Protocol of the Session on May 3, 2006

Die IBA hat seinerzeit dafür gesorgt, die Stätten der Industrie überhaupt zu erhalten. Die Triennale füllte und füllt diese industriellen Stätten heute mit neuem Leben. Stellvertretend seien hier die Zeche Zollverein und die Jahrhunderthalle in Bochum genannt. Und das – dies an die Kolleginnen und Kollegen aus dem Hauptausschuss gerichtet – sind gut investierte Ziel-2-Mittel in Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Unser damaliger Kultur- und Städtebauminister, Michael Vesper, hat sich konsequent für die Bewerbung Essens als Kulturhauptstadt eingesetzt. Er ist auch einer der Väter des Erfolgs.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Deswegen möchte ich ihn gerne mit einem Zitat selbst zu Wort kommen lassen:

„Die Begeisterungsfähigkeit und die Neugier des Publikums in der Region stecken an. Von diesem enthusiastischen Interesse der Menschen für Kunst und Kultur wird auch unsere Bewerbung getragen. Mit dem Leitmotiv „Wandel durch Kultur“ steht Essen für einen neuen, zukunftsweisenden Typ von Kulturhauptstadt. Mit unserer Kunst der Verwandlung werden wir Europa verführen.“

Das hat Michael Vesper bei der Übergabe der Bewerbung am 2. Juli 2004 in Berlin gesagt, und er hat Recht behalten.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Essen und die Region haben Europa verführt, und wir werden Europa weiter verführen. Nicht zuletzt die Art und Weise, wie sich Essen durchsetzte, setzt Maßstäbe für die Zukunft. Nicht Klüngelrunden haben die Auswahl in NRW getroffen, sondern eine hochkarätige Jury – ein kluger Schachzug von Michael Vesper.

So hatte Essen eine faire echte Chance, sich auch gegen die vermeintlich kulturell höherwertige Konkurrenz aus Köln und Münster durchzusetzen. Diese Chance hat sich die Region nicht nehmen lassen. Das Konzept von Essen und seiner Region war so überzeugend, dass letztlich ganz NRW hinter der Bewerbung stand. Deshalb kann auch ganz Nordrhein-Westfalen stolz auf die Kulturhauptstadt sein.

Die bundesdeutsche Jury, die Jury der Kultusministerkonferenz, ist schließlich zu folgendem Urteil gekommen. Ich zitiere:

„Die innere und äußere Dimension der Bewerbung ist mit der aller anderen Projekte unvergleichbar. Ganz besonders ist die Beteiligung der anderen ebenso betroffenen Städte im Ruhrgebiet. Hier geht es um Sein oder Nichtsein eines Kerngebietes der industriellen Vergangenheit Deutschlands und Europas. Grundlage wie Ziel dieser Entwicklung ist eine kulturelle Neudefinition, die über die Bewahrung und Neubespielung bedeutender Industriedenkmäler und deren touristische Erschließung hinausgeht.

Notwendig ist in diesem Fall die Bildung eines veränderten kollektiven Bewusstseins. Verödete Anlagen sollen zu Produktionsstätten eines neuen urbanen Selbstverständnisses werden, das die Region als Beispiel gelungener Modernisierung in die Zukunft tragen kann.“

Das ist richtig. Deshalb ist die Kulturhauptstadt 2010 keine Medaille, die man sich anhängt, sondern eine große Herausforderung. Deshalb darf der Prozess für die Kulturhauptstadt nicht schöne Schminke für ein Jahr sein, sondern muss Strukturwandel neu definieren und weiterentwickeln.

Und bei dem Frühstück, das wir heute Morgen mit dem Oberbürgermeister und dem Kulturdezernenten hatten, ist genau das noch einmal betont worden. Darüber bin ich sehr froh. Das zeigt, dass die Recht haben, die schon immer sagen: Kultur ist nicht das Sahnehäubchen, das obendrauf kommt, sondern die Hefe im Teig. So ein Verwandlungsprozess geht im Grunde nur mit Kultur.

(Beifall von den GRÜNEN)

Es geht um die Verwandlung einer städtischen Region von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft. Herr Ministerpräsident, ich bin Ihnen ausdrücklich dankbar und unterstreiche nachdrücklich, dass Sie als Maßstab des Erfolges das Prinzip der Nachhaltigkeit definiert haben, weil es eben keine Eintagsfliegen sein können und sein dürfen. Natürlich geht es darum, die Dinge zu vermitteln. Vom Verkauf möchte ich da nicht so gerne sprechen, aber es geht um Substanzveränderung. Es geht wirklich um Substanzveränderung.

Bei diesem Prozess gilt es meiner Ansicht nach, folgende Herausforderungen zu meistern:

Erstens. Die Kulturhauptstadt ist die große Chance, den Prozess zu vollziehen, dass aus der Addition von konkurrierenden Nachbarstädten eine Metropol

region wird, die Ruhrstadt. Frau Nell-Paul hat das zu Recht gesagt.

Zweitens. Es geht – so paradox das zunächst klingt – um die Entwicklung von identitätsstiftender Urbanität. Das möchte ich genauer erklären:

Das Ruhrgebiet zeichnet sich durch viele Widersprüche aus. Einer der Widersprüche ist: Kaum eine Region Europas ist aufgrund mehrerer Einwanderungsschübe kulturell so vielfältig, so bunt, so multikulturell wie das Ruhrgebiet, und das ist auch gut so; und doch wirkt kaum eine Region zugleich kulturell nach wie vor einförmig aufgrund der früheren wirtschaftlichen Monostruktur.

Was dem Ruhrgebiet tatsächlich lange fehlte, war Urbanität; doch in den vergangenen Jahrzehnten wurde aus dem Rhythmus der riesigen Maschinen wieder der Puls menschlicher Lebendigkeit.

Die Ruhrregion ist eben nicht mehr eine – Zitat – Brennstoffdemokratie, wie es Georg Kreisler in den 50er-Jahren in seiner Satire auf Gelsenkirchen so wunderbar auf den Punkt gebracht hat. Nur eine kleine Kostprobe:

„Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen, herrliche Stadt der urdeutschen Kohlenbergwerkindustrie. Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen, in unserer einzigartigen Brennstoffdemokratie.“

Hören Sie es sich an, ich habe es dabei. – Das ist vorbei. Nicht nur der Himmel ist wieder blau, das Leben spielt sich auch wieder über Tage ab.

Diesen Prozess fortzusetzen und voranzutreiben, ist der Anspruch, den die Bewerbung zur Kulturhauptstadt sich selbst gegeben hat. Deshalb, da bin ich sicher, wird die Kulturhauptstadt nicht vor allem die Kunst der Welt nach Essen und in die Region holen – das auch –, aber sie muss und sie wird vor allem die eigenen Stärken und Kräfte stärken, die Kulturen im Ruhrgebiet selbst und dem ganzen Europa präsentieren. Die Kulturhauptstadt wird dann erfolgreich sein, wenn sie die ganze Gesellschaft berührt, ergreift und sie zu einer neuen Einheit in kultureller Vielfalt zusammenführt.

Damit bin ich auch schon bei meinem letzten Punkt: Es ist auch die große Chance, all das, was diese Region, die Schmelztiegel verschiedener Kulturen, Ethnien, Lebenswelten und Lebensentwürfe ist – ich freue mich auch, dass Essen die wunderschöne Synagoge hat; das möchte ich mit Bezug auf den Beginn unserer heutigen Sitzung auch sagen –, bietet, zu integrieren und damit die Identität aller Menschen, die dort leben, die dort ihr Zuhause haben, zu stärken und so die Region

nach vorne zu bringen. Es ist die Kunst der Verwandlung und Vermehrung der riesigen, zum Teil brach liegenden Potenziale nicht nur der Flächen, sondern auch und gerade der Menschen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Auf diesem Weg wünschen wir Grüne, aber ich denke, auch wir alle, dem Ruhrgebiet und damit ganz NRW alles Gute und leisten gerne weiterhin unseren Beitrag, dass die Kulturhauptstadt zu dem Erfolg wird, den wir uns alle wünschen. Damit sage ich heute zum ersten Mal im neuen Sinne: Essen, Glück auf für eine neue Zukunft! – Herzlichen Dank.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Danke schön, Frau Löhrmann. – Für die FDP spricht nun Herr Witzel.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Mit der Nominierung der Stadt Essen als Kulturhauptstadt Europas stellvertretend für das gesamte Revier ist die seit vielen Jahren und Jahrzehnten immer mal wieder krisengeschüttelte Ruhrregion wieder eine erste Adresse auf dem bundesweiten und internationalen Parkett. Die Kulturhauptstadt wird zunehmend zum Symbol des Strukturwandels, vor allem aber auch für den Willen der Menschen, die in dieser Region leben, selbst zur Modernisierung und Erneuerung beizutragen. Das ist ein wichtiges Signal für eine gute Zukunft im Ruhrgebiet.

Ich persönlich bin mir sicher: Noch vor zehn Jahren wäre das anerkennende Votum der internationalen Jury in dieser Weise nicht denkbar gewesen. Die EU hat damit die jahrelangen Kraftanstrengungen der Menschen im Revier honoriert, und das zu Recht. Das Ruhrgebiet wird immer klarer Europas Metropolregion Nummer eins, und das wird auch endlich in Europa zunehmend so wahrgenommen.

Wenn Sie früher außerhalb Europas beispielsweise mit Amerikanern darüber diskutiert haben, wie Europa wahrgenommen wird, ihnen dabei eine Landkarte Europas, die Agglomerationsräume dokumentiert, gezeigt und sie gefragt haben, wo die Metropole, das Herz Europas ist, dann guckten alle auf den mit Abstand größten Ballungsraum, das Ruhrgebiet, der nicht nur im Herzen Europas liegt und zu allen Teilen seine Bezüge hat, sondern der auch wie kein anderer Raum eine immense Verdichtung und gewachsene Vielfalt über

Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte zu bieten hat.

Die Nominierung der Kulturhauptstadt ist deshalb ein Anlass zur Freude für alle – in Essen, im Ruhrgebiet, in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland insgesamt. Wir freuen uns über eine Auszeichnung, die mit Sicherheit in die weitere Ruhrgebietsgeschichte eingehen wird, und das auch vom Charakter her.

Ruhrkultur ist eben nicht Weimarer Klassik, und das ist auch gut so. Kultur hat Ecken und Kanten. Auch Mona Lisa ist nicht nur im klassischen Definitionssinne schön. Essen und die Ruhrregion werden daher mit ihrem eigenen und auch markanten Profil immer mehr zur Mona Lisa Europas werden.

Der Charme des Ruhrgebiets macht sich nicht an Kirchtürmen fest, sondern an der regionalen Identität einer traditionellen Industriekulturlandschaft im Umbruch.

Bemerkenswert ist auch – das haben wir nicht nur beim Vorauswahlverfahren innerhalb unseres Landes Nordrhein-Westfalen gesehen, sondern haben dieses Phänomen in dem gesamten jahrelangen, professionell von allen Entscheidern moderierten Prozess zu Recht immer wieder als wesentlichen Erfolgsbaustein in dem Bewerbungsverfahren so hervorgehoben –, die Geschlossenheit einer Region insgesamt, wo es kein Kirchturmdenken gab, wo sich andere Städte im Umland nach den ruhrgebietsinternen Vorabstimmungen, wie man die Bewerbung präsentiert und an welcher Stadt man sie festmacht, eben nicht, nachdem die Entscheidung zugunsten der Stadt Essen ausgegangen ist, aus irgendeiner falsch empfundenen Konkurrenz beleidigt zurückgezogen haben.

Nein, eine gesamte Region hat geschlossen darum gekämpft, diesen Titel zu erlangen. Das ist vorbildlich auch bei all dem, was man sich visionär für eine Ruhrstadt zukünftig vorstellen kann, sprich: die regionale Identität endlich dort zu stärken, wo viel zu lange über Jahre und Jahrzehnte hinweg viel zu kleinteilig, parzelliert in Lokalegoismen gedacht worden ist.

Das Votum der Jury ist deshalb auch ein überzeugendes Zeichen dafür, dass letzten Endes die Geschlossenheit der Region siegt und der Strukturwandel endlich beherzt von allen in Angriff genommen werden wird. Schon seit Jahren sind im Revier hochrangige kulturelle Angebote entstanden, die nun endlich ihre überregionale Bedeutung finden.

Nun führt im Land kulturpolitisch kein Weg an Essen und dem Ruhrgebiet mehr vorbei. Das gilt sicherlich auch für den Bund, und wir wollen alles dafür tun, dass dies auch in Europa künftig so ist. „Kulturhauptstadt Essen“ – diese Auszeichnung ehrt deshalb nicht nur die Stadt, sondern eine Region mit 53 Kommunen im Umland, die hinter der Bewerbung standen.

Mit den Essenern zitterten ganz unmittelbar über 5 Millionen Menschen. Über 600.000 von ihnen haben keinen deutschen Pass. Sie stammen aus 140 Nationen; knapp die Hälfte von ihnen ist türkischer Herkunft. Auch das ist richtig: Es gibt keine andere Region in Deutschland, die über etliche Jahrzehnte eine so bunte Zuwanderungsgeschichte hat wie das Revier.

Heute gönnen sich die Bürger dort neben einer umfänglichen freien Szene auch vier Opernhäuser im klassischen Sinne, fünf Universitäten, 200 Museen und acht Theater.

In den nächsten Wochen und Monaten kommt jede Menge Arbeit auf uns zu. Mit der erfolgten Nominierung ist das Wesentliche, was wir bis 2010 erreichen wollen, natürlich noch nicht geleistet. Da gibt es viel, was auf uns zukommt, und darauf freuen wir uns für die Zukunft ganz ausdrücklich.

Die nächsten Schritte liegen auf der Hand. Unmittelbar nach der Sommerpause soll eine Gesellschaft als Träger der Kulturhauptstadt 2010 gegründet werden. Darin werden die Stadt Essen und der Regionalverband Ruhr als Repräsentant der Kommunen, die im Initiativkreis Ruhrgebiet zusammengeschlossen Unternehmen und das Land NRW partnerschaftlich zusammenarbeiten.

Schon die Bewerbung hatte für die Kultur im Ruhrgebiet einen gewaltigen Schub gebracht. Diese Entwicklung – dessen bin ich mir sicher – wird sich weiter beschleunigen, verfestigen und mit all den begleitenden Maßnahmen zu einem großen Erfolg werden.

Wir brauchen ein touristisches Begleitkonzept. Wir werden den Perspektivplan Ruhrmetropole weiterentwickeln, das gemeinsame Regionalmarketing vorantreiben und zukünftig natürlich auch verstärkt in unsere Bemühungen im interkulturellen Dialog und für eine ausgeprägtere kulturelle Bildung im Ruhrgebiet investieren.

(Vorsitz: Vizepräsident Edgar Moron)