dafür, dass das, was Sie beschlossen haben, das, wofür Sie hier eintreten, in der Praxis nicht funktionieren kann.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Es kann nur funktionieren, wenn man einen klaren gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro hat, der für alle gilt. Da gibt es kein Wenn und kein Aber.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein letzter Punkt. Herr Baldauf, es ist immer ein spezieller Spaß der CDU, daran zu erinnern, was in der rotgrünen Bundesregierung alles beschlossen worden ist.

(Baldauf, CDU: Das machen Sie nie!)

Dann frage ich mich immer: Was ist eigentlich für Sie der Mehrwert? – I am sorry.

(Zuruf des Abg. Baldauf, CDU)

Ich bin doch Politikerin, und ich muss nach fünf oder sechs Jahren überlegen: Ist das, was da beschlossen wurde, heute noch die richtige Maßnahme für die heutige Zeit?

(Zuruf des Abg. Baldauf, CDU)

Mir tut es leid, wenn ich als Politiker oder Politikerin nicht merke, dass sich Zeiten verändern. Wenn sich Zeiten verändern oder sich Instrumente anders entwickelt haben, als man es sich vorgestellt hat, dann ist es die verdammte Pflicht eines Politikers, es zu ändern.