Protocol of the Session on April 29, 2010

Weitere Wortmeldungen sehe ich nicht.

Wir kommen nun zum zweiten Thema der

AKTUELLEN STUNDE

„Beitrag des Projekts ,Keiner ohne Abschluss’ zur Senkung der Schulabbrecherquote“ auf Antrag der Fraktion der FDP – Drucksache 15/4503 –

Das Wort hat Frau Kollegin Morsblech von der FDPFraktion.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! In Rheinland-Pfalz gab es im Schuljahr 2008/2009 3.076 Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss. Das waren damals 6,7 %. 2.725 Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss absolvierten im Schuljahr 2009 ein Berufsvorbereitungsjahr an einer berufsbildenden Schule, andere befanden sich in Maßnahmen von Bildungsträgern, die durch die Bundesagentur für Arbeit gefördert werden. Gleichzeitig startete im Sommer 2009 das von der Landesregierung geförderte Projekt „Keiner ohne Abschluss“ an zwei Schulstandorten in unserem Land. An jedem dieser Standorte sollten etwa 16 Schülerinnen und Schüler, die das 9. Schuljahr ohne den Abschluss der Berufsreife beendet hatten, Gelegenheit bekommen, in einem weiteren 10. Schuljahr diesen Abschluss zu erlangen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind uns in diesem Haus einig, dass 3.076 junge Menschen ohne Abschluss 3.076 zuviel sind. Ich glaube, auch allen vertretenen Fraktionen und Akteuren zubilligen zu können, dass sich jeder nach seinem Vermögen bemüht, diese Zahl zu senken. Wir müssen alle gesellschaftlichen Anstrengungen ausschöpfen, damit jeder Jugendliche in Rheinland-Pfalz mit einem Schulabschluss und damit überhaupt mit der Möglichkeit, in das Berufsleben zu starten und eine Ausbildung zu beginnen, von der Schule abgeht. Gerade Schülerinnen und Schüler aus sogenannten Multiproblemfamilien oder junge Menschen, um die sich zu Hause niemand kümmern kann, die niemand fördern kann und die sich in einem schwierigen sozialen Umfeld bewegen, die überhaupt nicht die Möglichkeit bekommen, eine Motivation zu entwickeln, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, brauchen frühere Chancen und viele Chancen in unserem Bildungssystem.

(Beifall der FDP)

Wenn ich mir die Konzeption des Projekts „Keiner ohne Abschluss“ ansehe, stelle ich auch überhaupt nicht infrage – auch nicht im Hinblick auf die dort engagierten Lehrerinnen und Lehrer, Schulsozialarbeiter und andere Beteiligte vor Ort –, dass dieses Projekt eine Chance sein kann, um jungen Menschen die Möglichkeit zu einem Schulabschluss zu eröffnen. Was ich allerdings sehr wohl infrage stelle, ist, ob diese Landesregierung mit der Schulpolitik der vergangenen vier Jahre insgesamt wirklich dazu beigetragen hat, mehr Schülerinnen und Schüler, die gefährdet sind, ohne Abschluss von ihrer Schule abzugehen, einen besseren Rahmen, eine Chance zu bieten, eine individuelle Förderung zur Verfügung zu stellen, die dazu beiträgt, dass mehr dieser jungen Menschen eine wirkliche Chance bekommen, ihren Schulabschluss zu erreichen. Diese Frage kann man durchaus stellen.

Was ist passiert?

Viele überschaubare kleine Schulen, Hauptschulen mit kleinen Lerngruppen, mit engagierten Pädagoginnen und Pädagogen, vor allem aber auch mit einem engen und überschaubaren Bezug zum sozialen Umfeld, zu den Eltern und zu den Betrieben vor Ort in der jeweiligen Region, werden jetzt in größere Schulverbände überführt oder verschwinden völlig aus der Fläche. Gerade diese kleinen Hauptschulen haben aber eine direkte und intensive, individuelle Förderung gerade von abschlussgefährdeten jungen Menschen ermöglicht.

Wenn Sie die Schillerschule in Kaiserslautern oder die Goetheschule in Mainz als Beispiel nehmen, aber auch Schulstandorte, die vor Ort im ländlichen Raum gut verankert waren, spürt man bei den Lehrerinnen und Lehrern, in den Kollegien und bei den dort tätigen Schulsozialarbeitern, aber auch bei den Eltern, von denen uns Zuschriften erreichen, dass sie tief betroffen sind, dass ihre Schulstandorte von der Bildfläche verschwinden sollen. Die Presse spricht teilweise sogar von einem Schockzustand. Diese Schulen sind Kernbestandteil wichtiger sozialer Bündnisse in ihren Vierteln oder in ihrer Gemeinde und sind dort eigentlich auch mit dieser Aufgabe nicht wegzudenken, und sie haben im Rahmen Ihrer Schulpolitik gar keine Chance mehr, sich um diese jungen Menschen zu kümmern.

Gleichzeitig verkauft diese Landesregierung neben dieser Politik ihr kleines Projekt „Keiner ohne Abschluss“ als die Möglichkeit, in der Fläche mehr Chancen zu schaffen. Wenn man sich die Relation anschaut, wenn Sie das Projekt nun auf fünf Standorte erweitern werden, werden maximal rund 3 % der abschlussgefährdeten jungen Menschen dort eine Chance bekommen. Dies ist eine Relation, in die man dieses Projekt meiner Ansicht nach in diesem Haus auch einmal setzen muss.

(Beifall der FDP – Glocke des Präsidenten)

Danke schön für den Hinweis!

Sie konzentrieren Ihre Schulpolitik auf eine Reform, die zunächst einmal keine Chancen schafft.

(Glocke des Präsidenten)

Ich werde gleich näher darauf eingehen. Ich glaube, dass Sie im Kerngeschäft etwas sorgfältiger sein müssen, wenn Sie tatsächlich engagiert in dieser Frage sein wollen.

(Beifall der FDP)

Das Wort hat nun Herr Abgeordneter Wehner von der SPD-Fraktion.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich möchte es gleich vorwegnehmen. Auch das Projekt „Keiner ohne Abschluss“ ist meiner Meinung nach nicht das Patentrezept, mit dem wir alle unsere Schülerinnen und Schüler auf dem kürzesten und auf dem direkten Weg zu einem Schulabschluss bringen werden. Vielmehr müssen wir es als weiteres Zusatzangebot, als ein Mosaiksteinchen begreifen. Die Kollegin Morsblech hat es eben gesagt, wir müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen – ich denke, es ist eine dieser zusätzlichen Möglichkeiten –, eine neue Chance zu bieten.

In unseren Anstrengungen, die Quote der Schulabgänger ohne Abschluss weiter zu senken, müssen wir die unterschiedlichsten Wege gehen; denn es darf nicht sein – darauf haben Sie auch schon hingewiesen, da sind wir uns alle einig –, und wir können es uns nicht leisten, 7 % eines Jahrgangs ohne eine Perspektive auf ein eigenständiges Berufsleben zu entlassen.

Eigentlich ist das ein kleines Drama, das von der breiten Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wird. Aber allein schon aufgrund des demografischen Wandels dürfen wir uns das gar nicht leisten. Wenn ich einmal mit Genehmigung des Präsidenten den VBE zitieren darf: Uns darf hier niemand verloren gehen. –

(Vereinzelt Beifall bei der SPD)

Es gilt also, diese große Herausforderung zu meistern. Dazu haben wir auf der einen Seite die berufsbildenden Schulen, die sich mit hoher Kompetenz und mit großem Engagement intensiv um diejenigen kümmern, die neun, zehn Jahre oder länger in einer allgemeinbildenden Schule waren und danach oft die Nase voll haben. Darunter sind einige, die diesen Schnitt brauchen. Sie benötigen diesen Systemwechsel. Sie müssen da raus und können dann noch einmal durchstarten und haben noch eine neue Motivation.

Die berufsbildende Schule ist für diese Schülerinnen und Schüler genau der richtige Ort und ermöglicht mit dem Berufsvorbereitungsjahr diese zweite oder auch die dritte Chance. Deshalb muss das aus unserer Sicht auch so bleiben.

Auf der anderen Seite haben wir in Rheinland-Pfalz die Realschule plus mit ihrem ausgeprägten Profil der Berufsorientierung durch ein qualifiziertes System an Wahlpflichtfächern. Frau Morsblech, es ist doch eben

nicht so, dass wir uns nicht um die Hauptschulen gekümmert haben. Wir haben uns um die Hauptschulen gekümmert. Es fehlte schlichtweg die Akzeptanz. Sie war nicht mehr da. Wir hatten doch kaum noch Anmeldungen an der Hauptschule. Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen.

(Zuruf der Abg. Frau Morsblech, FDP)

Deswegen war die Einführung der Realschule plus der richtige Weg gerade auch unter demografischen Gesichtspunkten.

Flankiert ist hier an der Realschule plus die individuelle Förderung als Prinzip. Das Projekt „Keiner ohne Abschluss“ ist an der Realschule plus in Rheinland-Pfalz von Beginn an eingebettet in eine Lernumgebung, die sich bei uns an den Schülern und Schülerinnen orientiert.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, was beinhaltet das Projekt noch? Ich möchte es noch einmal kurz zusammenfassen. „Keiner ohne Abschluss“ ist mit einem verpflichtenden Ganztagsschulangebot verbunden. In den Klassen sitzen in der Regel deutlich weniger als 20 Schülerinnen und Schüler. Es gibt eine wöchentliche Teilnahme der Jugendlichen am Praxistag, eine intensive Kooperation mit Betrieben, die eine besondere Praxisnähe und eine vertiefte Orientierung an der Berufswelt ermöglicht, zum Beispiel durch längere Praktika.

In diesem Zusammenhang möchte ich den ausdrücklichen Dank der SPD-Fraktion an die Unternehmen und an die Partner ausrichten; denn alleine kann man ein solches Projekt nicht meistern.

(Beifall bei der SPD)

Wie schon gesagt, die Realschule plus mit dem Projekt „Keiner ohne Abschluss“ wird nicht der Königsweg sein. Aber das, was sich bei den Pilotschulen in RansbachBaumbach und Ramstein-Miesenbach als Ergebnis jetzt abzeichnet, macht Mut. Diesen Mut sollten wir uns nicht nehmen lassen, sondern wir sollten diesen Weg weitergehen; denn ich denke, das haben sich unsere Jugendlichen verdient.

Ich bin deshalb froh, dass das Projekt ausgebaut wird – ich glaube, die Ministerin wird dazu sicherlich noch das eine oder andere Detail sagen – und drei zusätzliche Schulen mitmachen können, damit weitere Erfahrungen in dieser Hinsicht gesammelt werden können.

Wir sind der Meinung, dieses System muss langsam – „langsam“ ist vielleicht der falsche Ausdruck –, nicht zu schnell ausgebaut werden. Wir wollen erst einmal Erfahrungen sammeln.

Den wegen ihres überzeugenden Konzeptes ausgesuchten Schulen, den Realschulen plus in LautereckenWolfstein, Bad Sobernheim und der kooperativen Gesamtschule in Bad Bergzabern, wünsche ich von dieser Stelle aus viel Erfolg. Ich hoffe, dass wir bei der nächs

ten Gelegenheit noch einmal intensiver über diesen Erfolg diskutieren können.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort hat Frau Abgeordnete Dickes für die CDUFraktion.

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte heute zunächst einmal ausdrücklich die einzelnen Maßnahmen zur Senkung der Schulabbrecherquote im Projekt „Keiner ohne Abschluss“ loben. Ich möchte kleine Klassen – maximal 16 Schüler –, eine hervorragende Lehrerstundenzuweisung, eine hohe Praxisorientierung, Praxistage, die Begleitung und Unterstützung bei der Berufswegeplanung, Fördergespräche, mehr persönliche Beratung des einzelnen Schülers, Schwerpunktsetzung bei Kernkompetenzen,

(Frau Brede-Hoffmann, SPD: Jetzt kommt der Hammer!)

Vernetzung mit Betrieben, mit Schulsozialarbeit, Förderpädagogen und eine intensive Elternberatung loben.

All diese Dinge haben wir als CDU-Fraktion schon im Antrag zur Stärkung der Hauptschule und auch im Rahmen der Schulstrukturreform für die Realschule plus gefordert. Frau Ministerin, wie immer möchte ich anmerken, wir sind froh, dass Sie das eine oder andere aufgreifen,

(Fuhr, SPD: So sind wir halt!)

aber – da bin ich mit meiner Kollegin Nicole Morsblech ganz einer Meinung – nicht erst so spät und auch nicht nur für 3 % abschlussgefährdeter Jugendlicher.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Hirnforscher wie der Göttinger Professor Hüther sind sich einig, dass die entscheidenden Weichen für das Herausbilden der Persönlichkeitsstruktur und auch der Umgang mit Schule und Lust auf das Lernen in den ersten acht bis zehn Lebensjahren gestellt werden.

Eines ist klar: Schulen können nicht der Reparaturbetrieb für Erziehungsversagen im Elternhaus sein. – Eltern sind diejenigen, die Bildung mehr wertschätzen müssen. Dabei muss man sie unterstützen, so wie das auch im Projekt „Keiner ohne Abschluss“ getan wird, aber zu spät!