Die rund 8.500 Kolleginnen und Kollegen aus dem Justizvollzug treffen also gerade im Umgang mit diesen Gefangenen jeden Tag auch Prognoseentscheidungen. Wir alle wissen, dass es dabei keine 100%ige Sicherheit gibt. Die Entscheidung darüber, ob sich ein Gefangener tatsächlich für den offenen Vollzug eignet, ist eine solche Prognose. Das Ergebnis kann man nicht immer 100%ig vorhersagen.
Diese Risikoentscheidung übertragen wir den im Vollzug beschäftigten Kolleginnen und Kollegen. Deswegen halte ich es für wichtig, die Beschäftigten im Vollzug damit nicht alleinzulassen. Sie bedürfen auch der politischen Unterstützung aus diesem Parlament, meine Damen und Herren.
Das heißt für mich zumindest, dass gerade wir Abgeordnete bemüht sein müssen, ein objektives Bild des Vollzugs in der Öffentlichkeit darzustellen, und dass wir Entwicklungen fördern, die eben nicht ein Zerrbild zeigen und Angst und Fehlinformationen verbreiten.
Im Vollzug geht es um deutlich mehr. Es geht nicht allein um Freiheitsentzug, es geht um Veränderung. Denn nur wenn es uns gelingt, die Gefährlichkeit des Gefangenen in der Haftzeit zu reduzieren, ihn zu verändern, reduzieren wir auch die Gefahr, die von ihm ausgeht.
Eines muss uns klar sein: Irgendwann kommt fast jeder wieder raus. Dann wohnt er bei uns im Haus, ist unser Nachbar, sitzt mit uns in der U-Bahn, steht hinter uns an der Kassenschlange im Supermarkt. Es mag jetzt jeder für sich selbst entscheiden, was für einen Menschen er dann in seiner Nachbarschaft treffen möchte. Ich hoffe doch, jemanden, der nicht nur weggesperrt worden ist, sondern jemanden, den wir in die Gesellschaft zu integrieren versucht haben.
Insofern bitte ich auch darum, das Gefährdungspotenzial, das von diesen Menschen ausgeht, wirklich realistisch zu betrachten. Die Bevölkerung wird nicht etwa dadurch gefährdet, dass ein Gefangener, der sechs Monate vor seiner Entlassung steht, einige Stunden Ausgang erhält, um eine Wohnung anzumieten oder ein Bewerbungsgespräch zu führen. Die Gefährdung der Bevölkerung liegt vielmehr darin, Gefangene nach Jahren zu entlassen, ohne sie gerade auf diesen wichtigen Augenblick der Entlassung vorbereitet zu haben. Was würden diese Gefangenen dann wohl tun?
Insoweit ist der offene Vollzug in der Tat eine ganz wichtige, vielleicht sogar die wichtigste Institution des Strafvollzugs, um das Ziel der Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft zu ermöglichen.
Aber diese Erkenntnis ist nur die halbe Wahrheit. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir uns bewusst sein müssen, dass der offene Vollzug immer wieder zu einzelnen Entweichungen führen wird. Allerdings ist der Rückschluss von einer Entweichung auf eine erhöhte Gefährdung der Öffentlichkeit zumindest zu kurz gegriffen; denn ein großer Teil der hier Gefangenen wurde überhaupt nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
Ein weiterer Teil der Inhaftierten im offenen Vollzug war sogar zum Zeitpunkt des Strafantritts auf freiem Fuß. Das Gericht hat ihn oder sie nach dem Urteil nicht sofort in Haft genommen, sondern es sind Selbststeller, also Menschen, die einige Wochen vor ihrer Inhaftierung auf freiem Fuß waren und sich selbstständig in einer Haftanstalt zum Strafantritt gemeldet haben. Warum soll da nachher das Risiko höher sein als vorher? Das steigt nicht automatisch.
Ich bitte Sie daher um eine vollständige Betrachtung des offenen Vollzugs. Lassen Sie uns auch ganz deutlich werden, lieber Herr Kamieth. Entweder unterstützen Sie ihn, oder Sie unterstützen ihn nicht. Dann lassen Sie uns diese Frage hier aber auch offen diskutieren. – Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Minister. – Als nächster Redner hat für die CDUFraktion Herr Kollege Haardt jetzt das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst für meine Fraktion keinerlei Zweifel daran lassen, dass wir selbstverständlich den offenen Vollzug befürworten, dass wir selbstverständlich für den offenen Vollzug sind.
Aber jetzt kommt der entscheidende Punkt: Wenn man sich die Zahlen anschaut, Herr Kollege Ganzke, dann stellen wir fest, dass wir ein bisschen auseinanderliegen. Sie sprechen von 23 %. Nach unseren Informationen sind 28 % im offenen Vollzug unterge
bracht, also in etwa jeder Vierte. Im Bundesdurchschnitt ist nur jeder Sechste, in ganz vielen Bundesländern nur eine einstellige Prozentzahl im offenen Vollzug.
Jetzt stellt sich die entscheidende Frage: Gibt es – Bayern hat etwa 6,5 % im offenen Vollzug – einen signifikanten Unterschied in der Rückfallquote zwischen NRW und Bayern? Nein. Gibt es in Bayern kriminellere Gefangene als in NRW? Im Durchschnitt sicherlich nicht. Gibt es in NRW, umgekehrt gesagt, weniger gefährliche Gefangene als in Bayern und in anderen Bundesländern?
Dann fragen wir doch einmal: Warum sind wir, wie Sie es nennen, Vorreiter im offenen Vollzug? – Da können Sie es sich relativ einfach machen. Es gibt nämlich eine Stellungnahme des Bundes der Strafvollzugsbediensteten von gestern, der – das räume ich ein – genauso wie wir auch den offenen Vollzug befürwortet. Den Kern, warum es bei uns so viele sind, können Sie einer Stellungnahme des Herrn Brock entnehmen. Ich darf mit Erlaubnis der Präsidentin zitieren:
„Würde NRW den offenen Vollzug reduzieren wollen, stünden wir sofort vor dem personellen Kollaps. Der NRW-Strafvollzug weist bereits derzeit eine Personallücke von rd. 1.000 Stellen auf.“
Natürlich ist das ein Gewerkschaftsvertreter, natürlich muss er die Personalsituation im Auge haben. Aber der Kern des Problems ist: Wir sind, wie Sie es nennen, Vorreiter im offenen Vollzug, weil wir den geschlossenen Vollzug nicht ausreichend mit Personal ausgestattet haben.
Herr Wedel, zu Ihnen wollte ich nur eine ganz kurze Bemerkung machen: Liberal heißt ja, die Freiheit betreffend. Ich war schon etwas verwundert, dass dieses Konzept jetzt auch auf Gefangene ausgeweitet werden soll.
Frau Hanses, Sie haben den Bürger bewusst angesprochen. Der Minister hat uns vorgeworfen, wir würden das nur für die Umfragen machen. Ich denke, der Bürger kann sich sehr gut ein Bild davon machen, wie Sie sicherheitspolitisch aufgestellt sind. Sie haben das Projekt, Ihre Umfragewerte zu halbieren,
schon erfolgreich über die Bühne gebracht. Wir wünschen Ihnen bei dem Schritt, das noch einmal zu wiederholen, natürlich viel Erfolg.
Jetzt will ich aber auch noch auf den Herrn Minister eingehen. Wir vermissen nicht nur hier – der Kollege Kamieth hat es angesprochen –, sondern auch bei ganz vielen anderen Punkten eine Strategie Ihrerseits. Sie geben den Anstaltsleitern am Ende des Tages keine klare Regeln vor, wann jemand in den offenen Vollzug kommt und wann nicht. Im Prinzip lassen Sie die Leute vor Ort damit ein Stück weit alleine.
Frau Hanses, Sie können sich gleich noch einmal melden. Es ist ja alles gut. Sie können gleich gerne noch etwas sagen – natürlich nur, wenn Sie noch Redezeit haben.
In der Vergangenheit hätte im Übrigen – das habe ich Ihnen schon einmal gesagt, Herr Minister – Ihr Kollege Innenminister – das hat er ja auch regelmäßig … Wenn er hier säße, würden wir jetzt Ihren Rücktritt fordern. Das tun wir aber nicht,
Wir stellen fest, dass Sie keine Strategie haben, was den offenen Vollzug angeht. Sie haben kein vernünftiges Konzept zum Strafvollzug in offenen Formen. Das haben wir bei der Frage der unglücklichen Selbsttötungen in den Anstalten und auch an anderen Stellen angemahnt. Wir können nicht erkennen, dass Sie zur Beseitigung dieser Probleme, die wir jedenfalls im offenen Vollzug sehen – wenn Sie da gar keine sehen, ist es ja vielleicht gut –, ein Konzept haben, es sei denn, Sie würden eines mit dem Arbeitstitel „Offener Vollzug und tschüss“ versehen.
Der Fokus muss darauf gelegt: Warum ist NordrheinWestfalen mit 28 % Strafgefangenen im offenen Vollzug unterwegs, während andere Länder bei gleichen Rückfallquoten mit wesentlich niedrigeren Zahlen aufwarten? Einen Effekt auf die Rückfallquoten kann das nicht haben. Wir können sehen, welcher Effekt sich ergibt. Dieser zeigt sich bei den Entweichungen, und deshalb haben wir die Aktuelle Stunde beantragt.
Ich habe natürlich verstanden, dass Sie daran nichts ändern wollen. Wenn sich an der Stelle etwas ändern soll, dann muss das durch eine andere Politik in diesem Haus geschehen. Wir werden daran arbeiten, dass das nach dem 14. Mai auch passiert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe schon viele Aktuelle Stunden hier erlebt. Ich muss zugeben, es gab hier sehr herbe Kritik und sehr deutlich formulierte Kritik, aber nicht am Strafvollzug in Nordrhein-Westfalen, sondern an dem unsäglichen Antrag der CDUKollegen,
und zwar – das macht es mir jetzt doch ein bisschen leichter, hierauf zu erwidern – nicht nur von dem Redner meiner eigenen Fraktion oder von Frau Kollegin Hanses, sondern einhellig auch von den weiteren Rednern der Oppositionsfraktionen. Das würde mir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ein bisschen zu denken geben.
Sie haben sehr deutlich gemerkt, dass der offene Vollzug in Nordrhein-Westfalen über Parteigrenzen hinweg eine hohe Bedeutung hat. Das haben die Kolleginnen und Kollegen hier sehr klar herausgestellt. Es geht insbesondere darum – Frau Kollegin Hanses hat es ausgeführt –, etwas zu erlernen, die Menschen, die bei uns in Gefängnissen untergebracht sind, fit zu machen für die Zeit nach dem Gefängnis.
Arbeit und Wohnung sind zwei Stichworte, die ich nennen will. Das sind zwei wesentliche Ankerpunkte dafür, dass es uns gemeinsam gelingt, dass Menschen in unserer Gesellschaft nicht wieder straffällig werden, wenn sie aus dem Vollzug kommen. Deswegen muss man den Menschen auch im Vollzug die Möglichkeit, die Zeit geben, sich einen Arbeitsplatz und eine Wohnung zu suchen.