Wir haben im Koalitionsvertrag versprochen, an öffentlichen Gymnasien wieder einen neunjährigen Bildungsgang einzuführen. Wir haben ebenfalls versprochen, dass G9 auch als Halbtagsangebot möglich sein wird, und wir haben versprochen, eine unbürokratische Entscheidungsmöglichkeit für den Verbleib bei G8 zu schaffen, damit unsere Schulen die für sie beste Entscheidung selbst vor Ort treffen können. Diese Landesregierung hält Wort.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf markiert den Anfang vom Ende einer jahrelangen Debatte. G8 hat die Menschen in unserem Land wie auch in anderen Ländern bewegt. Das haben uns die vergangenen Jahre ganz deutlich gezeigt. Trotz mehrfacher Nachbesserungen sind die kritischen Stimmen zum Bildungsgang G8 nicht verstummt. Das konnte – ich sage: das durfte – nicht länger ignoriert werden.
Die Landesregierung hat gehandelt – mit einer Leitentscheidung, die besagt, dass grundsätzlich alle öffentlichen Gymnasien zum Schuljahr 2019/2020 auf den neunjährigen Bildungsgang umgestellt werden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal die wichtigsten Punkte des Gesetzentwurfes kurz vorstellen. Die Umstellung zum Schuljahr 2019/2020 umfasst dann die Klassen 5 und 6 des Gymnasiums. Gymnasien, die mit G8 in der Vergangenheit gut arbeiten konnten und gute Erfahrungen gemacht haben, dürfen auch bei G8 bleiben.
Das bedeutet in der Umsetzung: Die Schulkonferenzen haben die einmalige Option, sich mit mehr als zwei Dritteln ihrer Mitglieder für den Verbleib bei G8 auszusprechen. Hierzu bedarf es eines klaren, deutlichen Votums, daher auch die relativ große Höhe. Die Wochenstundenzahl in der Sekundarstufe I wird so bemessen, dass grundsätzlich ein Halbtagsbetrieb möglich ist. Vorgesehen sind 188 Wochenstunden, von denen acht nicht verpflichtend sind.
Damit erhalten die Gymnasien zusätzliche Fördermöglichkeiten, und gleichzeitig erfolgt die Umstellung – das ist mir wichtig – nicht zulasten anderer Schulformen. Der Unterricht in der zweiten Fremdsprache soll in G9 wieder in der Jahrgangsstufe 7 einsetzen.
Ein letzter Punkt in diesem Zusammenhang: Ersatzschulträger können entscheiden, ob ihre Schulen in einem acht- oder neunjährigen Bildungsgang zum Abitur führen.
Meine Damen und Herren, die Umstellung auf G9 bedarf zusätzlichen Personals und wird beim Land und bei den Schulträgern weitere Kosten verursachen.
Ich komme zunächst einmal zum Personal. Im Endausbau rechnen wir gegenwärtig mit einem zusätzlichen Bedarf von etwa 2.200 Lehrerstellen. Genau werden wir dies aber erst wissen, wenn wir die Zahl der Gymnasien kennen, die bei G8 bleiben, und wenn die Ausbildungs- und Prüfungsordnung vorliegt. Die Landesregierung geht dabei aber davon aus, dass die allermeisten Gymnasien in NordrheinWestfalen auf G9 umstellen. Interne Abfragen bei Schulleiterdienstbesprechungen, aber auch Abfragen einiger Medienvertreter bestätigen diese Annahme.
Ansprechen möchte ich auch die Kosten für zusätzliche Räume, die die Schulträger dann zur Verfügung stellen müssen. Das Land ist auch in diesem Fall ein fairer Partner für die Kommunen. Bei der Einführung von G9 greift das Konnexitätsprinzip der Landesregierung. Darum erkennt der vorliegende Gesetzentwurf diese Konnexität schon jetzt dem Grunde nach an. Die Landesregierung hat sich entschieden, den Belastungsausgleich in einem eigenen Gesetz zu regeln. Die Arbeiten dazu laufen auf Hochtouren. Bereits im vergangenen Jahr haben wir uns gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden auf zwei unabhängige Gutachter verständigt, die die Höhe der zu erwartenden Belastungen ermitteln.
Auf Grundlage dieser belastbaren Prognosen muss das Land die Höhe der Belastungen und den Verteilungsschlüssel gesetzlich regeln. Das Gesetz zum Belastungsausgleich und das Gesetz zu G9 müssen zur selben Zeit in Kraft treten. Das heißt aber nicht, dass sie auch zur selben Zeit verabschiedet werden müssen. Gleichwohl sehen wir uns als Landesregierung selbstverständlich in der Pflicht, das Parlament rechtzeitig zum Zeitpunkt der abschließenden Entscheidung über G9 über die Eckwerte des Belastungsausgleiches zu informieren.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Die Landesregierung will Ihnen trotz des engen Zeitplanes eine verantwortungsvolle Entscheidung über die Neuregelung der Dauer der Bildungsgänge im Gymnasium ermöglichen. Mein Ziel, aber auch unser aller Ziel sollte es sein, dass das Gesetz noch vor der Sommerpause verabschiedet wird. Die Schulen und die
Schulträger benötigen möglichst schnell Klarheit, und diese Landesregierung wird dabei weiter ihren qualitativ ausgerichteten Weg zur Weiterentwicklung des Gymnasiums gehen – und dies alles auf einer seriösen Grundlage. – Herzlichen Dank.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den 90er-Jahren wurde von vielen Wirtschaftsverbänden und in der öffentlichen Debatte darüber gesprochen, dass es die „German Disease“ gibt, dass es den kranken Mann Europas gibt. Vor dem Hintergrund hatte Bundespräsident Herzog 1997 die sogenannte Ruck-Rede im Schloss Bellevue gehalten.
„Zuerst brauchen wir weniger Selbstgefälligkeit: Wie kommt es, daß die leistungsfähigsten Nationen in der Welt es schaffen, ihre Kinder die Schulen mit 17 und die Hochschulen mit 24 abschließen zu lassen? Es sind – wohlgemerkt – gerade diese Länder, die auf dem Weltmarkt der Bildung am attraktivsten sind. Warum soll nicht auch in Deutschland ein Abitur in zwölf Jahren zu machen sein? Für mich persönlich sind die Jahre, die unseren jungen Leuten bisher verloren gehen, gestohlene Lebenszeit.“
Von der Ruck-Rede ist eigentlich nur noch der Name übrig geblieben. Aber interessant ist, dass der Erste, der vehement das Abitur nach zwölf Jahren gefordert hat, der damalige Bundespräsident gewesen ist und es aus einem neoliberalen Antrieb geschehen ist zu sagen, wir müssen entfesseln.
Im Jahr 2000 beantragt die NRW-FDP unter anderem mit Christian Lindner, das Abitur in zwölf Jahren einzuführen. Das heftige Drängen der Wirtschaftsverbände, das heftige Drängen vieler in der Öffentlichkeit wurde dann auch in politische Initiative umgesetzt, und die Umsetzung oder das Antreiben eines G8 wurde von vielen vorangetrieben.
Im Jahr 2014 habe ich mit dem CDU-Mitglied Pfarrer Meurer und zusammen mit einem Wirtschaftsberater ein paar Gedanken in einem kleinen Buch zum „Rheinischen Kapitalismus“ aufgeschrieben.
Nein, im Moment nicht. Er kann mich gleich alles fragen, was er will. Ich komme noch zur FDP; keine Sorge.
Wir haben damals in einem kleinem Buch versucht zusammentragen, was in Bayern unterdessen geschehen war. – Mit der Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich hier aus dem Buch „Rheinischer Kapitalismus“ von 2014. Hintergrund ist die Frage, wie viele psychisch kranke Kinder es mittlerweile gibt:
„Wenn vor diesem Hintergrund sogenannte Konservative etwa die Rückkehr zur neunjährigen Schulzeit fordern, wie Anfang 2014 in Bayern geschehen, klingt das zunächst nach Einsicht. In Wahrheit handelt es sich eher um einen Treppenwitz der Geschichte, den jüngst sogar die Tageszeitung ‚Die Welt‘ als solchen erkannte. Sie erinnerte daran, dass es seinerzeit nicht pädagogische Gründe waren, die zur G8-Regelung und auch zur Einführung der Bachelor-Studiengänge geführt haben. Argumentiert – so die Zeitung „Die Welt“ – wurde damals rein ökonomisch, die Abiturienten seien zu alt, die Studenten ebenfalls zu alt, Deutschland sei nicht mehr konkurrenzfähig.
Es war dieser Druck aus der Welt der Wirtschaftsweisheit, der die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur und die Internationalisierung der Studiengänge herbeigeführt hat. Jetzt aber, da die Wehrpflicht abgeschafft wurde und der fleißige Bachelor schon nach drei Jahren mit einem Abschluss beim Arbeitgeber anklopft, beschwert sich exakt dieselbe Wirtschaft über 21-jährige Hochschulabsolventen, gesunkenes Bildungsniveau und mangelnde Grundkenntnisse.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde, gerade in dieser Debatte steht es uns gut an, einmal zurückzuschauen, was hier eigentlich stattgefunden hat. Die gesamte politische Klasse, angetrieben durch Wirtschaftsverbände und öffentlichen Druck, haben sich in eine Debatte begeben, die nicht von den Kindern ausgegangen ist, sondern die davon ausgegangen ist, was wirtschaftlich nötig ist.
Insofern ist eine Rückbesinnung auf G9 von unserer Seite aus auf jeden Fall zu unterstützen. Aber wir sollten klarmachen: Alle gemeinsam haben hier einen großen Fehler gemacht, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Um das deutlich zu sagen, weil der Präsident noch hier ist – und dabei bleibe ich auch –: Wer solche Tatzusammenhänge oder solche Fragen wie gestern zum Ganztag mit dem Thema Migration verbindet, der argumentiert zutiefst rassistisch.
Insofern finde ich, dass wir sehr gut daran tun, zurückzuschauen. Die Einführung dann von G8 war aber ein besonderes Lehrstück, bei dem SchwarzGelb und die Mitte-rechts-Regierung eine Verantwortung tragen. Die Einführung fand nämlich damals im Eilverfahren statt, ohne dass Lehrpläne, Fortbildungen oder Schulräume für den Nachmittagsunterricht berücksichtigt wurden.
Im Juni 2006 wird mit dem 2. Schulrechtsänderungsgesetz die Sekundarstufe I auf fünf Jahre verkürzt und die Sekundarstufe II auf drei Jahre festgelegt. Anders als von Rot-Grün vorgesehen war, ist damit für das G8-Modell in der Sekundarstufe I ein Schuljahr gekürzt worden.
In der Tat hat Rot-Grün im Mai 2010 die Reform G8 weitergeführt. Viele Expertinnen und Experten aus der Praxis haben damals dazu geraten und gesagt: Ändert es jetzt nicht schon wieder, denn das gibt noch mehr Unruhe. Vielleicht war es die eigentliche Fehlentscheidung der alten Landesregierung, damals nicht doch gesagt zu haben: Wir gehen jetzt radikaler vor.
2013 in der Plenardebatte haben sowohl Herr Kaiser von der CDU als auch Yvonne Gebauer betont, dass sie eine Rückkehr zu G9 falsch finden. Damals war man sich im gesamten Hause einig.
2014 gründete Sylvia Löhrmann den runden Tisch zu G8/G9, und mit vielen gemeinsam wurde versucht, innerhalb des Systems G8 zu Verbesserungen zu kommen.
Fazit: Das G8 ist als Turboabitur verschrien, viele Eltern und Schülerinnen und Schüler haben dagegen demonstriert und haben deutlich gemacht, dass der Stress, der dort entstanden ist, für die Kinder zu viel ist.
Ich möchte trotzdem noch einmal darauf zurückkommen, wie die Situation vor der Einführung von G8 gewesen ist. Schätzungen aus dem Jahr 2006 nämlich haben gezeigt, dass etwa 5 % bis 7 % aller Kinder unter einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung leiden. Man hatte damals ausgerechnet, dass für die Auffälligkeitsstörung, die wir ADHS nennen, im Jahr 1993 34 kg des Medikaments pro Jahr verschrieben wurden, aber 2006 bereits 1,8 t davon. Das ist fünfzigmal so viel.
Das heißt, Stress und die Frage, was im Jugendalter stattfindet, sind in den Jahren vor der Einführung von G8 bei vielen Kindern massiv angestiegen. Schon damals gab es die Erkenntnis: Woran könnte das denn liegen? Der Leistungsdruck, der Druck der Eltern, vielleicht die Sorge zu haben, dass ihr Kind keinen guten Aufstieg hat, dass die Frage, wie man sich entwickeln kann, keinen guten Leumund hat! Das war schon damals der Fall.
Auf diese gesellschaftliche Analyse haben wir gemeinsam dann auch noch G8 oben draufgesetzt mit den gefühlten, aber auch realen Verschärfungen der letzten Jahre. Das alles hat dazu geführt, dass die Eltern tatsächlich das Turboabitur als Turbo wahrgenommen haben, als weniger Lebensqualität, als weniger Möglichkeit, als Kind groß zu werden in einer Gesellschaft, in der man vielleicht einfach mal nichts tut, in der man sich auch mal langweilt und man einmal in den Tag hineinleben kann oder, wie die jungen Leute heute sagen, wo man fürs Chillen einfach mal Luft und Raum hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den Debatten des Landtags selten Zeit, solche grundsätzlichen Fragen zu diskutieren. Ich finde, die Wiedereinführung von G9 ist der Ort, wo wir uns diese Fragen stellen müssen. Deshalb ist es auch richtig und gut, dass man sich Zeit nimmt und genau überlegt, wie man das umsetzt.
Zum großen Streitpunkt entwickelt sich jetzt eigentlich nur noch die Frage: Was passiert an jeder einzelnen Schule? Wird jetzt die Debatte über die Schulzeit G8/G9 in jede Schule getragen? – Wir glauben, dass es richtiger wäre, jetzt konsequent zu sein und die grundsätzliche Schulzeit G9 in allen Schulen unseres Landes wieder einzuführen.
Wir glauben darüber hinaus, dass es allein schon deshalb richtig ist, weil wir dann für die Eltern angesichts der Anmeldungen, die in den nächsten Wochen in manchen Teilen des Landes sehr schwierig werden, weil sie nicht sicher sein können, dass sie auch die Schule ihrer Wahl bekommen, die Klarheit haben, dass es an jeder Schule das gleiche Angebot geben wird.
Nichtsdestotrotz meinen wir Sozialdemokraten, dass wir die gewonnene Zeit nutzen können, um die Umsetzung von G9 in Ruhe zu beraten und sich den eigentlichen Ort, bei der die Frage nach dem Tempo gestellt werden kann, nämlich die Oberstufe, noch einmal genauer anzuschauen.
Das Modell des Abiturs im eigenen Takt bedeutet die Möglichkeit, jedem Einzelnen zu erlauben, sich anzuschauen, was man eigentlich in der Oberstufe machen möchte, welchen fachlichen Schwerpunkt man wählen möchte, welche der Welt zugewandten Dinge man erlernen möchte – sei es ein Auslandsaufenthalt, seien es Praktika oder viele Dinge mehr.