Protocol of the Session on September 15, 2005

Welch eingeschränkte Wahrnehmung haben Sie eigentlich? Das Land Nordrhein-Westfalen hat im letzten Zyklus allein 1.000 zusätzlichen Lehramtsanwärterinnen aus anderen Bundesländern Ausbildungsmöglichkeiten geboten.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Ich möchte deutlich machen, wie zum Beispiel das Land Hessen in NRW die Lehrer abgesaugt hat. Hessen hatte die zusätzlichen Mittel, weil es solche Ausbildungskapazitäten gar nicht vorhält, auch nicht im universitären Bereich. Das, was das Land Nordrhein-Westfalen an Ausbildung in allen Phasen leistet, müssen uns andere erst einmal nachmachen. Was die Lehrereinstellungspolitik und vor allen Dingen die Mehrbelastung von Lehrerinnen und Lehrern angeht, wollen Sie jetzt sicherlich in die Fußstapfen Hessens treten. Herzlichen Glückwunsch, liebe Lehrer und Lehrerinnen!

Zu dem Thema, das Sie heute mit Gewichtigkeit eingebracht haben, würde ich gerne konzeptionell etwas sagen und nicht den platten Wahlkampffloskeln folgen. Wir wissen aus der OECD-Lehrerstudie, dass deutsche Lehrerinnen im internationalen Vergleich sehr gut verdienen. Obwohl wir Weltmeister im Sortieren der Kinder sind und die homogensten Lerngruppen produzieren - auch das sagt die OECD-Lehrerstudie -, sind bei uns die Klagen über Schwierigkeit und Heterogenität der Kinder am größten. Frau Sommer, wir sollten uns vielleicht wirklich einmal über eine Schule für alle unterhalten. Denn dann brauchten Sie die Lehrerverschiebungen, die Sie eben vorgetragen haben, nicht vorzunehmen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die meiste Wertschätzung in der Bevölkerung - das sagen uns die Statistiken interessanterweise

immer wieder - genießen die Grundschullehrer und -lehrerinnen, die bekanntlich mit den heterogensten Gruppen umgehen und in internationalen Vergleichsstudien die besseren Ergebnisse erzielen, Stichwort: Iglu. Dafür erhalten sie in unserem System bezeichnenderweise die geringste Besoldung. Das dürfte gerade der Frau Ministerin bekannt sein.

Dazu sage ich Ihnen grundsätzlich: Wir können es uns in Zukunft überhaupt nicht mehr leisten, dass die am längsten ausgebildeten und am besten besoldeten Lehrer und Lehrerinnen im System, nämlich diejenigen, die am Gymnasium arbeiten, sagen können: „Mit diesem Kind will ich nicht arbeiten; das gehört nicht in meine Klasse“,

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

wenn wir wirklich alle Potenziale von Kindern entwickeln und ihre Talente fördern wollen. Um die Anerkennung und Wertschätzung für Lehrerinnen und Lehrer zu stärken, ist es erforderlich, die Verantwortungsgemeinschaft von Schule und Elternhaus zu stärken. Der Weg über Bündnisse für Erziehung und Bildungsvereinbarungen in den Schulen muss konsequent weiterentwickelt werden, aber mit dem Ziel von echter Partizipation von Eltern und Schülerinnen und Schülern in der Schule.

In diesem Sinne, Frau Ministerin, möchte ich Sie auch als langjährige Elternvertreterin bitten, überholte Konzepte und Begrifflichkeiten wie „Elternsprechstunde“, wie Sie im Amtsblatt vom 15. August ausführen, nicht mehr zu verbreiten. Eine gute Schule spricht längst von Beratungstagen; selbstverständlich gehören die Schülerinnen und Schüler dazu. Die Situation, dass sich Eltern wie in einer Patientenrolle die oft nicht verständlichen Diagnosen und Urteile abholen, sollten wir gemeinsam überwinden helfen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Eltern müssen sich jederzeit in der Schule willkommen fühlen, und gerade bildungsfernen Eltern muss der Zugang zur Schule wieder eröffnet werden.

Die Lehrerinnen und Lehrer brauchen Unterstützung, damit die Schule diese Herausforderungen auch meistern kann. Deswegen ist ein Unterstützungssystem unter anderem mit Sozialarbeit, Familienförderung und Gesundheitsexperten notwendig. Ich begrüße an dieser Stelle ausdrücklich die Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwanderungsfamilien, RAA, in NRW und beglückwünsche sie, die

heute 25-jährigen Geburtstag feiern. Sie gehören zu diesem Unterstützungssystem.

(Beifall von den GRÜNEN)

Sie arbeiten engagiert dafür, dass die Entwicklung interkultureller Kompetenz wie der produktive und konstruktive Umgang mit Heterogenität auch in der Frage der Lehrerbildung einen festen Stellenwert erhält und unverzichtbar ist.

Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Bereiche herausgreifen, an die wir uns machen müssen. Wir brauchen ein neues Lehrerarbeitszeitmodell, das die vielfältigen Aufgaben von der Elternarbeit bis zur Schulentwicklung würdigt und Lehrerarbeit nicht nur nach Unterrichtsstunden bemisst. Dazu gehört das Thema Präsenzzeit in der Schule mit den entsprechenden Lehrerarbeitsplätzen - ein Beitrag zur Teamentwicklung, zur Hilfe für Schüler, die ihre Lehrerinnen und Lehrer auch am Nachmittag treffen, für verlässliche Ansprechzeiten für Eltern und schließlich besonders für die hilfreiche gesundheitsfördernde Trennung von Dienstzeit und Privatzeit von Lehrern und Lehrerinnen, wie uns der Blick in die Schweiz zeigt.

Das Thema gesundheitsförderndes Selbstmanagement gehört auch in die Grundausbildung und die Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern.

Außerdem brauchen wir eine von Grund auf reformierte Besoldung, die sich nicht am Status, sondern an der Leistung und am Engagement der Lehrer und Lehrerinnen ausrichtet. - Danke schön.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Danke schön, Frau Beer. - Für die FDP-Fraktion hat Herr Witzel das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Zahlen, die wir regelmäßig und nicht erst seit vorgestern immer wieder auf den Tisch bekommen, zum Lehrermangel in Deutschland insgesamt, aber auch hier in Nordrhein-Westfalen, zeigen, wie dringend notwendig es ist, sich dieser Thematik anzunehmen und auch einmal über den Tag und über kurzfristige Aktionen hinaus Gesamtlösungen zu erarbeiten.

Der in diesem Zusammenhang kreativste Vorschlag kam von meiner grünen Vorrednerin, Frau Beer, die dafür plädiert hat, die Debatte über die Einheitsschule neu aufzunehmen, mit dem Hinweis, so würde es möglich, mehr Lehrer für den Schuldienst zu rekrutieren.

Ich glaube, das Gegenteil wird der Fall sein. Wenn Sie sehen, Frau Beer, dass sich über 80 % der Lehrer in Nordrhein-Westfalen im Aktionsbündnis Schule zusammengeschlossen und deutlich gemacht haben, dass sie das für den falschen Weg halten, wird deutlich, dass es kein geeigneter Vorschlag ist, auf die Einheitsschule zu setzen, was die Frage von Lehrerrekrutierungsperspektiven angeht - unabhängig davon, wie Sie ideologisch dazu stehen.

Zum Zweiten hätten Sie das, was Sie hier gefordert haben, auch Ihren Kollegen von den Grünen in der letzten Legislaturperiode sagen können. Denn die Ansätze, die in der Tat diskussionswürdig sind, zum Beispiel Ihre Ausführungen zu einem neuen Lehrerarbeitsmodell, von der FDPLandtagsfraktion in der letzten Legislaturperiode beantragt, sind von den Grünen bekämpft worden.

(Beifall von der FDP)

Insofern tun Sie jetzt nicht so, als hätten Sie über Nacht den Stein des Weisen gefunden. Sie hatten unsere Konzepte auf dem Tisch liegen. Wir haben uns regelmäßig jedes Jahr erneut des Themas gewidmet, die Attraktivität des Lehrerberufs in Nordrhein-Westfalen zu steigern. Sie vonseiten der Grünen haben zusammen mit der SPD in der letzten Legislaturperiode alle Bemühungen in diese Richtung abgelehnt.

Deshalb, Frau Beer, ist es richtig, dass wir in Nordrhein-Westfalen eine recht hohe Ausbildungsleistung haben, was die Befähigung angeht, den Lehrerberuf anzutreten. Umso mehr müssen Sie sich die Frage stellen: Was war in den letzten Jahren der Grund dafür, dass wir zwar zahlreiche Leute ausbilden, aber viel zu wenige nachher tatsächlich ihre Stelle im Schuldienst antreten?

Es gibt die unterschiedlichsten Gründe für die mangelnde Stellensituation, die Rot-Grün zu vertreten hat. Die Stellen, die es gab, waren zu wenig attraktiv ausgestaltet. Deshalb sind viele Lehrer - wie Sie zu Recht beschrieben haben - in andere Bundesländer oder direkt in die Wirtschaft abgewandert. Das ist ein Kernproblem. Längst nicht jeder, der in Nordrhein-Westfalen mit großem staatlichem, auch finanziellem Engagement für den Lehrerberuf qualifiziert ausgebildet wird, ist nachher bereit, eine Stelle im Schuldienst hier anzutreten.

Herr Witzel, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Ich glaube, das ist in der Aktuellen Stunde nicht üblich.

Ja, okay.

Insofern schauen Sie einmal auf Ihre Instrumente: Was haben Sie praktiziert? - Sie haben Vorgriffsstunden, Lehrermehrarbeit und Zwangsteilzeit eingeführt. Leistungsprämien wurden gestrichen. Sie haben regulären Planstellenersatz für Tausende von Planstellen durch bedarfsdeckenden Referendarsunterricht angeordnet und damit die Ausbildungsleistung entsprechend herabgesetzt. Sie haben Lehrern, die Sie zur Fortbildung geschickt haben, Bescheide über Studiengebühren zugestellt, weil die Maßnahmen an Hochschulen stattfinden. All das sind Maßnahmen, die Sie die letzten fünf Jahre praktiziert haben; also sollten Sie an der Stelle nicht so unkundig tun.

Ich bin der Meinung, dass die Attraktivität des Lehrerberufs nicht allein eine Frage der Finanzen ist. Das wäre zu kurz gegriffen. Das hängt auch insgesamt von den Arbeitsbedingungen ab. Das hängt zusammen mit den Fragen:

Welche disziplinarischen Rechte hat ein Lehrer heute, der es mit einer immer schwierigeren Schülerschaft zu tun hat, sich auch einmal selber durchzusetzen? Welche Kompetenzen räumt man ihm ein? Muss sich jeder Lehrer, der pflichtbewusst seiner Arbeit nachgehen will, der sachgerecht zensiert und ein Minimum an Disziplin im Unterricht erwartet, nachher mit monatelangen Verfahren vor Gericht auseinander setzen? Wie sehen die Klassengrößen aus? Warum haben Sie die Frequenzwerte heraufgesetzt? Warum haben Sie die Schüler-Lehrer-Relation in den letzten Jahren erhöht? Warum „verbrennen“ so viele Lehrer unnötige, wertvolle Arbeitsstunden mit Bürokratie? Warum finden Sie keine Schulleiter mehr? Gerade Leitungspositionen in der Schule müssten doch begehrt sein für Leute, die einen Aufstieg suchen.

Überall herrscht Mangel, weil immer mehr Leute sagen: Wir kommen durch den Verordnungswahn der letzten Jahre zu weniger Unterricht. Wir verwalten uns nur noch selber. Zu der eigentlichen pädagogischen Arbeit, für die wir uns einmal entschieden haben und die uns Freude bereitet, kommen wir immer weniger.

Insofern: Wir müssen hier umsteuern. Lassen Sie uns alles dafür tun, die Attraktivität des Lehrerberufs in den nächsten Jahren zu steigern. Wir werden unsere Vorschläge unterbreiten und unseren Lösungsbeitrag dazu leisten. Es würde mich freuen - auch wenn Sie in den letzten fünf Jahren nicht dazu bereit waren -, wenn Sie jetzt in Ihrer neuen Rolle mitziehen, damit wir insgesamt für

die Schüler unseres Landes dauerhaft eine bessere Lehrerversorgung in Nordrhein-Westfalen auf den Weg bekommen. - Vielen Dank.

(Beifall von FDP und CDU)

Danke schön, Herr Witzel. - Das Wort hat nun noch einmal für die Landesregierung Frau Ministerin Sommer.

Meine Damen und Herren, zum zweiten Mal! Ich darf zusammenfassen, was unstrittig ist: In den kommenden Jahren werden wir in Nordrhein-Westfalen einen hohen Bedarf an Lehrerinnen und Lehrern haben. Es wird Aufgabe der Landesregierung sein, diesen Bedarf zu decken.

Insgesamt gibt es bis 2010 einen Einstellungsbedarf von geschätzten 41.000 Lehrerinnen und Lehrern. Diese Zahl ergibt sich dadurch, dass wir alle 38.000 bis dahin frei werdenden Lehrerstellen wieder besetzen und im Laufe der Legislaturperiode noch weitere 3.000 Stellen zusätzlich schaffen werden.

(Beifall von CDU und FDP)

Bei diesem Einstellungsbedarf ist aber noch nicht berücksichtigt, dass wir 2.400 Stellenäquivalente für Ganztagsangebote in Grund- und Hauptschulen ausweisen werden.

(Beifall von CDU und FDP)

Dem Bedarf von rund 41.000 Lehrerinnen und Lehrern steht derzeit ein Potenzial von rund 36.500 Bewerberinnen und Bewerbern aus Nordrhein-Westfalen gegenüber. Nicht berücksichtigt ist dabei das Potenzial an Seiteneinsteigern sowie Bewerbern aus anderen Bundesländern.

Wir sehen jedoch heute das große Problem darin, dass vor allem der Bedarf an Lehrkräften für die Schulen der Sekundarstufe I und für das Berufskolleg gedeckt werden muss.

Ich darf einen Einwurf machen: Sehr geehrte Frau Hendricks, Sie sprachen eben von der Einstellungssituation in der Hauptschule. Wir müssen berücksichtigen, dass der Bedarf 2008 da sein wird. Das kann man errechnen, und das muss man vorher wissen. Das muss geregelt werden.

(Beifall von CDU und FDP)