Petra Schneppe

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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuhörerinnen, werte Zuhörer! Der gemeinsame Schulbesuch behinderter und nichtbehinderter Kinder darf nicht länger Ausnahme sein, sondern muss zur Regel werden. Lernbehinderte und behinderte Kinder dürfen nicht länger ausgegrenzt, sondern müssen von Anfang an mit einbezogen werden. Der NRWVorsitzende des Kinderschutzbundes, Dieter Greese, spricht mir aus der Seele, wenn er sagt – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:
Im Interesse unserer Kinder können wir uns die Lebenslüge des angeblich begabungsgerechten Schulsystems nicht mehr länger leisten, und schon gar nicht hier in NRW.
Auch der Verband Bildung und Erziehung liegt meines Erachtens genau richtig, wenn die Forderung nach einem inklusiven Schulsystem wie folgt kommentiert wird – ich zitiere wieder –:
Das Schulsystem muss sich den Kindern anpassen und nicht umgekehrt.
Die UN-Behindertenkonvention fordert von den Vertragsstaaten, ein inklusives Bildungssystem zu gewährleisten. Dabei gibt es noch nicht einmal ein Elternrecht auf einen Platz in der Regelschule. Da wundert es doch nicht, dass der UN-Bildungsinspektor zu dem Ergebnis kommt, dass das deutsche Schulsystem die Chancengleichheit von Behinderten nicht gewährleistet. Das Konzept der Integration habe nicht verhindert, dass die meisten dieser Kinder gezwungen seien, Förderschulen zu besuchen – auch gegen den Willen ihrer Eltern.
Die UN-Konvention fordert ausdrücklich ein inklusives Schulsystem, also ein Schulsystem, das gar nicht erst aussortiert.
Die Umsetzung dieser Konvention muss doch wohl eine Verpflichtung für die Landesregierung sein.
Denn mit dieser Konvention sind weder die Förderschulen noch das gegliederte Schulsystem insgesamt vereinbar.
Grundlage für das Schulsystem der Zukunft muss in jeder Hinsicht das gemeinsame Lernen sein, meine Damen und Herren.
Die UN-Konvention geht von inklusiver Bildung als Regelfall aus. Das bedeutet: Die Ausnahme muss begründet werden. Das heißt: In Deutschland gehen Kinder mit Förderbedarf zukünftig ganz normal in die Regelschule.
Wenn sich Eltern für eine Förderschule entscheiden, müssen sie dies beantragen, und ihrem Antrag wird stattgegeben. Im Moment ist es umgekehrt. Mütter und Väter müssen einen unsinnigen Hürdenlauf hinter sich bringen. Damit wird der Elternwille wieder einmal mit Füßen getreten. Das darf und kann nicht sein, meine Damen und Herren. Und nach dieser UN-Konvention schon mal gar nicht.
Wie alle Bundesländer so ist auch das Land Nordrhein-Westfalen aufgefordert, den Weg zu einem inklusiven Schulsystem zu ebnen. Aber die NRWLandesregierung lehnt gemeinsames Lernen ab. Meine Damen und Herren von der Koalition, kann es sein, dass Sie Unterschiedlichkeit nicht als Chance verstehen, sondern als Störfaktor?
Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung: Was muss noch passieren und wer muss sich noch einschalten, ehe Sie endlich einsehen, dass das Schulsystem in seiner jetzigen Form nicht mehr länger tragbar ist? – Die Trennung neunjähriger Kinder nach vermeintlichen Begabungsstrukturen ist nämlich genauso wenig zeitgemäß wie die Trennung behinderter Kinder von nicht behinderten Kindern.
Vielleicht hilft Ihnen der Pädagoge Professor Dr. Hans Wocken auf die Sprünge.
Herr Witzel, Sie können ja gleich reden. – Er hat mit einer Studie belegt, dass Förderschulen ihrem Namen nicht gerecht werden. Und das, meine Damen und Herren, liegt nicht an den Pädagoginnen oder Pädagogen. Laut dieser Studie verbessern Schüler nach der Überweisung an eine Förderschule nicht etwa ihre Leistungen, nein, sie fallen vielmehr zurück. Auch hier zeigt sich: Heterogenes Lernen fördert mehr als homogenes Lernen.
Es ist in diesem Zusammenhang doch keine Frage: Die Ausgrenzung in Förderschulen bedeutet den Einstieg in lebenslange Sonderwege am Rande unserer Gesellschaft. Der Anteil der Sonderschüler an allen Schülern liegt bei knapp 12 %. Die wenigsten dieser Schüler beenden ihre Schullaufbahn mit einem Abschluss. So erreichen durchschnittlich gerade einmal gut 20 % den Hauptschulabschluss, während knapp 80 % der Schülerinnen und Schüler die Förderschulen ohne Abschluss verlassen.
Mit anderen Worten: Unser Schulsystem verbaut nicht nur armen Kindern ihre Zukunftschancen, sondern auch behinderten. Gleichzeitig wird mit dem bisherigen System allen Kindern die Vielfalt unserer Gesellschaft in der Schule vorenthalten. Wie sollen Kinder denn lernen, respektvoll und konstruktiv mit Andersartigkeit umzugehen?
Alle Beteiligten können von der inklusiven Schule profitieren. Denn diese Einrichtung geht von der Besonderheit und den individuellen Bedürfnissen von behinderten und nicht behinderten Jugendlichen aus. Sie lernen so von Anfang an den gemeinsamen Umgang miteinander.
Deshalb geht es der SPD-Fraktion mit diesem Antrag auch darum, unsere Gesellschaft humaner zu machen, meine Damen und Herren. Um es mit den Worten des Pädagogikprofessors Wocken zu sagen:
Integration ist kein Gnadenakt, der großzügig gewährt oder auch rechtens verweigert werden könnte; sie ist eine humane und demokratische Verpflichtung, die uns alle angeht.
Mein Fazit lautet deshalb: Es ist höchste Zeit für eine inklusive Schule. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Ministerin, es ist schon erstaunlich – ich registriere das mit Betroffenheit –, dass von 150 Millionen € auf 28 Millionen € reduziert wird. Wo ist der alte Verteilungsschlüssel denn verteilt worden?
Frau Ministerin, Sie haben eben beim Wortbeitrag von Frau Schäfer gesagt, dass es einen nicht veröffentlichten Schlüssel gegeben hat.
Den hätten wir gerne.
Frau Ministerin, ich bin etwas konsterniert. Sie haben mir die ganze Zeit gesagt, dass Sie keine Stellung zu Personen nehmen, haben aber in einer Pressemitteilung gesagt – ich darf zitieren –: Zornig bin ich über die scheinheiligen SPD-Vorwürfe, weil auch die ehemalige Schulministerin Ute Schäfer im Landtagswahlkampf für einen vierstelligen Euro-Betrag persönliche Beratungsdienste in Anspruch genommen hat. – Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz zwischen dem,
was Sie gerade gesagt haben, und dem, was Sie in der Presse angesprochen haben?
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, Sie sehen es mir nach, dass ich Ihren Äußerungen nicht folgen kann, jedenfalls
nicht in Gänze; denn Absichtserklärungen nützen unseren Kindern nichts.
Wir alle wissen vielleicht aus eigener Erfahrung: Mit leerem Magen lernt es sich schlecht, und je größer der Hunger, desto geringer die Konzentration. Deshalb frage ich die Landesregierung: Wie kann es sein, dass es immer noch keine einheitliche Regelung gibt, die jedem Kind eine warme Mahlzeit am Tag garantiert? Wie kann es sein, dass es immer noch Kinder gibt, die auf einen leeren Teller sehen müssen, weil ihren Eltern schlichtweg das Geld fehlt? Und wie kann es sein, dass wir hier nun schon zum dritten Mal dieses Thema behandeln müssen, ohne dass wirklich ausreichend etwas zum Wohle unserer Kinder passiert? – So kann und darf das nicht sein.
Der von der rot-grünen Bundesregierung initiierte Ausbau von Grund-, Haupt- und Förderschulen zu Ganztagsschulen war und ist richtig. Diese verfügen häufig über Mensen und Küchen. Aber gerade an Gymnasien und anderen weiterführenden Schulen fehlt es an der entsprechenden Ausstattung, um ein warmes Mittagessen anbieten zu können. Dabei gehört der Unterricht bis in den späten Nachmittag hinein inzwischen zum festen Alltag eines jeden nordrhein-westfälischen Schülers – sogar schon ab der 5. und 6. Klasse.
Ich bin der Meinung: Wenn Kinder und auch Lehrer – die sollten wir an dieser Stelle nicht vergessen – den ganzen Tag in der Schule verbringen, ist es doch wohl selbstverständlich, dass ihnen dann auch eine warme Mahlzeit zur Verfügung gestellt wird; eine Mahlzeit, meine Damen und Herren, die übrigens auch ernährungsphysiologischen Erfordernissen entsprechen soll.
Meine Damen und Herren, ich sagte es bereits: Es müsste eigentlich selbstverständlich sein. Die Realität sieht aber leider immer noch anders aus. Es gibt Kinder erster und zweiter Klasse, nämlich diejenigen, die sich das Essen leisten können, und diejenigen, bei denen das nicht der Fall ist. Nicht wenige Kinder verlassen vor dem Mittagessen die Schule, kommen aber zur nachmittäglichen Betreuung wieder zurück. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, welchen Druck diese Situation diesen Kindern aufbürdet. In 98 % der Fälle können wir davon ausgehen, dass für diese Kinder auch zu Hause kein Mittagessen bereitsteht und dass sie mit hungrigem Magen wieder in die Schule zurückkommen. Das sage ich aus eigener Erfahrung.
Das ist die traurige Realität, meine Damen und Herren. Dazu müssten Sie sich nur einmal an unseren Schulen umsehen und sich vor Ort informieren. Vorzeigeschulen sind da wenig repräsentativ.
Der von der Regierung aufgelegte Landesfonds in Höhe von 13,5 Millionen €, der es bedürftigen Kindern ermöglichen soll, am Schulessen teilzunehmen, ist immer noch nicht ausreichend.
Und das Ganze ist immer noch mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand verbunden. Herr Kaiser, Sie sagten eben, es werde entbürokratisiert. In dem Falle aber nicht. Die Inanspruchnahme des Fonds ist mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand für Schulen verbunden, der den Erfordernissen von Schule nicht gerecht wird. Die Schulen müssen prüfen, welche Kinder bedürftig sind. Die Eltern haben mitzuteilen, ob sie Hartz-IV-Empfänger sind. Hier gibt es eine Reihe von Eltern, die sich schämen, der Aufforderung der Schule Folge zu leisten – mit der Auswirkung, dass diese Kinder dann nicht am Mittagessen teilnehmen können.
Die Landesregierung muss endlich das notwendige Geld in die Hand nehmen – die veranschlagten 13,5 Millionen € reichen doch bei Weitem nicht aus –, damit alle Kinder in den Genuss einer warmen Mahlzeit gelangen können.
Wenn es der Landesregierung wirklich mit einem warmen Mittagessen für jedes Kind so ernst ist, dann muss sie auch wirklich die notwendigen finanziellen Investitionen tätigen und nicht andauernd nach weiterer Unterstützung durch den Bund rufen. Hier ist es für mich eine Frage der Gewichtung: Wie wichtig sind der Landesregierung die Kinder? – Man kann nicht immer nur große Projekte anstoßen und dann, bei der Umsetzung, die Eigenverantwortung delegieren wollen.
Denn wir dürfen doch eines nicht vergessen: Es geht um unsere Kinder, meine Damen und Herren. Und da gehört es sich umso weniger, plakativ sozial zu argumentieren und in der Umsetzung jegliche soziale Verantwortung vermissen zu lassen. Wie sonst kann man es erklären, dass Sie sämtliche Versuche, eine gerechte und einheitliche Lösung zu finden, bisher kategorisch abgelehnt haben? – Und das, obwohl die Enquetekommission Chancen für Kinder in ihrem aktuellen Bericht eine eindeutige Empfehlung ausspricht:
Ziel muss sein, dass kein Kind aufgrund der finanziellen und sozialen Situation der Eltern von einem Mittagessen in Kindertageseinrichtungen und Schulen mit Ganztagsangeboten ausgeschlossen wird.
In diesem Sinne appelliere ich an Ihre soziale Verantwortung. Schmettern Sie nicht ein viertes Mal den Antrag auf eine entsprechende Änderung des Schulgesetzes ab, sorgen Sie endlich dafür, dass jedes Kind das bekommt, was ihm zusteht.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bessere Bildung und Chancengleichheit an unseren Schulen ist eine Forderung, die die Grünen eben vorgetragen haben und die wir seitens der SPD unterstützen. Die CDU/FDP-Regierung schlägt bildungspolitisch exakt die falsche Richtung ein, und das zum Nachteil unserer jungen Generation, meine Damen und Herren. Das Kopfnotenchaos muss tatsächlich schnellstmöglich beendet werden.
Das unausgegorene Konzept der Landesregierung zur Bewertung von Arbeits- und Sozialverhalten durch Schulnoten bereitet gerade auf Abschlusszeugnissen große Probleme und kann zu erheblichen Nachteilen führen.
Die Art und Weise der Notenvergabe führt zwangsläufig zu Ungerechtigkeit und Klagewellen. Für uns Sozialdemokraten steht fest: Das Arbeits- und Sozialverhalten sollte zweifellos ein Bestandteil der Zeugnisse sein, allerdings in textlicher Form als Beurteilung, nicht als Ziffer. Es kann außerdem nicht angehen, dass die öffentlichen Schulen Kopfnoten vergeben müssen, die kirchlichen Schulen aber nicht. An der Stelle kann ich dem Antrag der Grünen nur zustimmen, meine Damen und Herren: Dieses Zwei-Klassen-System muss vom Tisch.
Bestätigen, ja sogar bekräftigen kann man im Übrigen auch die Forderung der Kolleginnen und Kollegen zu den Anmeldezahlen. Mangelnde Anmeldezahlen zwingen zu Verbünden, und das nicht nur im ländlichen Raum. Auch in Großstädten werden aufgrund sinkender Schülerzahlen Haupt- und Realschulen einzügig oder können gar nicht gehalten werden. Hier ist die Ignoranz der Koalitionsfraktionen nicht zu überbieten, wenn es darum geht, Konzepte – sprich Horstmar/Schöppingen – anzuerkennen und endlich, zum jetzigen Zeitpunkt, die längst fällige Umstrukturierung unserer Schullandschaft vorzunehmen. Aber dazu fehlt Ihnen ja leider der Mut, meine Damen und Herren.
Wir brauchen ein Schulsystem, das niemanden zurücklässt, ein Bildungssystem, das unsere Kinder nicht aussortiert oder in Sackgassen lenkt. Ein
Bildungssystem muss her, das unsere Kinder nicht zu Verlierern abstempelt.
Die kürzlich veröffentliche Bertelsmann-Bildungsstudie gibt uns natürlich recht. Laut Umfrage hält fast die Hälfte der befragten Bundesbürger das deutsche Bildungssystem für überholt und ungerecht.
Die Mehrheit der Befragten sprach sich für ein längeres gemeinsames Lernen aus.
Halbherzigkeit und fehlender Mut seitens der CDU/FDP-Regierung, das System den Gegebenheiten anzupassen, erweisen sich auch beim Ausbau der Ganztagsschulen – oder soll ich sagen: im Nichtausbau der Ganztagsschulen. Denn nach dem jetzigen Ganztagsprogramm der Landesregierung würde es wohl bis 2020 dauern, ehe auch die letzte Realschule und das letzte Gymnasium in eine Ganztagsschulform umgewandelt worden wären, und das auch nur dann, werte Kolleginnen und Kollegen, wenn die Finanzierung durch das Land konsequent durchgezogen würde. Den Ganztag für nur ein Gymnasium plus eine Realschule pro Kommune pro Jahr vorzusehen, reicht beileibe nicht aus. Wo, bitte, bleiben denn die Großstädte? Das Investitionsprogramm ist unzureichend. Es ist realitätsfern und wird sich zu einer schweren Belastung für die Kommunen entwickeln. Wir werden es erleben.
Im Gegensatz zum IZBB-Programm, das einen Eigenanteil der Kommunen von nur 10 % vorsah, müssen die Kommunen nun mindestens 50 % übernehmen. Pro Schule stellt die Landesregierung maximal 100.000 € bereit. Das ist eine völlig realitätsferne Summe, da Fachleute zum Beispiel den Bau einer Mensa ohne eigene Küche mit rund 750.000 € bis zu 1,5 Millionen € beziffern.
Die Begrenzung des Investitionsprogramms auf zwei Jahre wird dem bestehenden und noch erwachsenden Bedarf in keiner Weise gerecht.
Kommen wir zum wichtigen Thema „Schulmittagessen“: In der Praxis sieht es so aus, dass es Kinder erster und zweiter Klasse gibt, nämlich diejenigen, die sich das Essen leisten können, und diejenigen, bei denen das nicht der Fall ist. Nicht wenige Kinder verlassen vor dem Mittagessen die Schule, kommen dann aber zur nachmittäglichen Betreuung wieder. Ich brauche Ihnen, meine Damen und Herren, sicherlich nicht zu schildern, welchen Druck diese Situation auf die Kinder ausübt, zumal in 98 % der Fälle davon ausgegangen werden kann, dass diese Kinder auch zu Hause kein Mittagessen bekommen und mit hungrigem Magen in die Schule zurückkehren. Wenn es der Landesregierung wirklich so ernst ist, dass jedes
Kind ein warmes Mittagessen bekommt, muss sie auch die wirklich notwendigen finanziellen Investitionen tätigen.
Was passiert, wenn der Landesfonds „Kein Kind ohne Mahlzeit“ nach zweijähriger Laufzeit eingestellt wird? Wie sieht die Anschlussregelung aus, meine Damen und Herren? Es ist nicht damit getan, plakativ sozial zu argumentieren, aber in der Umsetzung jegliche soziale Verantwortung vermissen zu lassen.
Abschließend möchte ich betonen, dass meine Fraktion dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zustimmen wird.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den vergangenen 15 Jahren hat sich die Zahl der übergewichtigen Kinder in Deutschland auf über zwei Millionen verdoppelt: ein Indiz für weit verbreitete Fehlernährung und für Bewegungsmangel – keine Frage.
Forschungsinstitute belegen es schwarz auf weiß: Unsere Kinder essen zu wenig Gemüse, zu wenig
Vollkornprodukte, zu wenig Milchprodukte, sie sind nicht genügend mit Kalzium, Vitamin D und Fohlsäuren versorgt, sie essen zu viele Süßigkeiten, zu viel Fett, zu viel Salziges, und sie trinken zu wenig gesunde Flüssigkeiten.
Kurzum, unsere Kinder weisen eine Unterversorgung mit bestimmten Vitaminen und Mineralstoffen auf. Diese sind aber sehr wichtig für den reibungslosen Ablauf der Körperfunktionen, für die Leistungsfähigkeit und für das Wohlbefinden.
Das heißt, eine richtige und vollwertige Ernährung ist deshalb für Gesundheit und Wohlbefinden unentbehrlich, auch für Erwachsene. Damit meine ich keineswegs die viel gepriesenen Snacks mit viel gesunder Milch, die vielleicht toll schmecken, aber keineswegs besonders gesund sind, wie uns die Werbung das weismachen will.
Und genau hier setzt eine bessere Ernährungs- und Verbraucherbildung an. Denn körperliche und geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen steht ebenso in engem Zusammenhang mit einer ausgewogenen Ernährung wie ein ausreichendes Maß an Bewegung, das weder vor dem Fernseher noch vor dem Computer erreicht werden kann.
Um Fehlernährung und die damit verbundenen Folgekrankheiten, wie Adipositas, Diabetes, orthopädische Beschwerden und Haltungsschäden sowie Herzkreislauf- und Stoffwechselstörungen weitgehend zu vermeiden, muss der Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit schon früh verdeutlicht werden. Einmal erworbene Ernährungsmuster werden häufig ein ganzes Leben lang beibehalten. Die Kinder müssen schon im Kindergarten kennenlernen, dass das Zubereiten frischer Mahlzeiten Spaß machen kann. Sie müssen kennenlernen, dass frisch zubereitetes Essen einfach besser schmeckt. Es genügt nicht, ihnen dieses Wissen zu vermitteln, sie müssen es aktiv erleben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das Grundwissen von Kindern über Lebensmittel und Ernährung geht ständig zurück. – Sie haben schon darauf hingewiesen, Frau Kastner. – Die meisten Kinder kennen Fisch nur noch als Fischstäbchen. Und auch gemeinsame Mahlzeiten mit der Familie sind nicht mehr selbstverständlich.
Da wird die Rolle der allgemeinen Bildungsinstitutionen umso wichtiger. Gesundheitsförderung muss demnach bereits im Kindergarten obligatorisch werden. Da Ernährungsbildung immer auch etwas mit Verbraucherbildung zu tun hat, wäre darüber hinaus auch ein kritischer Umgang mit den zahlreichen, speziell für Kinder hergestellten
Lebensmitteln, die ich bereits eingangs erwähnte, erreicht.
Kinder sind bekanntlich die schwächsten Verbraucher. Deshalb sind Eltern und Wirtschaft genauso aufgerufen wie Politik, Kinder besser vor den Folgen der Fehlernährung zu schützen. Denn es kann nicht sein, meine Damen und Herren, dass Ernährungsberatung nur dann von der Politik beachtet wird, wenn es Lebensmittelskandale gibt.
Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das Forschungsprojekt REVIS, Reform der Ernährungs- und Verbraucherbildung in Schulen. In der Schulpraxis unterliegt es bislang in weiten Teilen dem Engagement der Schule oder einzelner Lehrer, ob und wie die Bildungsbereiche Ernährung und Konsum behandelt werden. REVIS will hier auf unterschiedlichen Ebenen Hilfestellung bieten. Die konkreten Lehrinhalte sind fächerübergreifend. Ernährungs- und Verbraucherbildung muss also keineswegs als neues Fach eingeführt werden.
Darum sollten wir die Gunst der Stunde nutzen und gemeinsam zum Wohl unserer Kinder handeln. Ich finde es positiv, dass das ein Allfraktionenantrag ist. Ich freue mich auf die Abstimmung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sicherlich sind etliche Väter und Mütter unter uns. Ich möchte einmal darauf hinweisen: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihr Kind als dumm bezeichnet würde? Das ist ein Schubladendenken: Kann das Kind nicht rechnen, wird gesagt: Das Kind ist dumm. Der psychische Druck, der damit auf die betroffenen Schülerinnen und Schüler ausgeübt wird, ist enorm und hat meist noch weitere negative Folgen.
Dabei sind es mitnichten, meine Damen und Herren, mangelnde Intelligenz, fehlende Begabung oder Probleme im sozialen Umfeld, die bei immerhin rund 5 % der deutschen Drittklässler zu großen Leistungsrückständen führen. Die Diagnose lautet Dyskalkulie oder Rechenstörung. Wer möchte da nicht die bestmögliche Förderung und Unterstützung für diese Kinder?
Den betroffenen Kindern fehlt das Verständnis für Mengen und Richtungen. Grundlegende Rechenoperationen wie Additionen, Subtraktionen, Multiplikationen und Divisionen werden nur schwer erlernt, wenn überhaupt. Höhere Fertigkeiten, die für Algebra, Geometrie oder Differenzialrechnungen benötigt werden, sind hingegen häufig vorhanden. Es ist die vorrangige Aufgabe der Schule, Schülerinnen und Schüler die grundlegenden Fähigkeiten und Fertigkeiten zum erfolgreichen Lernen in Mathematik zu vermitteln. Hierzu bedarf es Fachlehrer, die durch ihre Ausbildung und die kontinuierliche Weiterbildung die Rechenstörung
erkennen und frühzeitig fördern. Besonderes Augenmerk muss dabei auf den Grundschulbereich gerichtet werden, denn hier werden die Grundlagen für die Zukunft gelegt.
Wird die Diagnose Dyskalkulie gestellt, muss diese im schulischen Bereich berücksichtigt werden – auch an weiterführenden Schulen –, vor allem vor dem Hintergrund, dass eine Rechenstörung zwar bereits Mitte des zweiten Schuljahres durch Fachleute diagnostiziert werden kann, aber im schulischen Bereich meist erst im dritten oder vierten Schuljahr gravierend auffällt. Um betroffenen Kindern eine gezielte Förderung zuteil werden zu lassen, ist eine schulrechtliche Regelung dringend erforderlich.
Nur so können bei Bedarf Nachteile ausgeglichen, Notenschutz gewährleistet und letztendlich die grundlegenden mathematischen Kenntnisse aufgebaut werden.
Es sollten daher während der Förderphase folgende Möglichkeiten gegeben werden: Aufgaben zu stellen, die dem individuellen Lernstand entsprechen; Notenschutz bei Prüfungen und Abschlussarbeiten; mehr Zeit bei den Klassenarbeiten und die Leistungsbewertung so vorzunehmen, dass der erreichte Lernstand pädagogisch gewürdigt wird und nicht zu einem Misserfolg abqualifiziert wird, weil der Klassenstand noch nicht erreicht ist; mündliche Leistungen, die dem individuellen Lernstand entsprechen, stärker zu gewichten; auch in der weiterführenden Schule die diagnostizierte Rechenstörung zu berücksichtigen.
Für Schülerinnen und Schüler, die von einer Dyskalkulie betroffen sind, muss über eine schulische Regelung gewährleistet sein, dass sie das Rechnen mit allen Hilfen, die möglich sind, erlernen, um ihnen einen begabungsgerechten Schulabschluss zu ermöglichen und sie nicht von der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auszuschließen.
Bewahren wir diese Kinder vor dem Schubladendenken, meine Damen und Herren! Dazu bedarf es jedoch unstrittig der Anerkennung der Dyskalkulie als Teilleistungsstörung. Andere Bundesländer haben uns dies schon voraus und entsprechende Erlasse verfasst. Deshalb werden wir dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf individuelle Förderung von Kindern mit Teilleistungsstörungen zustimmen. Ich bedauere es sehr, dass wir im Ausschuss für Schule und Weiterbildung nicht weitergekommen sind, zumal das
Thema vor zwei Jahren schon einmal behandelt wurde.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie kann es dazu kommen, dass traumatisierte Flüchtlinge, Opfer von Folter und Gewalt, keinen Schutz in Deutschland finden? Der wesentliche Grund dafür liegt in einem politisch wohl nicht ganz unerwünschten Misstrauen, das traumatisierten Flüchtlingen vor allem auf der Verwaltungsebene begegnet. Nur zu gern wird die Legende vom massenhaften Asylmissbrauch gepflegt und die posttraumatische Belastungsstörung, an der viele Opfer leiden, als „Modekrankheit“ heruntergespielt.
Da Gewaltopfer das im Verfolgerland Erlebte lieber verdrängen und in der Folge ihre Traumata erst spät diagnostiziert werden, gelten sie in den Ausländerbehörden gern als Simulanten. Da werden dann fadenscheinige und nicht aussagefähige Gutachten nur allzu gern zum Anlass genommen, schwer kranke Menschen ins Ausland abzuschieben.
Dass das Innenministerium dies duldet, ist in höchstem Maße inhuman und schlichtweg menschenverachtend. Denn das, was in der WDRSendung „Westpol“ geschildert und naturgemäß von Ihrem Ministerium als nicht zutreffend bezeichnet wurde, ist leider gängige Praxis.
Und das, obwohl der vom Innenministerium vorgelegte Informations- und Kriterienkatalog eine mehr oder weniger deutliche Sprache spricht,
mehr oder weniger deshalb, weil es immer wieder Schlupflöcher gibt, die von den Ausländerbehörden systematisch dazu genutzt werden, Menschen so schnell wie möglich abzuschieben. So heißt es etwa sinngemäß in diesem Katalog: Bei einer im unmittelbaren Zusammenhang mit der Abschiebung zu erwartenden wesentlichen oder lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes soll eine Abschiebung unterbleiben.
Da bei traumatisierten Opfern von Folter und Gewalt nachvollziehbar bei Abschiebung krankheitsbedingt eine gravierende Verschlimmerung ihrer Krankheit und häufig auch eine akute Suizidalität prognostiziert werden kann, müssten Ausländerbehörden derartige Abschiebungen eigentlich unterlassen. Das aber tun sie mitnichten, meine Damen und Herren. Dann wird mal eben schnell die Ursache der zu erwartenden Verschlimmerung wegdefiniert, eine Retraumatisierung verneint. Oder es wird einfach an die Folterung nicht geglaubt. Oder es wird kurzerhand die Behandelbarkeit der Erkrankung im Herkunftsland vorausgesetzt. Dann sieht die Ausländerbehörde eine prognostizierte Suizidalität eben nur noch als technisches Vollstreckungshindernis, dem im Vollzug der Abschiebung mit geeigneten Maßnahmen begegnet werden kann. Das, meine Damen und Herren, ist bestenfalls noch als zynisch zu bezeichnen.
Wie sehen denn solche geeigneten Maßnahmen aus? Was ist die geeignete Maßnahme, einen traumatisierten, suizidgefährdeten Flüchtling, der seiner Abschiebung entgegensieht, vom Suizid abzuhalten? Sicherlich nicht die in Ihrem Katalog vorgeschlagene, nicht angekündigte Abschiebung oder die Übergabe in eine Therapieeinrichtung im Heimatland. Einem Land, das nicht selten nichts, aber auch gar nichts mit unseren medizinischen und psychotherapeutischen Standards gemein hat.
Wir dürfen doch eins nicht vergessen, meine Damen und Herren: Die Verschlechterung des Gesundheitszustands von Traumatisierten begründet sich ja nicht aus dem Schock, das schöne Deutschland verlassen zu müssen. Ursache ist doch vielmehr, dass durch die erlittene Gewalt im Heimatland eine erzwungene Rückkehr dorthin für die Betroffenen das Erlebte wieder gegenwärtig macht.
Es sind doch nicht nur die vom WDR herangezogenen Fälle, meine Damen und Herren.
Bereits in der Vergangenheit haben die Ausländerbehörden die Auffassung vertreten, bei vollziehbar ausreisepflichtigen Traumatisierten habe sie nur die Flugreisetauglichkeit zu prüfen. Lebensbedrohliche Verschlimmerungen der psychischen Erkrankungen seien von Traumatisierten ausschließlich im Asylfolgeverfahren geltend zu machen. Da werden dann eben Ausreisepflichtige mit gesundheitlichen Problemen so lange ärztlichen Untersuchungen unterzogen, bis eine Reisetauglichkeit erteilt wird. Und das auch noch häufig von fachfremden Medizinern, was in meinen Augen ein absoluter Skandal ist.
Diese Ärzte werden oft lediglich befragt, ob der Patient reisefähig, sprich: flugfähig ist, ohne geklärt zu haben, ob die Medikation in dem Einreiseland für den Kranken gewährleistet ist. Nach Aussage einiger Untersuchten beschränkt sich die zehn- bis 15-minütige Untersuchung auf eine Feststellung des körperlichen Befundes und der eingenommenen Medikamente. Da wird dann schnell Flugreisetauglichkeit attestiert, auch bei solchen Menschen, die zuvor als besonders gefährdet und traumatisiert gemeldet wurden.
Das ist inhuman, aber sicherlich nicht nur ein Problem eines gewissen Bonner Arztes.
Wenn es denn den Informations- und Kriterienkatalog zur Mitwirkung von Ärztinnen und Ärzten bei Rückführungsfragen gibt, dann kann und darf es nicht sein, dass in der Praxis diese Vorgaben missachtet und unterlaufen werden.
Auch wenn Herr Staatssekretär Karl Peter Brendel behauptet, keinen Anlass zu sehen, um an der Praxis etwas zu ändern, so entlässt das niemanden aus der Verantwortung. Hier ist es vielmehr die Pflicht des Innenministeriums, bei Bekanntwerden solcher Unterlassungen die Fälle zumindest zu prüfen.
Es kann und darf außerdem nicht sein, dass schwerkranke Menschen unter Zuhilfenahme nicht aussagefähiger Gutachten ins Ausland abgeschoben werden. Hier scheint zu gelten: Wenn erst einmal die Landesgrenze verlassen ist, schert es uns herzlich wenig, was weiter mit diesen abgeschobenen Menschen passiert – getreu dem Motto: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
Sehr geehrter Herr Innenminister, hier drängt sich die Frage auf, welches Menschenbild Sie haben. Oder anders gesagt: Wo beginnt Humanität für Sie, wo hört sie auf? Ich fordere Sie auf, der Häufigkeit von „Gefälligkeitsgutachten“ nachzugehen
und den Ausländerbehörden Listen zu erstellen, die zugewiesene Experten benennen, auf die die Behörden dann zurückgreifen können,
damit das Schicksal traumatisierter Flüchtlinge nicht vom möglicherweise parteiischen Urteil eines x-beliebigen Arztes abhängt. Ich habe schon von Fällen gehört, bei denen ein Sport- oder Tropenmediziner über die Schwere der psychischen Erkrankung eines Flüchtlings zu befinden hatte.
Abschließend komme ich zu dem Ergebnis, dass die Begutachtung der Reisefähigkeit von kranken Menschen in der Praxis den Zielen des Informations- und Kriterienkatalogs der Landesregierung tatsächlich oft nicht entspricht. Nicht selten finden sie bei den zuständigen Ausländerbehörden keine Berücksichtigung.
Jetzt kommen Sie mir bitte nicht schon wieder mit dem Argument: „Die Westpol-Darstellung trifft nicht zu.“ Ich brauche keine WDR-Sendung, um mir ein Bild von der gängigen Praxis, von der Realität in nordrhein-westfälischen Ausländerbehörden zu verschaffen. Dazu braucht es lediglich eines gesunden Menschenverstandes, wacher Augen und Ohren, meine Damen und Herren.
Aus der Arbeit in meiner Heimatstadt Krefeld bin ich nur allzu vertraut mit dem oftmals unmenschlichen Umgang der Ausländerbehörde mit hilfesuchenden, verzweifelten Menschen. Zu meinem großen Bedauern ist die Krefelder Behörde schon berühmt-berüchtigt für ihre inhumane und indiskutable Art, ihrer Arbeit nachzugehen. Fast könnte man meinen, die Mitarbeiter werden pro abgeschobenem Flüchtling mit einer Prämie oder einem extra Urlaubstag belohnt. Dass diese Behördenmitarbeiter oftmals tatsächlich mit Lug und Trug konfrontiert werden, möchte ich gar nicht bestreiten. Aber gleich alle Flüchtlinge unter Generalverdacht zu stellen und ihre Erkrankungen als bloße Simulation abzutun, zeugt nicht nur von einem kranken Menschenbild, das ist schlichtweg skandalös.
Ich sollte vielleicht nur kurz erwähnen, dass auch in Krefeld eine schwarz-gelbe Koalition am Werk ist, die diesem Treiben offenbar tatenlos zusieht.
Zurzeit betreue ich eine äthiopische Familie, die man sich aus integrationspolitischer Sicht nur wünschen kann. Die Kinder sind Vorzeigeschüler, eins wird nach den Ferien auf ein Gymnasium wechseln, falls diese Familie bis dahin nicht auf Wunsch der Behörde abgeschoben wird. Das Kind, das auf das Gymnasium gehen will, ist epi
lepsiekrank. Die Mutter leidet unter starken Depressionen, weswegen sie auch schon häufig in stationärer Behandlung war.
Aber das alles interessiert die Ausländerbehörde nicht. Atteste unabhängiger – ich betone: unabhängiger – Ärzte, von Fachmedizinern, werden offenbar ignoriert. Auch hier geht es wieder nach Schema F. Wie kann die Familie flugfähig gemacht werden?
Dass der Junge während der Abschiebung einen epileptischen Anfall bekommen wird oder die Mutter im Flugzeug einen Suizid begeht, ist eher unwahrscheinlich. Was in der vermeintlichen Heimat, einem Land, das die Kinder noch nie gesehen haben, einem Land, das den Eltern viel Leid angetan hat, geschieht, kann uns ja auch egal sein.
Nein, meine Damen und Herren, das kann es nicht und darf es nicht sein. Wir müssen diese Menschen, schwer kranke, traumatisierte Flüchtlinge, schützen. Das ist unsere Pflicht als Mensch wie auch als Politiker. Solche Menschen dürfen nicht abgeschoben werden.
Die Reisefähigkeit von Flüchtlingen muss ausschließlich auf der Grundlage unabhängiger, fachärztlicher und aktueller Gutachten beurteilt werden. Ärztinnen und Ärzte, die diese Kriterien nicht einhalten, dürfen von den Ausländerbehörden nicht mehr beauftragt werden, Gutachten zur Feststellung der Reisefähigkeit von Flüchtlingen auszustellen. Dass es dazu eines Antrages hier im Hause bedarf, ist eigentlich beschämend.
Aber da dem nun einmal so ist, werden wir dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen selbstverständlich zustimmen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die internationale PISAStudie aus dem Jahr 2000 hat es an die Öffentlichkeit gebracht: Unter allen getesteten Basiskompetenzen fallen die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen hinsichtlich der Lesekompetenz am größten aus, und zwar in allen 32 getesteten OECD-Staaten. In allen Teilnehmerstaaten erreichten die Mädchen bessere Testwerte als die Jungen. Der Unterschied ist in jedem Land signifikant.
Ich möchte nur kurz erwähnen, dass in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften die Geschlechterunterschiede deutlich geringer und
weniger konsequent sind als beim Lesen. In der Mathematik lassen sich Leistungsvorteile für die Jungen feststellen.
Die geschlechtsspezifischen Ergebnisse zeigen, dass bei Aufgaben zum Reflektieren und Bewerten der Abstand zwischen Mädchen und Jungen groß ist. Insbesondere in der kritischen Auseinandersetzung mit Texten scheinen Jungen spezielle Schwächen aufzuweisen. Besonders groß sind die Unterschiede bei den sogenannten kontinuierlichen Texten, also den reinen Schrifttexten. Auch in der Lesegeschwindigkeit wurde ein signifikanter Geschlechterunterschied festgestellt. Hier zeigen sich die Mädchen ebenfalls deutlich überlegen.
Schließlich lässt sich noch eine weitere interessante Tendenz erkennen: Die Unterschiede in der Lesekompetenz sind zwar in den einzelnen Schulformen verschieden stark ausgeprägt;
ich hoffe, ich komme mit meiner Redezeit aus – es zeigt sich aber durchgängig, dass die Jungen in den unteren Kompetenzstufen deutlich überrepräsentiert und in den oberen Kompetenzstufen deutlich unterrepräsentiert sind.
Fakt ist, dass die Leistungen der Mädchen mit ihrer deutlich größeren Lesemotivation und der daraus resultierenden umfangreichen Lesepraxis zusammenhängen. Die PISA-Studie zeigte, welchen hohen Stellenwert das Interesse am Lesen für die Leseleistung hat. Beim Vergleich der Leseleistungen von Jungen und Mädchen, die ein ähnliches Interesse am Lesen aufweisen, reduzieren sich diese Unterschiede ganz deutlich. Bei vergleichbarer Freude am Lesen sind also keine signifikanten Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen zu erwarten.
Meine Damen und Herren, das lässt einen Schluss zu: Eine Leseförderung für Jungen muss insbesondere an der Lesemotivation und den Leseaktivitäten ansetzen.
Strittig ist nur der Zeitpunkt, wann genau Jungen das Interesse stärker zu verlieren beginnen und wann auf dieser Grundlage Interventionsmaßnahmen zu entwickeln sind. Wir dürfen davon ausgehen, dass diese Unterschiede bereits am Ende des Grundschulalters deutlich ausgeprägt sind. Mädchen fällt es leichter, sich lesend in die Erfahrung anderer Menschen einzuleben. Darum profitieren sie auch stärker von einem Deutschunterricht, der auf fiktionale Texte konzentriert ist.
Die Leseinteressen von Jungen, die sich eher auf Sachbücher richten, werden dagegen vom Litera
turunterricht zu wenig angesprochen. Spaß am Deutschunterricht ist also ein wichtiger Indikator.
Eine Studie bringt einen weiteren interessanten Aspekt zutage. Hatten Grundschulkinder für ihre freien Lesestunden in der Schule neben Büchern auch elektronische Medien zur Auswahl, waren die geschlechtsspezifischen Differenzen deutlich geringer ausgeprägt. Das medial erweiterte Lektürenangebot scheint also besonders für Jungen aktivierend zu sein.
Es bestätigt sich, was wir aus vielen vorausgegangenen Studien bereits wissen: dass das Geschlecht einerseits und die Bildung andererseits zu einem großen Teil darüber entscheiden, ob gewohnheitsmäßig eher viel oder eher wenig gelesen wird – wobei Mädchen auf jedem Bildungsniveau deutlich mehr lesen.
Die Tragweite dieser Entwicklungstendenzen wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Lesekompetenz der Schlüssel zur kompetenten Nutzung aller anderen Medien ist. Als wirksamste Medienpädagogik darf also ein effizienter Leseunterricht bezeichnet werden.
Alle Mediennutzungsstudien der letzten Jahre belegen eindeutig eine Tatsache: Computer- und Videospiele sind ebenso wie das Lernen fiktionaler Literatur eine Form geschlechtsspezifischer Mediennutzung. Der Beliebtheit des Lesens bei den Mädchen entspricht die Beliebtheit von Bildschirmspielen bei den Jungen. Der alte Streit der Medienforschung, ob die neuen Medien die alten verdrängen oder ergänzen, muss tendenziell geschlechtsspezifisch differenziert werden. Während Mädchen die neuen Medien eher ergänzend nutzen, findet vor allem bei den Jungen eine Ersetzung oder Verdrängung von Printmedien durch Bildschirmmedien statt.
Weil die Schule eine vollkommen unzulängliche Leseförderung betreibt, verstärkt sie diesen Trend. Insbesondere der Lese- und Literaturunterricht im Fach Deutsch ist an veralteten Vorstellungen orientiert und weitgehend unzeitgemäß.
Dass sich die Interessen und Bedürfnisse von Jungen und Mädchen unterscheiden, ist wohl kein neuer, sondern ein alter Sachverhalt. Tatsache ist: Mädchen bevorzugen Beziehungsgeschichten, Jungen Spannung und Action. Harry Potter ist deshalb so erfolgreich, weil diese Geschichte beiden Geschlechtern etwas zu bieten hat.
Während früher auch die Jungen die Mühen des Lesens auf sich nehmen mussten, um ihre bevorzugten Geschichten zu lesen, können sie sich heute diese Mühen leicht ersparen, indem sie
Filme sehen oder Bildschirmspiele am PC oder an der Spielkonsole spielen – was sie auch tun.
Zur geschlechtsspezifischen Leseförderung ist Voraussetzung – wobei hier vor allem die Jungen als die primäre Adressatengruppe anzusehen sind –, dass sich die Männerbilder in unserer Gesellschaft wandeln. Die Arbeit an den Frauenbildern hat die neuere Frauenbewegung in den letzten Jahrzehnten schon geleistet. Die Arbeit an einer wirklichen Geschlechterdemokratie wird darum ein langfristiges gesellschaftliches Projekt bleiben, an dem wir alle gemeinsam arbeiten müssen, meine Damen und Herren.
Kurzfristig können und müssen wir daran arbeiten, dass in den Schulen im Verbund mit den öffentlichen Bibliotheken eine kontinuierliche und systematische Leseförderung betrieben wird, und zwar von Klasse 1 bis 12 oder 13.
Ich weiß. – In keinem anderen Land versagt die Schule so gründlich in ihrer Aufgabe, für alle Kinder die gleichen Chancen einer qualifizierten Bildung und Ausbildung herzustellen, wie in Deutschland. In den Schulen muss mehr gelesen werden.
Ich verkürze es jetzt. – Geschlechtssensible Leseförderung ist damit die preiswerteste Zukunftsinvestition, meine Damen und Herren. – Vielen Dank.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer in die Zukunft investieren will, muss bei den Kindern beginnen. Das ist unstrittig. Ein neues Gesetz, nach dem Motto „Neue Besen kehren gut“, musste her, das die Eltern entlastet, die Qualität der Betreuung und Bildung erhöht und neue Plätze für Kleinkinder schafft.
Ja, Moment! KiBiz, meine Damen und Herren, hält bekanntlich keines dieser Versprechen.
Und noch schlimmer: Den meisten Betreuungseinrichtungen bleibt durch KiBiz weniger Geld und weniger Personal. Bewältigen müssen sie damit aber immer mehr Aufgaben. In diesem Jahr kommen noch rund 34.000 Kinder unter drei Jahren hinzu. Mehr als „sauber, satt und trocken“ wird es für sie nicht geben. Wo, bitte schön, bleiben dann noch frühkindliche Bildung und gute Betreuung?
Ich fasse einmal zusammen: KiBiz ist auch nach fast zweijähriger Beratung kein Bildungsgesetz.
KiBiz ist ein Spargesetz. KiBiz baut Personal ab und macht Planung unmöglich. KiBiz schafft große Gruppen und bedroht kleine Einrichtungen. KiBiz führt zu höheren Elternbeiträgen und ist nichts für Vollzeitbeschäftigte. Kurzum: KiBiz nutzt nicht – es schadet.
Darüber, dass Herr Minister Laschet das KiBiz als das – ich darf zitieren – „modernste Kindergartengesetz in Deutschland“ bezeichnet,
könnte man fast lachen.
Da sind uns einige Länder doch weit voraus, die das dritte Kindergartenjahr bereits beitragsfrei halten oder es zumindest planen.
Sie sind ja gleich dran, Herr Minister. – Darüber hinaus wird der Eindruck erweckt, dass die Sprachförderung in NRW neu sei. Neu ist lediglich der landesweite Test für alle vierjährigen Kinder. Von „modern“ kann also wirklich nicht die Rede sein.
In Anbetracht all dieser berechtigten Kritikpunkte bleibt einem das Lachen schnell im Hals stecken, meine Damen und Herren. Denn KiBiz wird seinem Namen in keinster Weise gerecht. Im Kinderbildungsgesetz finden sich überhaupt keine Vorschläge zur Förderung der musischen, sozialen, emotionalen oder motorischen Entwicklung.
Allein die Sprachförderung wird erwähnt.
Ein gutes Betreuungsgesetz muss den Anspruch auf bestmögliche Förderung aller Kinder verwirklichen. Das bedeutet nicht nur mehr Quantität, sondern viel mehr Qualität. Das bedeutet auch, dass wissenschaftlich valide Daten erforderlich sind. Die Berichtspflicht allein sagt noch nichts über das Erreichen zentraler Ziele des Kinderbildungsgesetzes aus.
Wie verändert sich die Lebenslage der Kinder durch die Neuregelung? Wie entwickeln sich der Sprachstand der Kinder und die Qualität der Einrichtungen? Zeigen die eingerichteten Familienzentren Wirkung? Alle diese Fragen lassen nur einen Schluss zu: Dass eine Übergangszeit bei der Umsetzung des KiBiz fehlt, ist kontraproduktiv.
Apropos kontraproduktiv: Bereits bei der Vorbereitung des Gesetzentwurfs wurden die Beschäftigten und Elternvertretungen außen vor gelassen, Herr Minister. Auch jetzt sollen deren Erfahrungen und Erkenntnisse nicht einbezogen werden.
Was wir brauchen, ist eine wissenschaftlich unabhängige Wirksamkeitsstudie, und zwar in kurzen Abständen, um möglichst zeitnah die Auswirkungen der Neuregelungen feststellen zu können. Nur dann können etwaige Korrekturen vorgenommen werden. Diese Korrekturen sind doch wohl das Mindeste, was wir für unsere Kinder nach diesem kinder- und familienpolitischen Totalschaden KiBiz noch tun können, meine Damen und Herren.
Dem grundsätzlichen Anliegen des Antrags auf eine gründliche wissenschaftliche Evaluation des Kinderbildungsgesetzes folgen wir also. Deshalb lehnen wir die Beschlussempfehlung ab. – Vielen Dank.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Im August wurde den Schulträgern mit einem
Schreiben mitgeteilt, dass das Land einen Landesfonds von 10 Millionen € auflegt, um bedürftigen Kindern zu ermöglichen, am Schulessen teilzunehmen. Ministerpräsident Rüttgers machte das zu einem persönlichen Anliegen. Ich zitiere:
„Es darf nicht sein, dass Kinder aus sozial schwächer gestellten Familien von dieser wichtigen gemeinsamen Mahlzeit ausgeschlossen werden oder die Kosten Eltern davon abhalten, Kinder in einer solchen Einrichtung anzumelden.“
In der Praxis sieht es allerdings so aus, dass es Kinder erster und zweiter Klasse gibt – nämlich die, die sich das Essen leisten können, und die, bei denen das nicht der Fall ist. Nicht wenige Kinder verlassen vor dem Mittagessen die Schule, kommen dann aber zur nachmittäglichen Betreuung wieder dorthin zurück. Ich brauche Ihnen sicher nicht zu schildern, welchen Druck diese Situation auf die Kinder ausübt; denn in 98 % der Fälle können wir davon ausgehen, dass für diese Kinder auch zu Hause kein Mittagessen zur Verfügung gestellt worden ist und sie mit hungrigem Magen in die Schule zurückkommen.
Dazu eine kleine Begebenheit: Eine Schule in Wuppertal. Ein Mädchen, ungefähr zwölf Jahre alt, stürzt in die Mensa einer Gesamtschule, greift sich ein Stück Fleisch vom Teller eines Fünftklässlers, stürmt nach draußen, verlässt die Schule, rennt auf die andere Straßenseite und schlingt dieses Stück Fleisch hinunter.
Das geschah am zweiten Schultag nach den Sommerferien. Hintergrund: Bis zu den Sommerferien erhielten bedürftige Kinder in Wuppertal ein kostenloses Schulessen. – Das ist die traurige Realität in NRW.
Im Rundschreiben des Ministeriums steht:
„Ziel des Landesfonds muss es sein, Kinder und Jugendliche an eine gesunde Ernährung heranzuführen und ein angemessenes Sozialverhalten beim Essen zu fördern.“
Das klingt alles sehr gut. Ich schildere Ihnen aber einmal Beispiele aus der Praxis. Der Gebrauch von Messern und Gabeln ist vielen Kindern fremd. Beispielsweise wird ein Stück Fleisch wird auf eine Gabel gespießt und rundherum abgenagt; ich erspare mir ein anderes Wort für „nagen“. Gemüsesorten sind vielen Kindern unbekannt. Gekochte Kartoffeln werden nicht identifiziert, weil man sie nur in Form von Pommes frites kennt.
Die gemeinsame Mahlzeit ist nicht nur von ernährungswissenschaftlicher Relevanz, sondern bietet auch eine soziale Komponente; denn in vielen
Familien wird eine gemeinsame Mahlzeit nicht mehr praktiziert – auch in den sogenannten bürgerlichen Familien nicht mehr.
Das vonseiten der Landesregierung veranschlagte Finanzierungskonzept in Höhe von 10 Millionen € ist nicht ausreichend. Außerdem ist diese Förderung – Frau Kollegin Löhrmann hat eben schon darauf hingewiesen – mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand verbunden, der den Erfordernissen von Schule nicht gerecht wird. Die Schulen müssen prüfen, welche Kinder bedürftig sind. Ihre Eltern haben mitzuteilen, ob sie Hartz-IV-Empfänger sind. Natürlich gibt es eine Menge Eltern, die sich schämen, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Deren Kinder können dann auch nicht am Mittagessen teilnehmen. Die Dunkelziffer ist hoch.
Hier gilt es, in Eigenverantwortung des Landes im Sinne der Kinder und Jugendlichen den Beitrag zu investieren, der notwendig ist. Die veranschlagten 10 Millionen € reichen bei Weitem nicht aus. Einige Kollegen haben bei dieser Debatte geschildert, dass ihre Heimatkommunen schon Gelder beim Landesfonds beantragt haben. Diese Anträge stellen mittlerweile viele Kommunen. Das wird zwangsläufig dazu führen, dass Sie feststellen müssen, dass mit diesen 10 Millionen € nicht auszukommen ist.
Gerne, Herr Minister. – Wenn es der Landesregierung wirklich so ernst damit ist, dass jedes Kind ein warmes Mittagessen erhält, muss sie auch die notwendigen finanziellen Investitionen tätigen und darf sich nicht darauf verlassen, durch Patenschaften und Sponsoring, also Bereitwilligkeit von Ehrenamtlern, die finanzielle Lücke zu schließen, wie der Ministerpräsident sich das vorstellt.
Denn es ist nicht damit getan – damit komme ich zum Schluss –, plakativ sozial zu argumentieren und in der Umsetzung jegliche soziale Verantwortung vermissen zu lassen. – Vielen Dank.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Guinea, im Westen Afrikas gelegen, hat bekannte Nachbarn: Senegal, Mali, Elfenbeinküste, Liberia und Sierra Leone. Informationen über diese Länder liefern uns die täglichen Nachrichten in Form von Berichten über Kriegsregierungen, Wahlbetrug, Vertreibung, das Notleiden der Bevölkerung und Analphabetentum. Ich könnte diese Reihe beliebig fortsetzen.
Selbstverständlich ist es in der ehemaligen französischen Kolonie Guinea nicht anders. Wir wollen über das Bleiben von Menschen diskutieren, die aus einem Land kommen, das nicht jedem bekannt ist. Ich möchte Ihnen kurz einige Informationen geben, denn es gibt etliche unter Ihnen, die doch nicht so informiert sind.
Es handelt sich um eine Bevölkerung von 7,3 Millionen Menschen. 5,5 Millionen Menschen leben in den vier größten Städten dieses Landes. Bei einer Bevölkerung, die zu 44 % aus unter 14Jährigen besteht, liegt die Analphabetenquote bei 70 %. 44 % der Bevölkerung sind unter 14Jährige. Meine Damen und Herren, bitte vergleichen Sie dies einmal mit den Zahlen für Ungarn, Italien und Deutschland.
Das Bruttosozialprodukt liegt bei 430 € pro Kopf. Das Jahreseinkommen je Einwohner beträgt 190 €.
Zur politischen Situation ganz kurz: 1958 wurden diplomatische Beziehungen zur damaligen Bundesrepublik Deutschland aufgebaut. Nach der portugiesischen Landung und einem Umsturzversuch im Jahre 1970 wurden die Beziehungen bis 1995 unterbrochen.
In den folgenden Jahren übernahm Oberst Lansana Conté die Macht, und es kam zur Ausrufung der Zweiten Republik. Im Dezember 1993 wurde erstmals demokratisch gewählt. Der Präsident wurde bestätigt. Ein Jahr später erfolgte die Ausrufung der Dritten Republik.
In den nachfolgenden Jahren kam es immer wieder zu Aufständen, die in der Niederschlagung einer Militärrevolte im Februar 1996 gipfelten. 1998 wurde Präsident Lansana mit 54 % der abgegebenen Stimmen für weitere fünf Jahre bestätigt. Trotzdem gab es 2002 eine nicht demokratische Wahl, die selbstverständlich mit einem klaren Sieg für die Regierungspartei PUP endete.
Meine Damen und Herren, dieses Land ist kein demokratisch regiertes Land. Flüchtlinge aus Guinea, die in NRW leben, dürfen nicht dorthin abgeschoben werden. Hierbei geht es um 400 bis 450 Menschen, die zum Teil über Schleuser nach Deutschland gekommen sind. Im Zielland angekommen – Frau Kollegin Düker wies darauf hin –, nahm man ihnen die Papiere ab, und sie waren identitätslos. Einer der Schleuser war N’Faly Keita, der Mann, der die guineische Delegation leitete.
Die Praxis der Anhörungen zur Identifikation besteht darin, aufgrund der Aussprache und der Gesichtsform der Menschen eine bestimmte Nationalität herauszufinden. Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Was ist das für ein Ausleseverfahren? – Auch Flüchtlinge, die nicht sprechen wollten, wurden demnach als Guineer eingeordnet. Was für eine unglaubliche Vorgehensweise, werte Kolleginnen und Kollegen!
Nur der Berichterstattung in der Presse über die dubiosen Machenschaften des Herrn N’Faly Keita führten dazu, dass er als Leiter der Delegation abgelöst wurde.
Es wird aber nicht besser. Die Delegationsmitglieder aus Guinea sind Regierungsbeamte, die für ihre Tätigkeit von deutschen Behörden nachweislich sehr gut bezahlt werden. Darunter ist ein Beamter, der für seine perfiden Foltermethoden bekannt ist.
Diplomatische Vertreter sind an den Anhörungen nicht beteiligt. Die Gerichte vertreten zunehmend die Auffassung, dass selbst eine Delegation, deren Zusammensetzung und Arbeitsweise in der Vergangenheit als höchst fragwürdig kritisiert wurde, als Vertretung des entsendenden Staates anzusehen ist.
Mit dem Wissen um die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in diesem westafrikanischen Land kann sich die SPD-Fraktion, wie im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beschrieben, Folgendem nur anschließen: umgehender Abschiebestopp für die guinesischen Flüchtlinge in NRW-Abschiebehaft – auch für jene Flüchtlinge, denen in Braunschweig Passersatzpapiere ausgestellt wurden.
Lassen Sie mich mit einem Appell von EUKommissar Franco Frattini schließen: Anstatt Einwanderer nur abzuwehren, könnte die EU sie auch willkommen heißen. Europa konkurriert mit Australien, Kanada und den USA sowie den aufstrebenden Ländern Asiens. Europa braucht qualifizierte Menschen. Europa braucht junge Menschen. – Das kann ein Ziel sein, meine Damen und Herren.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren. Trecks zerlumpter Menschen in den verschneiten Pässen Afghanistans, vor den Küsten Südostasiens umherirrende Schiffe, von Piraten ausgeraubt und von feindseligen Patrouillenbooten aufgebracht, boat people aus Vietnam, überfüllte Boote mit kubanischen Emigranten vor den Küsten Floridas, Lager im thailändischkambodschanischen Grenzgebiet, in der Westsahara, im Libanon, in Botswana, im Sudan – diese Liste ließe sich fortführen. Das sind Bilder von Flüchtlingstragödien, die die Welt der Gesicherten und Gesättigten erreichen.
Auf 50 Millionen wird die Zahl der Flüchtlinge im Augenblick weltweit geschätzt. Dabei dürften die Annahmen eher zu niedrig als zu hoch liegen, und die Tendenz weist eindeutig nach oben. Wir leben im Jahrhundert der Fluchtbewegungen und Vertreibungen.
Vertreibung, Flucht und Entwurzelung sind ein uraltes Phänomen der Menschheitsgeschichte. Die Flucht und Vertreibung von mehr als zwölf Millionen Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße sind allerdings in den Gesamtzusammenhang der deutschen und europäischen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts einzuordnen und sollten nicht singulär, sondern im historischen und aktuellen Kontext betrachtet werden.
Erinnert sei an die Verfolgungen des Judentums seit 2.000 Jahren in verschiedenen Ländern. Erinnert sei an die beachtliche Zahl von Glaubensflüchtlingen in der frühen Neuzeit: Rund 150.000 Protestanten mussten während des 30-jährigen Krieges Österreich und Böhmen verlassen und fanden Aufnahme in den evangelischen Territorien Süddeutschlands. Puritaner, Mennoniten und andere religiöse Gruppen aus Europa suchten im 17. Jahrhundert in Amerika eine neue Heimat.
Erinnert sei schließlich an die Fluchtwelle aus politischen Gründen, die erfolgreiche oder auch gescheiterte Revolutionen seit 1789 in Europa auslösten.
So hart das Schicksal im Einzelnen den Flüchtlingen mitspielte, im Hinblick auf das Ausmaß von Flucht und Vertreibung stellt das 20. und 21. Jahrhundert alles bisher Dagewesene in den Schatten, zum Beispiel die Tragödie der Armenier, eines christlichen Volkes, das seit 2.000 Jahren im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Russland lebt. Schon 1895 und 1896 waren bei den Massakern 200.000 Armenier umgekommen. 1915 schließlich wurde die armenische Minderheit auf dem Boden des osmanischen Reichs nahezu ausgerottet. Von den 1,8 Millionen Armeniern blieben 600.000 verschont oder konnten sich über die Grenzen retten. 1,2 Millionen Menschen verloren auf grauenhafte Weise ihr Leben. Heute leben in der Türkei nur noch 60.000 Angehörige des armenischen Volkes.
In der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg flohen etwa 1 Million Menschen aus ideologischen Gründen vor den Bolschewiken aus Russland. Bald darauf setzte nach den faschistischen Machtergreifungen in Italien, Deutschland und Spanien die Emigration politisch Verfolgter ein. Parallel dazu kam es zwischen 1933 und 1939 – so lange es noch möglich war – zu einem Exodus von rund 340.000 Juden in Deutschland.
Der Zusammenbruch des Dritten Reiches löste dann eine der größten Völkerwanderungen der Geschichte aus: Zwischen 1944 und 1951 wurden in Europa 20 Millionen Menschen verschleppt, verjagt, evakuiert und umgesiedelt. Hauptleidtragende waren die Deutschen mit 12,5 Millionen Menschen, gefolgt von etwa 4,5 Millionen Polen.
So vielfältig dabei die Motive für die Flucht auch sein mögen, den äußeren Anlass bildeten immer die Zwangssituationen im Gefolge der weit mehr als 150 Kriege, die die Welt seit 1945 nicht zur Ruhe kommen ließen.
Äußerlich mag es große Unterschiede unter den Flüchtlingen geben, in einigen Merkmalen gleichen sie sich alle: Jeder politische Flüchtling ist das Opfer einer Zwangssituation. Er muss wählen zwischen der Unterdrückung in der Heimat und der Freiheit in der Fremde. Dabei sieht er in der Flucht und ihren Folgen das kleinere Übel. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Jeder Flüchtling leidet unter seiner Entwurzelung.
Die Zunahme kriegs- und bürgerkriegsähnlicher Zustände in verschiedenen Teilen der Welt ließ den Strom der Flüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland seit Mitte der 70er-Jahre erheblich anschwellen. Abgenommen haben Toleranz und Aufnahmebereitschaft in der deutschen Bevölkerung bedauerlicherweise. In breiten Schichten überwiegen Furcht vor ansteigender Kriminalität sowie die Vorstellung von einer unnötigen Belastung der öffentlichen Kassen.
Analog erinnere ich daran, dass in der frühen Nachkriegszeit die Vertriebenen keineswegs überall willkommen waren. Zunächst hatten die Vertriebenen Mühe, ihre Anliegen in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Dieser Prozess hat nahezu zwei Jahrzehnte gebraucht. Heute kommen weniger Flüchtlinge nach Deutschland. Suchten 1992 noch fast eine halbe Million Menschen hierzulande Asyl, waren es im vergangenen Jahr nur noch 100.000. Und die Zahl der Abgeschobenen steigt.
Vor diesem Hintergrund weise ich wiederholt auf die Wichtigkeit hin, dass die Flüchtlingsproblematik im Geschichts- oder Politikunterricht, in der Erwachsenenbildung und als Angebot der Landeszentrale für Politische Bildung sowohl unter nationalen als auch unter internationalen Aspekten behandelt werden muss.
Ich komme zum Schluss. Nach den erwähnten Zahlen sollten Verständnis, Toleranz und Solidarität für Menschen auf der Flucht, wo immer sie sich aufhalten oder eine neue Heimat suchen, für jeden von uns einen hohen Stellenwert haben.
Vielen Dank.