Das Modell des Abiturs im eigenen Takt bedeutet die Möglichkeit, jedem Einzelnen zu erlauben, sich anzuschauen, was man eigentlich in der Oberstufe machen möchte, welchen fachlichen Schwerpunkt man wählen möchte, welche der Welt zugewandten Dinge man erlernen möchte – sei es ein Auslandsaufenthalt, seien es Praktika oder viele Dinge mehr.
Diese Dinge mit in eine vernünftige Oberstufenreform zu nehmen, halten wir für sehr zielführend und sinnvoll. Damit schaffen wir auch die Möglichkeit, dass jeder Einzelne sein individuelles Ziel in der Oberstufe verwirklichen kann.
Aber ich glaube, dass die Landesregierung an einer Stelle zu kurz greift, wenn sie nämlich davon spricht, dass die Schulen ein einmaliges Rückkehrrecht haben. Damit sorgt sie dafür, dass der Konflikt in den
einzelnen Schulen weitergeht. Wenn sie gleichzeitig sagt, dass man die Halbtagsschule wieder möglich machen will, sorgt sie zum anderen dafür, dass das, was bei vielen Eltern in den letzten Jahren ein großes Thema geworden ist, nämlich eine vernünftige Ganztagsbetreuung, wieder infrage gestellt werden kann.
Damit müsste man einen Schritt zurück statt nach vorne gehen, denn die gesamte Bildungsforschung zeigt, dass Ganztagsschule die Möglichkeit zur besseren Bildung, vor allen Dingen zur entspannteren Bildung ermöglicht. Deshalb ist dieser Rückschritt aus unserer Sicht der falsche Weg.
Darüber hinaus stellen sich Fragen wie zum Beispiel, wie das Ganze eigentlich finanziert werden soll. Im Heimatausschuss wird von Ministerin Scharrenbach davon gesprochen, es wie in Bayern zu machen: Mehr als eine Milliarde wird es schon nicht sein. – Na ja, wenn man die Städte Nordrhein-Westfalens mit der Fläche Bayerns vergleicht, wird man schnell feststellen, dass es hier sehr viel stärker städtegetrieben ist als in Bayern. Wenn wir jetzt schon wissen, dass alleine eine große Stadt in Nordrhein-Westfalen 500 Millionen € angemeldet hat – selbst, wenn das am Ende vielleicht zu hoch gegriffen ist –, werden Sie mit einer Milliarde vorne und hinten nicht hinkommen.
Werden Sie am Ende bei Ihrem Versprechen bleiben können, dass die anderen Schulformen darunter nicht leiden? Oder werden wir nicht im Grunde genommen in den nächsten Jahren sämtliches Geld nur dafür ausgeben müssen, G9 umzusetzen? Ist das zu Ende gedacht?
Umso wichtiger ist es, um diese Frage offen zu debattieren, dass das Parlament das Konnexitätsgesetz auch bekommt, dass wir erfahren, was denn bezahlt werden muss. Es kann ja nicht sein, dass wir ein Schulrechtsänderungsgesetz machen und kein Mensch weiß, was es kostet. Ich gebe offen zu: Im Rheinland hat man dass das eine oder andere Mal gemacht. Aber ob das so zielführend ist, sich an der Stelle rheinisch zu verhalten, weiß ich nicht. Ich glaube, das ist nicht besonders vernünftig.
Dazu kommt, dass Sie zu Recht darauf hingewiesen haben in Ihren Darstellungen und auch in öffentlichen Interviews, dass es nicht das G9 der 80er- und 90er-Jahre werden soll. Wenn es aber nicht das G9 der 80er- und 90er-Jahre werden soll und das Thema Digitalisierung eine Rolle spielt, reden wir auch für diesen Bereich der Umstellung auf digitale Schulbücher, auf die Möglichkeiten, digitale Geräte zu nutzen und die Dinge nicht von zu Hause mitzunehmen, von einem großen Betrag. Die Bertelsmann Stiftung rechnet mit 2,8 Milliarden € für ganz Deutschland. Das wären immerhin noch 700 Millionen € für NRW, wenn man damit hinkommt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, last but not least wird man sich auch über die Frage unterhalten müssen – damit komme ich zum Ausgangspunkt zurück –: Wenn wir festgestellt haben, dass es ein Irrweg war, den Marktradikalen zu glauben, wir müssten hier beschleunigen, wir müssten schneller werden und, wie Roman Herzog sagte, die Selbstgefälligkeit überwinden und endlich dafür sorgen, dass die Kinder schneller in den Markt kommen, wenn wir also sagen, dass das falsch war – ist es dann heute nicht ein Irrwitz und auch wieder ein Treppenwitz der Geschichte, wenn die Mitte-rechts-Koalition Wirtschaft zu einem neuen Schwerpunkt im G9 der Zukunft machen will, das Fach Wirtschaft stärken will?
Wäre es dann nicht richtiger, das Fach Demokratie zu stärken und angesichts der Erfahrungen, die wir auch in diesem Haus haben,
dafür zu sorgen, dass Kinder und Jugendliche Demokratie wertschätzen und gemeinsam für unser Land entwickeln wollen?
Sie können so viel schreien, wie Sie wollen. Meine Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, mit dem Thema Demokratie sind wir am Puls der Zeit.
Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten sehr sorgfältig mit den Verbänden diskutieren. Wir werden die Anhörung gemeinsam kritisch begleiten. Wir sind der festen Überzeugung, dass eine solche Schulreform am Ende breit getragen sein muss im Parlament, denn ein Hin und Her in der Schulpolitik geht am Ende des Tages zulasten der Kinder und der Menschen in diesem Land. Deshalb hoffen wir auf konstruktive Diskussionen und werden uns mit unserem Antrag in die Debatte einbringen. – Herzlichen Dank.
Herr Ott, bleiben Sie bitte am Platz. – Kollege Höne von der FDP-Fraktion hat eine Kurzintervention angemeldet. Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Ott, da Sie die Zwischenfrage eben nicht zugelassen haben, melde ich mich jetzt in diesem Rahmen.
Besonders spannend finde ich, wenn ich das vorwegschicken darf, dass Sie, Herr Kollege Ott, eigentlich jede bildungspolitische Debatte seit Beginn dieser Legislaturperiode erst einmal mit einer gewissen
Selbstkasteiung beginnen. Ich weiß nicht, ob Sie damit von den Versäumnissen ablenken wollen, die es vorher gegeben hat, oder glauben, dass das insgesamt in der Sache weiterhilft.
Es ist mitnichten so, dass aus marktradikalen oder ähnlichen Gründen – auch wenn das Buzzwords sind, die auf SPD-Parteitagen sicherlich ganz gut funktionieren – die Schulzeitverkürzung eingeführt wurde. Fest stand, dass wir die ältesten Berufseinsteiger und die jüngsten Rentner hatten. Darauf sollte reagiert werden, und darauf wurde reagiert – übrigens auch sehr auf Hinweise und auf Anraten der Bertelsmann Stiftung, die Sie gerade in anderem Zusammenhang so gerne genannt haben.
Zweitens. Sie haben, als ich Ihnen die Zwischenfrage stellen wollte, auf einmal einen relativ großen zeitlichen Sprung gemacht. Sie haben den Anfang der 2000er benannt und sind dann auf einmal zum Jahr 2014 gegangen. Einen freundlichen Hinweis möchte ich doch geben: Die Einführung von G8 wurde kurz vor der Landtagswahl 2005 beschlossen. Ob Sie Christian Lindner von Anfang der 2000er zitieren oder nicht – er hat sicherlich rhetorisch brillant die eine oder andere Rede dazu gehalten –, gezwungen hat er die damalige Regierung sicherlich nicht, einen solchen Beschluss zu fassen.
Drittens. Ruhe in den Schulen ist einer der ganz zentralen Zielaspekte, den wir uns hier vornehmen sollten, damit sich die Schulen auf das konzentrieren können, was wirklich wichtig ist. Darum ist es richtig, dass die Schulen, die mit G8 gut fahren, dabei bleiben können, um nicht alle Schulen in eine neue Umstellung hereinzubekommen. Hierin unterscheidet sich die neue von der alten Landesregierung ganz besonders, weil wir nämlich den Akteuren vor Ort eine solche Entscheidung zutrauen und ihnen vertrauen, diese Verantwortung zu übernehmen. Dass das bei Ihnen leider nicht der Fall ist, haben wir sieben Jahre lang beobachten können.
Sehr lustig! Auch die rot-grüne Landesregierung hat damals gesagt: Wir machen ein Projekt, und einige können auf G9 gehen. – Das ist genau dieselbe Mutlosigkeit, die wir gemeinsam heute kritisieren müssen. Denn es wäre für die Schule einfacher, wenn wir ein System für alle hätten, damit ein Umziehen in NRW weiter möglich bleibt. Es gibt noch viele andere Fragen, die dazukommen. Aber zu glauben, man könnte einige wenige Schulen bei G8 lassen und man wäre damit ein besonderer Entfesselungskünstler, das halte ich alleine schon deshalb für albern, weil sämtliche an der Anhörung beteiligte kommunalen Spitzenverbände ganz deutlich gesagt haben, dass sie das für falsch halten und schulstrukturell G9 der richtige Weg sei.
Es wäre sinnvoller, darüber nachzudenken, wie wir angesichts einer modernen Gesellschaft Bildung neu denken. Was muss eigentlich an der Schule passieren, wenn wir doch wissen, dass das, was heute gelehrt wird, immer schneller keine Bedeutung mehr hat? Müssen wir nicht im Grunde genommen ganz andere Reformen machen, aber mit den Schulen gemeinsam? Und dann macht man einen Gesamtrahmen von G9, und innerhalb dessen überlegt man mit den Schulen gemeinsam, wie Schule zukunftsfähig wird. Das ist aus meiner Sicht der richtige Weg.
Sie haben die Bertelsmann Stiftung angesprochen. – Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass es Stiftungen gibt und man sich deren Ergebnisse anguckt. Es geht aber nicht, dass wirtschaftsinteressengeleitete Studien immer eins zu eins umgesetzt werden. Da müssen wir alle miteinander kritischer werden. Wenn eine Bertelsmann Stiftung sagt, G8 sei ganz toll, dann ist das wunderbar. In der Bildungsforschung gibt es übrigens, Herr Höne, viele, die sagen: Es kommt am Ende gar nicht auf die Länge der Schulzeit an, sondern es kommt am Ende darauf an, was in dieser Schulzeit gelernt wird. – Nur, am Ende des Tages geht es heute darum, für die Zukunft diese Schule zu entwickeln. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln, das geht nicht.
Zum letzten Aspekt, den Sie angesprochen haben: Ich habe keine Zweifel daran gelassen, wer G8/G9 in Nordrhein-Westfalen eingeführt hat. Deshalb ist es auch richtig, an einem solchen Tag gemeinsam kritisch zurückzugucken und festzustellen:
Die Vorstellung, dass der Markt alles regelt, oder wie es der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, Professor Fels, in den 90er-Jahren allen in den Kopf gebimst hat, nämlich zu sagen: „Der Markt ist wie das Wetter. Da kann man nichts machen. Da muss man sich anpassen“ – diese Einstellung von Wirtschaftspolitik hat uns perspektivisch nicht nur in G8, sondern in vieles andere geführt. Deshalb habe ich grundsätzlich etwas gegen Ihre Entfesselungsstrategie, weil sie zum Nachteil von vielen Menschen in unserem Land geworden ist, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Ott! Herr Ott, Sie haben gerade die Ruck-Rede des damaligen Bundespräsidenten angesprochen. Ich muss Ihnen leider sagen, auch wenn Sie gerade nicht zuhören: Ihre Rede war keine Ruck-Rede, sondern eine Rückwärts-Rede, die zu diesem Thema ganz wenig beigetragen hat.
Sie haben mit einer Pseudokapitalismuskritik auf Ihre verfehlte Schulpolitik reagiert. Ich glaube, da kann man auch nicht zuhören, denn dann erfährt man, was man in den vergangenen Jahren alles falsch gemacht hat.
Das entscheidende Detail, das Sie vorhin weggelassen haben, hat freundlicherweise der Kollege Höne angesprochen: Es war eine rot-grüne Landesregierung, die G8 beschlossen hat. Kurz darauf gab es eine andere Landesregierung, nämlich eine
schwarz-gelbe, die hat dann die Schublade geöffnet – so haben mir die Kollegen berichtet – und geschaut, was die rot-grüne Regierung für die Umsetzung von G8 vorbereitet hatte. Die Schublade war leider leer. Da war nämlich gar nichts vorbereitet. Deswegen hatten wir von Anfang an riesige Probleme, weil die Vorbereitung einfach nicht gestimmt hat. Auch das gehört zu Ihrem geschichtlichen Rückblick.
Unabhängig von der Vergangenheitsbewältigung ist es heute wichtig, klar festzustellen, dass auf den heutigen Tag viele Menschen in Nordrhein-Westfalen ganz lange gewartet haben. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Landesregierung eine nachhaltige Lösung der Strukturfrage der gymnasialen Bildungsgänge herbeiführen. Schon lange ist keine Strukturfrage in unserem Schulsystem so intensiv diskutiert worden wie die um acht- oder neunjährige Bildungsgänge am Gymnasium.
Bereits bei der Einführung von G8 an Gymnasien gab es kritische Stimmen, die vor einer zu großen Verdichtung des Stoffes warnten. Allerdings überwog damals das Interesse an einer verkürzten Ausbildungszeit, da im internationalen Vergleich – es wurde bereits angesprochen – unsere Studienabsolventen zumeist deutlich älter waren.
Durch den Wegfall der Wehrpflicht und frühere Einschulung haben sich die Rahmenbedingungen allerdings verändert. Hinzu kommt, dass bei steigender Lebenserwartung und späterem Renteneinstiegsalter von vielen nicht mehr die Notwendigkeit gesehen wird, in möglichst kurzer Zeit die Ausbildung zu absolvieren. Wichtig ist in den Augen vieler, den jungen Menschen Raum zur persönlichen Entwicklung und Zeit für außerschulische Angebote zu geben. Da sage ich am heutigen Tag, dass wir als CDU-Fraktion das ganz nachdrücklich unterstützen.
Wir wünschen uns junge Menschen, die neben ihrer Schulzeit die Möglichkeit haben, ehrenamtlich tätig
zu sein, in Sportvereinen, in Kirchen, in Musikschulen, in sonstigen Vereinigungen. Auch das gehört zur Entwicklung eines Menschen dazu. Dazu wollen wir am heutigen Tag den Startschuss geben.
Zu diesen veränderten Einstellungen kommt die häufig schwierige Organisation des G8-Bildungsgangs hinzu. Klagen über zahlreiche Freistunden und Defacto-Ganztagsbetrieb ohne die entsprechenden Voraussetzungen sind eher die Regel als die Ausnahme. Den Versuch der Vorgängerregierung, diese Probleme mithilfe eines runden Tisches in den Griff zu bekommen, darf man getrost als gescheitert betrachten. Ganz im Gegenteil entwickelte sich ab 2015 die Ablehnung von G8 mit großer Dynamik.
Aktuelle Umfragen zeigen, dass ca. 80 % unserer Bevölkerung eine Rückkehr zum neunjährigen Bildungsgang am Gymnasium wünschen. Diesem klaren Wunsch der Menschen muss verantwortungsvolle Politik nachkommen. Und das macht die Landesregierung heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf.