Protocol of the Session on May 15, 2002

Das ist eine Ambivalenz, von der ich in der Tat meine, dass sie die Lebenserfahrung und das Alltagsgefühl junger Menschen heute zutiefst prägt; einerseits dieser Reichtum an Chancen und Möglichkeiten und andererseits die nahezu unbegrenzte Unkalkulierbarkeit und Unberechenbarkeit dessen, was das eigene Leben schon in naher Zukunft bringt, spätestens dann, wenn die schulische Ausbildung zu Ende geht.

Ich glaube, dass es richtig ist, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass sich viele junge Menschen in der Phase der Entwicklung und der Reife, in der sie sich gerade befinden, in dieser Ambivalenz, in der sie groß werden und von der sie zunehmend in ihrem Lebensgefühl geprägt werden, einfach im Stich gelassen fühlen.

Hinzu kommt – Frau Kollegin Pepper hat das Stichwort ebenfalls aus gutem Grund genannt –, dass das Ge

spräch als Form der Kommunikation in unserer Gesellschaft immer seltener wird. Wir ersetzen doch immer mehr das Gespräch durch alle möglichen Formen der technischen Kommunikation.

(Glocke des Präsidenten)

Wenn ich beides zusammen nehme, liegen Verhaltensweisen wie die Flucht in Scheinwelten gar nicht mehr so sehr fern, sondern es ist für viele eine immer größer werdende Verführung, der sie nicht mehr widerstehen können.

Daran anschließend möchte ich eine zweite, knappe Bemerkung machen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn das nicht ganz falsch beschrieben ist, so glaube ich, unser Auftrag muss lauten, dass wir Erziehung wieder ins Recht setzen, dass wir nicht nur von Pädagogen, sondern auch von Erziehern reden, dass wir nicht nur von Sozialisation reden, sondern auch vom Erziehungsauftrag. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es nicht möglich ist, sozusagen im Sinne des modernen Denkens, den Erziehungsauftrag immer mehr von der Familie auf die Schulen zu delegieren. Das können die Schulen nicht leisten, mögen sie noch so gut sein.

(Beifall der CDU)

Dies stellt ein gesellschaftliches Problem dar. Familie und Schule dürfen in keine Sündenbockrolle gedrängt werden, ganz im Gegenteil. Wir müssen uns abgewöhnen, den Verzicht auf Erziehung als besonderen Ausweis unserer Fortschrittlichkeit zu sehen. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall: Der Verzicht auf Erziehung ist nichts anderes als die Flucht aus der Verantwortung.

Ich habe mich in den letzten Wochen oft gefragt, wo wir junge Eltern und Lehrerinnen und Lehrer dadurch im Stich lassen, dass wir nicht bereit sind, ihnen den Rükken zu stärken, wenn sie in „altmodischer Weise“ ihren Erziehungsauftrag wahrnehmen, und zwar von der Verrechtlichung, die wir in unseren Schulen haben, bis hin zur Beliebigkeit der Kultur, in der wir leben.

Deswegen ist für mich eine der wesentlichen Fragen, die sich im Anschluss an Erfurt ergeben: Welchen Beitrag müssen wir als Gesellschaft leisten, damit der Erziehungsauftrag in unserer Gesellschaft wieder ernst genommen wird und wieder wahrgenommen werden kann? – Daher geht die Diskussion an die Grundlagen unserer Gesellschaft und an die Frage nach den Werten, die unser Zusammenleben prägen, heran.

Vielen Dank.

(Beifall der CDU und bei SPD und FDP)

Es spricht nun Herr Abgeordneter Kuhn.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist nun an der Zeit, einmal innezuhalten und mit mehr Tiefgang in Politik und Gesellschaft nach Antworten zu suchen. Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass wir über diese schrecklichen Ereignisse hinaus nicht nur nach schnellen Antworten suchen sollten.

Es hat mich tief betroffen gemacht, dass wir kurz nach diesem schrecklichen Ereignis wahrgenommen haben, dass sich Spitzenpolitiker in Deutschland gegenseitig in einer Art und Weise Vorwürfe gemacht haben, die der Situation nicht angemessen war. Wir brauchen nach einer Phase der Besinnung etwas mehr Tiefgang, um uns mit den grundlegenden Problemen gerade im Zusammenhang mit Gewalt in unserer Gesellschaft auseinander zu setzen.

Über neue Möglichkeiten und neue gesetzliche Regelungen nachzudenken und über neue Altersgrenzen zu diskutieren, besonders grausame Videospiele zu verbieten, mag richtig sein, es reicht aber gewiss nicht aus. Wir sollten eine Diskussion darüber führen, was unsere Gesellschaft eigentlich zusammenhält. Wie gehen wir in dieser Gesellschaft miteinander um? Bringen wir uns im täglichen Umgang den wechselseitigen Respekt entgegen, den man in einer zivilisierten Welt von Menschen erwarten darf? Wie können wir junge Menschen auffangen, wenn sie einmal scheitern? – Dies sind Fragen, für die wir uns Zeit nehmen sollten.

Was ist das beispielsweise für ein Verständnis von Familie, wenn der volljährige Schüler die Schule verlassen muss, die Eltern aber nicht einmal darüber informiert werden dürfen? – Niemand kennt doch in der Regel die Seelenlage eines Kindes besser als die Eltern, und dann haben die Eltern nicht einmal das Recht zu erfahren, wenn ihr Kind in eine existenzielle Krise stürzt. Hier läuft etwas schief in unserer Gesellschaft, meine Damen und Herren.

Susanne Gaschke schrieb kürzlich in der „ZEIT“, dass wir in unserer Gesellschaft nicht mehr daran glauben, dass für jedes Kind wenigstens ein Erwachsener da ist, der die Verantwortung trägt und der sich dafür verpflichtet fühlt. Ich hoffe, die „ZEIT“-Redakteurin irrt sich; sicher bin ich mir leider nicht.

Freiheit bedeutet nicht Gleichgültigkeit gegenüber den Mitmenschen. Gerade in einer freien Gesellschaft sind wir darauf angewiesen, dass Menschen für sich und zumindest für ihren nächsten Mitmenschen Verantwortung übernehmen.

Meine Damen und Herren, wir sollten uns jedoch davor hüten, unserer Jugend Wertelosigkeit zu unterstellen. Modernität ist nicht mit Werteverlust gleichzusetzen. Gestern sprach auf dem rheinland-pfälzischen Unternehmertag General a. D. Klaus Reinhardt über die Auslandseinsätze der jungen Bundeswehrsoldaten. Einige von Ihnen waren dabei und mit Sicherheit tief beeindruckt. Die jungen Menschen engagieren sich freiwillig weit über das dienstlich notwendige Maß für Menschen in extremen Notsituationen. Dieses Engagement ist

oftmals mit erheblichen Risiken für die eigene Gesundheit und das eigene Leben verbunden.

Insgesamt über 100.000 junge Menschen haben bisher an solchen Einsätzen teilgenommen. Auf diese Jugend kann unser Land stolz sein. Sie ist alles andere als Werte vergessend.

(Beifall bei FDP, SPD und vereinzelt bei der CDU)

Eine Jugend, in der sich so viele jedes Jahr für ein freiwilliges soziales und ökologisches Jahr bewerben, für das nicht einmal genügend Plätze zur Verfügung stehen, ist nicht Werte vergessend – im Gegenteil. Die heutige Jugend ist viel stärker werteorientiert als manche Generation vor ihr.

Falsch wäre es auch, lauter Einzelforderungen aus der Tat von Erfurt abzuleiten. Eine Kette von negativen Einflüssen kam im konkreten Fall in Thüringen zusammen. Doch auch die Summe aller negativen Erfahrungen des jungen Mannes kann den Massenmord nicht erklären. Es werden offene Fragen bleiben, so zu Recht der Fallanalytiker des zuständigen Landeskriminalamts.

Das bedeutet aber nicht, dass wir einfach zur Tagesordnung übergehen können. Es bleibt uns nicht erspart, darüber nachzudenken, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn es eine so große Nachfrage nach Gewaltvideos gibt, die immer realitätsbezogener werden. Es ist geradezu das Ziel vieler Videospiele, Wirklichkeit und Fiktion nicht mehr klar auseinander halten zu können.

(Glocke des Präsidenten)

Aber auch die alltägliche Darstellung von Gewalt im Fernsehen muss ein Thema sein. Ich begrüße ausdrücklich die Initiative des Bundeskanzlers, dass er die Medienanstalten zusammengebracht hat, um nach neuen Formen der Selbstkontrolle zu suchen.

Meine Damen und Herren, wir dürfen Menschen nicht allein lassen, wenn sie in ein tiefes schwarzes Loch zu fallen drohen. In bestimmten Situationen bedeutet dies auch, dass professionelle Hilfe bereitstehen muss.

Meine Damen und Herren, zum Abschluss möchte ich sagen, wir werden die Gewalt in unserer Gesellschaft niemals ausrotten können. Es wird auch immer schreckliche, rational nicht erklärbare Einzeltaten geben. Doch in einer Gesellschaft, die durch wechselseitigen Respekt vor den Mitmenschen getragen wird, ist die Gefahr geringer als in anderen Gesellschaften. Wir sollten in Politik und Gesellschaft alles unternehmen, um der Achtung der Mitmenschen mehr Geltung zu verschaffen. Nur so können wir hoffen, der Gewaltbereitschaft den Boden entziehen zu können.

(Beifall bei FDP und SPD)

Ich erteile Herrn Abgeordneten Wiechmann das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Auch wenn wir es uns manchmal wünschen würden, Patentrezepte und schnelle Lösungen für solche schrecklichen Ereignisse wie in Erfurt kann es nicht geben. Vielmehr herrscht Ratlosigkeit.

Nichts kränkt eine Gesellschaft, die so viel über sich zu wissen meint wie unsere, mehr als Ratlosigkeit. Warum tötet ein junger Mann am helllichten Tag, ohne dass es irgendjemand vorher geahnt hätte, 16 Menschen und begeht dann Selbstmord?

Von allen meinen Vorrednern wurde schon angesprochen, diese Ratlosigkeit darf nicht mit scheinbar nahe liegenden Erklärungen überspielt werden. Wir brauchen ein längerfristiges Nachdenken über Ursachen der Gewalt statt politische Schnellschlüsse. Wir brauchen grundlegende Ursachenforschung und wirksame Gewaltprävention.

So sehr wir nach guten Konzepten und richtigen Kons equenzen suchen, übereilte Vorschläge, wie beispielsweise die Verstärkung der Überwachung oder das Umrüsten von Schulen zu Hochsicherheitstrakten, helfen uns nicht weiter. Vielmehr müssen wir eine Gesellschaft des Hinschauens anstreben, eine Gesellschaft, in der Verantwortung und Solidarität für Schwächere selbstverständlich sind. Wir müssen einander achten und aufeinander achten, wie Bundespräsident Rau dies in Erfurt gesagt hat.

Solche Taten können durch Verbote und Gesetze nie vollständig ausgeschlossen werden. Meine Damen und Herren, reicht es aus, Gewaltvideos oder Computerspiele zu verbieten? Sinnvoller wäre es doch hingegen, dass Kinder und Jugendliche frühzeitig und umfassend den Umgang mit den Medien erlernen. Viel wichtiger wäre es doch auch, ein kinder- und jugendfreundliches Umfeld zu schaffen, in dem junge Menschen auch Alternativen zum „Vor der Glotze hängen“ haben oder Computerspiele wie „Counterstrike“ zu spielen.

Greift es nicht zu kurz, nur das Waffengesetz zu verschärfen? Reicht es allein aus, das Schulgesetz in Thüringen zu ändern, um Schülerinnen und Schülern wieder eine Perspektive zu geben? Nein. Wir brauchen vor allem ein anderes Schulklima. Kein Jugendlicher, kein junger Mensch darf mehr ein hoffnungsloser Fall sein. Es ist dringend notwendig, innezuhalten und sich den aufdrängenden Fragen zu stellen. Was fehlt jungen Menschen in unserer heutigen Gesellschaft?

Wir haben zu wenig Gehör für ihre Bedürfnisse, Sorgen und Nöte gehabt. Wir brauchen eine Schule, in der Pädagoginnen und Pädagogen nicht nur die Straßennamen des Stadtteils kennen, in dem ihre Schülerinnen und Schüler wohnen, sondern auch das Umfeld und zum Beispiel die Freizeitmöglichkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler.

Wir brauchen Pädagogen, die mehr Zeit für ihre Schülerinnen und Schüler und für die Eltern haben. Eine Schule aber, in der auf eine möglichst hohe Sprosse auf der Karriereleiter getrimmt wird, die zugeschnitten ist auf

ökonomische Bedürfnisse, in der sechs oder mehr Stunden täglich Unterricht im 45-Minuten-Takt eingetrichtert wird, eine solche Schule kann dies nicht leisten.

Stattdessen brauchen wir eine Schule, in der die Kultur des Hinsehens und des Sich-Kümmerns lebt, auch und gerade in Bezug auf die Unauffälligen und Zurückgezogenen.

Meine Damen und Herren, ich warne davor, die Ereignisse von Erfurt so wie die Ergebnisse der PISA-Studie zu behandeln. Wir haben darüber geredet, wir haben alle die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, aber passiert ist viel zu wenig. Nur wenn wir alle an einem Strang ziehen, und zwar am selben Ende, kann es gelingen, Schule umzugestalten.

Lassen Sie uns gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern, mit Lehrern und mit Eltern, die sicherlich gerade in dieser Situation die besten Ratgeber für uns Politikerinnen und Politiker sein können, im Rahmen eines Jugendforums oder runden Tisches Alltagserfahrungen, Ängste und vielleicht auch Vorschläge und Forderungen an die Politik diskutieren.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns keine Besinnungsappelle an die Gesellschaft aussenden.

(Glocke des Präsidenten)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Lassen Sie uns die Erfurter Ereignisse nicht verkürzt analysieren und sogleich Patentlösungen ausrufen. Wir müssen uns immer wieder aufs Neue fragen, wie Bildung und Erziehung kind- und jugendgerechter und wie unsere Schulen so gestaltet werden können, dass sie Kinder und Jugendliche beim Lernen unterstützen und bei Misserfolgen Auffangmöglichkeiten bieten. Lassen Sie uns gemeinsam Schule so umgestalten hin zu einer Schule, in der Lehrerinnen und Lehrer keine Fächer unterrichten, sondern junge Menschen.

Vielen Dank.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Es spricht Herr Ministerpräsident Kurt Beck.