Protocol of the Session on April 6, 2017

Es liegt auf der Hand, angesichts der durch die Föderalismusreform gewachsenen Kompetenzen der Länder darüber nachzudenken, ob aufgrund der erweiterten überschießenden Grundrechte eine Individualverfassungsbeschwerde auch in NordrheinWestfalen eingeführt werden sollte. Dies wurde auch von Prof. Sachs zum Ausdruck gebracht, der allenfalls ein Bedürfnis mit Blick auf die im Grundgesetz nicht vorgesehenen Grundrechte unserer Landesverfassung sieht. Diese sind in Nordrhein-Westfalen im Gegensatz zu Bayern im Wesentlichen auf einen überschaubaren Bereich begrenzt.

So stellt sich also die Frage, ob es notwendig ist, hierfür eine Individualverfassungsbeschwerde einzuführen. Im Endeffekt muss die Frage gestellt werden, ob eine Rechtsschutzlücke besteht oder nicht.

Wie schon mein Kollege Sven Wolf im November vergangenen Jahres bei der Einbringung des Gesetzentwurfs betont hat, gibt es natürlich auch jetzt schon die Möglichkeit, dass sich die Bürger, die sich durch eine Entscheidung dieses Hohen Hauses in ihren Grundrechten verletzt fühlen, an Karlsruhe oder auch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wenden. Außerdem sind

alle Richterinnen und Richter und alle Fachgerichte unseres Landes generell verpflichtet, Grundrechtsfragen zu berücksichtigen.

Was spricht nun für die Einführung einer Individualverfassungsbeschwerde und was dagegen? Dafür spricht – wie schon ausgeführt –, dass zusätzlich zu den aus dem Grundgesetz übernommenen Grundrechten die nordrhein-westfälische Verfassung über einen Katalog dem Recht des Landesverfassungsgebers entsprechend erweitert worden ist. Dagegen lässt sich anführen, dass gegenwärtig keine Rechtsschutzlücke besteht, aber auch, dass es durch die Einführung der Individualverfassungsbeschwerde zu Doppelstrukturen kommen kann. Zusätzlich kann die Frage aufgeworfen werden, ob die Individualverfassungsbeschwerde zu einer Verdrängung von

Rechtswegen führt oder ob man vielmehr eine frühzeitige Rechtswege-Erschöpfung mit dem neu implementierten Rechtsmittel erzeugt.

Schließlich – und auch das wurde im Rahmen des Symposiums thematisiert – ist es auch recht und billig, die Frage nach dem zusätzlich verursachten Aufwand in der Justiz durch das neue Rechtsmittel zu stellen. So wurde mehrfach betont, dass das Landesverfassungsgericht in seiner jetzigen Form kaum in der Lage sein würde, die zu erwartende Zahl an Individualbeschwerden ohne eine Anpassung an die neue Situation zu bewältigen. Dieser Aufwand muss dem vom Beschwerdeführer erzielbaren Nutzen gegenübergestellt werden.

Schlussendlich kommt die SPD-Fraktion zu dem Ergebnis: Die Einführung einer Individualverfassungsbeschwerde ist nicht grundsätzlich abzulehnen, aber es sollte darüber nachgedacht werden, die Zugangsvoraussetzungen so wie beispielsweise in BadenWürttemberg und beim Bundesverfassungsgericht auszugestalten. Dies ist im Gesetzentwurf nicht vollständig und nicht konsequent umgesetzt worden.

Danach würde die Landesverfassungsbeschwerdebefugnis entfallen, wenn parallel Bundesverfassungsbeschwerde erhoben worden ist oder während der Anhängigkeit der Landesverfassungsbe

schwerde noch erhoben wird. Ohne diese Einschränkungen ist nach unserer Auffassung die Individualverfassungsbeschwerde nicht einzuführen. Außerdem sollte sie nicht einfachgesetzlich, sondern über eine Verfassungsänderung implementiert werden.

Deswegen lehnen wir den FDP-Gesetzentwurf ab.

(Beifall von der SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Witt. – Für die CDU-Fraktion erteile ich Herrn Kollegen Jostmeier das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Vieles von dem,

was gerade von der Kollegin vorgetragen wurde, könnte ich, was die Rechtszusammenhänge betrifft, wiederholen.

Eine Rechtsschutzlücke besteht in der Tat nicht, weil nach Artikel 93 Abs. 1 des Grundgesetzes die Individualmöglichkeit vorhanden ist. Wir hatten in der Diskussion vorher deutlich gemacht, dass es uns ganz wichtig ist, dass wir eine klare, formale und saubere Abgrenzung zwischen den Landes- und den Bundesverfassungsbeschwerden hinbekommen und vor allen Dingen bei den zulässigen Prüfungsgegenständen die Subsidiarität sauber definiert wird. Das scheint mir nicht in einem Maße gewährleistet zu sein, dass wir dem zustimmen könnten.

Wir werden uns hier als CDU enthalten. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Jostmeier. – Für die Fraktion der Grünen spricht Frau Kollegin Hanses.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns schon bei der Einbringung ausgetauscht und signalisiert: Wir wären da offen gewesen. Es gibt durchaus gute Gründe, zu sagen: Wenn es denn dazu beiträgt, dass die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit Nordrhein-Westfalen und damit auch mit der Verfassung von Nordrhein-Westfalen gestärkt wird, dann hätte man zusammenkommen können.

Bei der Einbringung haben wir aber auch schon deutlich gemacht, dass Sie selbstverständlich definieren müssen, was denn die überschießenden Rechte im Verhältnis zum Grundgesetz sind. Sie hätten die Rechtsfolgen definieren müssen, und vor allen Dingen: Sie hätten mit uns sprechen sollen.

Das, was Herr Kollege Dr. Wolf eben zum Wahlalter gesagt hat, war für mich schon schwer zu ertragen.

(Dr. Ingo Wolf [FDP]: Was denn?)

Sie haben es so dargestellt, als sei das ein Angebot gewesen. Es war aber keins, wenn überhaupt, war es ist ein vergiftetes Angebot. Alle Sachverständigen in der Verfassungskommission haben sich weitgehend skeptisch zur Einführung der Individualverfassungsbeschwerde geäußert. Wir haben trotzdem Gesprächsbereitschaft signalisiert; es ist aber nichts umgesetzt worden. Das ist wirklich schade.

Tatsächlich besteht keine Rechtsschutzlücke; denn wir haben den umfassenden Rechtsschutz, die Grundrechte, im Grundgesetz verankert. Da gibt es die individuelle Beschwerdemöglichkeit beim Bun

desverfassungsgericht. Wir haben also einen grundsätzlichen Rechtsschutz für alle Bürgerinnen und Bürger. Wenn Sie einen neuen Schritt gewollt hätten, hätten Sie auf uns zugehen sollen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Hanses. – Für die FDP-Fraktion erteile ich Herrn Kollegen Dr. Wolf das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn das Plädoyer der Vorredner von SPD und Grünen nur halbwegs so engagiert gewesen wäre wie beim Punkt „Wahlalter 16“, hätte ich mich gefreut.

(Zuruf von Dagmar Hanses [GRÜNE])

Hier geht es um einen Rechtsbehelf für alle Bürgerinnen und Bürger, nicht nur ausschließlich für eine Gruppe. Das heißt, das ist ein Rechtsbehelf, unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten absolut wichtig und richtig ist.

(Beifall von der FDP und den Piraten)

Für den Kollegen Körfges, der ja immer gerne darauf verweist, wie es denn woanders gehandhabt wird, darf ich ganz unauffällig darauf hinweisen, dass elf von 16 Bundesländern eine solche Individualverfassungsbeschwerde haben. Es ist also nicht so, dass wir mit dieser Entscheidung allein auf weiter Flur wären – im Gegenteil.

Die Frage nach der Rechtsschutzlücke haben Sie in minimalistischer Weise zu beantworten versucht. Ganz evidentermaßen, liebe Frau Hanses, ist das Thema „Wahlrechtsüberprüfung“ an dieser Stelle nicht vom Bundesverfassungsgericht zu prüfen. Das wäre in der Tat eine Rechtsschutzlücke, die wir hier haben. Wir haben aber darüber hinaus auch gesagt, einem großen Bundesland wie Nordrhein-Westfalen stünde es gerade auch im Vergleich zu anderen Bundesländern sehr gut an, Grundrechtsverstöße durch Landesrecht hier überprüfen zu lassen.

(Zuruf von Dagmar Hanses [GRÜNE])

Wir haben keine uferlose Individualverfassungsbeschwerde vorgeschlagen, sondern eine, die sehr wohl auf Rechtsverstöße begrenzt ist, die durch Landesrecht ins Spiel gebracht werden können.

Wir haben darüber hinaus das Thema „Subsidiarität“, das die Kollegin von der SPD angesprochen hat, natürlich auch gesehen. Wenn Sie in da einen Änderungsantrag zu einer noch stringenteren Subsidiarität hätten stellen mögen, wären wir sicherlich offen gewesen.

Wir haben zudem – auch um die Belastungsfragen, Herr Körfges, in Grenzen zu halten –, sehr wohl gesagt: Wenn, dann muss ein ordentliches Vorprüfungsverfahren vorgeschaltet werden. Der Vergleich mit anderen Bundesländern zeigt, dass es keine Überschwemmung mit solchen Individualverfassungsbeschwerden gibt. Das zeigt die Erfahrung.

Ich halte dafür, dass wir diese Möglichkeit auch in unserem Bundesland eröffnen, sehe aber natürlich auch, dass die Mehrheiten hierfür aufgrund der Theorie „Alles hängt mit allem zusammen“ und „Der Korb wird nicht geschlossen“ nicht gefunden werden können.

Ich bedaure das, genauso wie Sie an anderer Stelle andere Dinge bedauert haben. Jeder hat sicherlich ein eigenes Thema, das für ihn ganz besonders wichtig ist – dies war unseres. Ich bin sehr traurig, dass es nicht zur Umsetzung gelangt. – Vielen Dank fürs Zuhören.

(Beifall von der FDP)

Vielen Dank, Kollege Dr. Wolf. – Für die Piratenfraktion spricht Herr Kollege Marsching.

Vielen Dank. – Herr Präsident! Es ist schwierig, jetzt nach Ihnen zu sprechen, Herr Dr. Wolf. Mit Blick auf den letzten Tagesordnungspunkt erinnere ich daran, dass Sie es waren, der damals gesagt hat, alles hänge mit allem zusammen.

Damit und auch mit der Argumentation zum letzten Tagesordnungspunkt verhindern Sie, dass wir jetzt über einzelne Punkte reden können, so gerne ich es auch gesehen hätte, dass wir die Dinge, bei denen wir unstrittig sind – gleich kommen ja noch ein paar –, vernünftig einzeln beraten können. Dadurch, dass Sie eingeführt haben, dass alles mit allem zusammenhänge, wird jedoch verhindert, dass die unstrittigen Punkte einzeln abgestimmt werden können. Schade eigentlich.

Habe ich eigentlich schon den Präsidenten gegrüßt? Im Zweifel mache ich es noch einmal.

Dann machen Sie es im Zweifel noch mal.

Dann mache ich es im Zweifel noch mal.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bürgerrechte waren und sind für uns Piraten mit das wichtigste Thema. „Freiheit“ ist ein Schlagwort, das von allen Parteien gerne und oft

in Interviews, Talkshows und vor allem im Wahlkampf genutzt wird. Freiheit ist im Staat und in der Gesellschaft jedoch leider immer gefährdet, und sie muss täglich neu – vor allem von uns Politikern, von der Regierung und von den Bürgern – beachtet, beherzigt und verteidigt werden.

Letztlich muss sie rechtlich gewährleistet werden. Wir müssen sie institutionell sichern. Die rechtliche Gewährleistung und die institutionelle Sicherung sind zwei Seiten derselben Medaille „Bürgerrechte“. Die Landesverfassung garantiert Bürgerrechte. Sie sagt in Art. 4 Abs. 1, der die Grundrechte des Grundgesetzes übernimmt, aber auch in den nachfolgenden Bestimmungen einiges darüber aus.

Dagegen aber sticht ins Auge, dass es keine institutionelle Sicherung der Grundrechte bei Bürgerfreiheiten in Nordrhein-Westfalen gibt. Der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen ist ein Staatsgerichtshof, der ganz überwiegend mit Klagen der Gemeinden sowie mit Klagen der Abgeordneten und Fraktionen des Landtags befasst ist.