Protocol of the Session on April 16, 2008

Ich eröffne die Beratung und erteile Frau Beer das Wort. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn zu dem vorherigen Tagesordnungspunkt als jemand, der aus der Region kommt, in der relativen Nähe zu Vlotho wohnt und weiß, dass Frau Haverkamp strafrechtlich wegen Volksverhetzung verurteilt ist, sagen: Herr Linssen, ich kann Ihre Einlassung überhaupt nicht nachvollziehen, auch angesichts der Äußerung von Frau Düker, die zu Recht auf die Finanzbehörden in Niedersachsen hingewiesen hat.

(Beifall von den GRÜNEN)

Auch dass Sie nicht darüber informiert sind, dass sich Frau Haverkamp dazu bereits öffentlich geäußert hat, ist für mich äußerst befremdlich.

Ich komme nun auf das Thema des jetzigen Tagesordnungspunktes zu sprechen. Wir haben heute wunderbares Aprilwetter. Ich möchte Sie nicht in den Winter zurückholen, aber ich möchte

mit Ihnen in ein Wintergedicht von Christian Morgenstern einsteigen:

„Die drei Spatzen

In einem leeren Haselstrauch, da sitzen drei Spatzen, Bauch an Bauch.

Der Erich rechts und links der Franz und mittendrin der freche Hans.

Sie haben die Augen zu, ganz zu, und obendrüber, da schneit es, hu!

Sie rücken zusammen dicht, ganz dicht. So warm wie der Hans hat’s niemand nicht.

Sie hör’n alle drei ihrer Herzlein Gepoch. Und wenn sie nicht weg sind, so sitzen sie noch.“

Dieses Gedicht hat einen biografischen Zusammenhang, nämlich mit meiner Familie mit drei Kindern, zwei Mädchen und einem Jungen. Es war immer zum gleichen Zeitpunkt im gleichen Schuljahr in der Grundschule, als unsere drei Kinder mit einem Abstand von drei Jahren zwischen den Geburtsgängen mit diesem Gedicht konfrontiert wurden, erst die beiden Mädchen, dann der Junge, in keiner Variation, ganz egal, welche Lerngruppe vor der Lehrerin gesessen hat, ganz egal, in welcher Konstellation und aus welcher Ausgangslage heraus. Unsere Mädchen haben dies sehr positiv begleitet, und unser Junge hat in Bezug auf dieses Gedicht die typischen Ambivalenzen entwickelt. Er wollte sich lieber, weil es Winter war, darauf stürzen, wie man Igel überwintert bekommt, wie man Vogelfutter bereitstellt und wie man ein Vogelhäuschen baut. Hierüber hat er Sachbücher gelesen. Er interessierte sich für Christian Morgenstern und die drei Spatzen überhaupt nicht.

Genau diese Phänomene gibt es noch heute. Auch die heutige Leseförderung in der Schule berücksichtigt viel zu wenig geschlechtsspezifische Unterschiede im Leseverhalten. Die Jungen haben auch aufgrund dieser Tatsache schlechte Karten im Bildungssystem. Die schulischen Bildungskarrieren von Jungen sind im Durchschnitt weniger erfolgreich. Das haben uns viele Studien vor Augen geführt und belegt. Dies wird nicht dadurch kompensiert, dass sich später im Berufsfeld die Männer die größeren Stücke vom Kuchen sichern und Frauen in ihren Karrieren benachteiligt werden.

Auch wenn wir in NRW inzwischen das Instrument der Rückstellung auf gesundheitliche Bedenken fokussiert haben und in der Schuleingangsphase flexibler auf unterschiedliche Entwicklungsstände reagieren können, so ist das Phänomen nicht nur

in der Beobachtung über alle Bundesländer hinweg weiter zutreffend, dass immer da, wo zurückgestellt wird, Jungen weitaus häufiger betroffen sind. Und das gilt besonders für Jungen mit Migrationshintergrund.

Es muss gerade für NRW aktuell untersucht werden, in welchem Prozentsatz Jungen direkt von der Kita in die Förderschulen übergehen. Dieser Frage müssen wir unbedingt nachgehen.

Mädchen sind – das ist keine Schuldzuweisung – die beliebteren Partnerinnen, schon für Erzieherinnen und auch für die Pädagogen und Pädagoginnen in der Schule. Mädchen sind bereiter, sich auf literarische Texte, zum Beispiel „Die Drei Spatzen“, einzulassen. Sie können besser sitzen bleiben und offensichtlich auch besser zuhören. Damit meine ich nicht die Klassenwiederholung – hieran sind sie in der Regel auch weniger beteiligt als die Jungen –, sondern das Ruhigsitzen und Zuhören. Auch die Damen, die hier sind, sind ja heute ganz vorbildlich, was das Zuhören angeht. Danke schön!

(Beifall von den GRÜNEN)

Die Lesekompetenz ist aber eine der entscheidenden Basiskompetenzen, die in allen Bildungsbereichen unverzichtbar ist. Wenn bei den PISAIndikatoren in Bezug auf die Bildungsverlierer gerade die schwachen Leser überproportional häufig vertreten sind, so müssen wir auf diesem Feld unbedingt systematisch reagieren. Individuelle Förderung ist ohne eine geschlechtersensible Förderung überhaupt nicht denkbar. Individuelle Förderung ohne den geschlechterspezifischen Zugang geht einfach nicht.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Angela Freimuth)

Gerade betreffend die geschlechterspezifische Förderung gibt es derzeit keinen systematischen konzeptionellen Ansatz im Rahmen der Anstrengung um die konsequente individuelle Förderung. Ein solcher Ansatz muss durchgängig auch für alle Fächer in der Fort- und Weiterbildung verankert werden und in der Schulentwicklung seinen Niederschlag finden.

Eltern- und schon bestehende kommunale Initiativen müssen dabei systematisch eingebunden werden wie zum Beispiel „Coole Geschichten – Was für Jungs“ von der Aktion Boys’ Day in Aachen oder auch Schulkooperationen von Grund- und Hauptschulen, bei denen wie in WittenHerdecke Hauptschüler in Grundschulen gehen und dort vorlesen, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Auf dieser Ebene würde ich die fachliche Diskussion im Ausschuss gerne weiterführen und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Beer. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU der Kollege Bollenbach das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur geschlechtersensiblen Leseförderung. Dass es Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt, ist uns sicherlich allen klar. Ich möchte kurz auf drei mögliche Ursachen der Benachteiligung von Jungen eingehen:

Erstens: Feminisierung in der Schule. Jungen fehlen aufgrund des hohen Anteils weiblicher Lehrerinnen die Bezugspersonen, die zur Identifikation oder als Vorbilder im Hinblick auf lohnende Anstrengungen und Erfolge in der Schule wirken können.

(Beifall von der CDU)

Zweitens: Zusammenhang von Emotionen, Motivationen und schulischen Leistungen. Laut PISAStudie ist Lesen ursächlich für schulischen Erfolg. Hier ist bei vergleichbarer Lesefreudigkeit kein signifikanter Leistungsunterschied zwischen Jungen und Mädchen zu erkennen. Jungen tendieren stärker zu Sach- und Gebrauchstexten, Mädchen hingegen zu erzählenden Texten. In der Vergangenheit haben Literaturangebot und Lehrerinnen, die nicht wissen, wie Jungen ticken, dazu beigetragen, dass die Literaturauswahl im Deutschunterricht zunehmend zu den weiblichen Interessen tendiert hat. Das führte teilweise zu Desinteresse bei den Jungen.

Drittens: Problem beim Erwerb der Geschlechteridentität. Hierbei steht die Sozialisation zu bzw. zwischen Mann und Frau im Vordergrund. Besonders Jungen aus bildungsfernen Schichten macht dieser Punkt zu schaffen, da für einen richtigen Jungen das traditionelle Männerbild in den wesentlichen Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts als immer weniger erstrebenswert gilt. Die daraus resultierende Verunsicherung kann zu Aggressionen, Schulverweigerung und Ablehnung führen, da diese überkommene Vorstellung von Männlichkeit in einer modernen Welt keinen Erfolg mehr bietet. Ich denke, in dieser Beurteilung sind wir uns größtenteils einig.

Lassen Sie mich nun auf die Forderung der Grünen zu sprechen kommen. Sie fordern, die Erfahrungen der Kommunen in geschlechtersensibler Leseförderung zu sammeln, ein Handlungskonzept einzuführen und das Konzept in der Fort- und Weiterbildung zu verankern. – Soweit, so schön.

Hier stellt sich für mich eine weitere Frage: Haben die Grünen den Antrag von CDU und FDP Drucksache 14/4488 vom Juni 2007 nicht gelesen: „Jungen fördern – ohne Mädchen zu benachteiligen“ – Durch individuelle Förderung die Geschlechtergerechtigkeit in den Schulen weiter verbessern!“? Der Antrag der Koalitionsfraktionen sieht ein ganz umfangreiches Maßnahmenbündel zur individuellen und gezielten Förderung vor.

In der Sitzung des Schulausschusses am 23. April werden Sie die Gelegenheit haben, unserem Antrag zuzustimmen. Die Grünen sind mit ihrem Antrag zu spät. Im Gegensatz zu den Koalitionsfraktionen haben sie lediglich einen Aspekt der Problematik bei der Benachteilung von Jungen in der Schule herausgegriffen. Des Weiteren ist dem Antragsteller bei der Erarbeitung des Antrags wohl auch entgangen, was das Schulministerium in dieser Sache bereits unternimmt.

(Beifall von CDU und FDP)

Mir bleibt zum Schluss nur noch der Appell an die Grünen: Schließen Sie sich in der nächsten Woche unserem Antrag im Ausschuss für Schule und Weiterbildung an. Dem von Ihnen vorgelegten Antrag können wir leider nicht zustimmen. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von CDU und FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Bollenbach. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion der SPD die Kollegin Schneppe das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die internationale PISAStudie aus dem Jahr 2000 hat es an die Öffentlichkeit gebracht: Unter allen getesteten Basiskompetenzen fallen die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen hinsichtlich der Lesekompetenz am größten aus, und zwar in allen 32 getesteten OECD-Staaten. In allen Teilnehmerstaaten erreichten die Mädchen bessere Testwerte als die Jungen. Der Unterschied ist in jedem Land signifikant.

Ich möchte nur kurz erwähnen, dass in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften die Geschlechterunterschiede deutlich geringer und

weniger konsequent sind als beim Lesen. In der Mathematik lassen sich Leistungsvorteile für die Jungen feststellen.

Die geschlechtsspezifischen Ergebnisse zeigen, dass bei Aufgaben zum Reflektieren und Bewerten der Abstand zwischen Mädchen und Jungen groß ist. Insbesondere in der kritischen Auseinandersetzung mit Texten scheinen Jungen spezielle Schwächen aufzuweisen. Besonders groß sind die Unterschiede bei den sogenannten kontinuierlichen Texten, also den reinen Schrifttexten. Auch in der Lesegeschwindigkeit wurde ein signifikanter Geschlechterunterschied festgestellt. Hier zeigen sich die Mädchen ebenfalls deutlich überlegen.

Schließlich lässt sich noch eine weitere interessante Tendenz erkennen: Die Unterschiede in der Lesekompetenz sind zwar in den einzelnen Schulformen verschieden stark ausgeprägt;

(Zuruf)

ich hoffe, ich komme mit meiner Redezeit aus – es zeigt sich aber durchgängig, dass die Jungen in den unteren Kompetenzstufen deutlich überrepräsentiert und in den oberen Kompetenzstufen deutlich unterrepräsentiert sind.

Fakt ist, dass die Leistungen der Mädchen mit ihrer deutlich größeren Lesemotivation und der daraus resultierenden umfangreichen Lesepraxis zusammenhängen. Die PISA-Studie zeigte, welchen hohen Stellenwert das Interesse am Lesen für die Leseleistung hat. Beim Vergleich der Leseleistungen von Jungen und Mädchen, die ein ähnliches Interesse am Lesen aufweisen, reduzieren sich diese Unterschiede ganz deutlich. Bei vergleichbarer Freude am Lesen sind also keine signifikanten Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen zu erwarten.

Meine Damen und Herren, das lässt einen Schluss zu: Eine Leseförderung für Jungen muss insbesondere an der Lesemotivation und den Leseaktivitäten ansetzen.

Strittig ist nur der Zeitpunkt, wann genau Jungen das Interesse stärker zu verlieren beginnen und wann auf dieser Grundlage Interventionsmaßnahmen zu entwickeln sind. Wir dürfen davon ausgehen, dass diese Unterschiede bereits am Ende des Grundschulalters deutlich ausgeprägt sind. Mädchen fällt es leichter, sich lesend in die Erfahrung anderer Menschen einzuleben. Darum profitieren sie auch stärker von einem Deutschunterricht, der auf fiktionale Texte konzentriert ist.

Die Leseinteressen von Jungen, die sich eher auf Sachbücher richten, werden dagegen vom Litera

turunterricht zu wenig angesprochen. Spaß am Deutschunterricht ist also ein wichtiger Indikator.

Eine Studie bringt einen weiteren interessanten Aspekt zutage. Hatten Grundschulkinder für ihre freien Lesestunden in der Schule neben Büchern auch elektronische Medien zur Auswahl, waren die geschlechtsspezifischen Differenzen deutlich geringer ausgeprägt. Das medial erweiterte Lektürenangebot scheint also besonders für Jungen aktivierend zu sein.