Protocol of the Session on October 14, 2015

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir alle zusammen stehen angesichts historisch hoher Flüchtlingszahlen vor einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung.

(Christian Dürr [FDP]: Ja, eben!)

Die Bundesregierung reagiert darauf mit einem Gesetzentwurf, der über den Beschluss des BundLänder-Gipfels hinausgehende Verschärfungen enthält. Im Bundesratsinnenausschuss konnte unsere Landesregierung durch eigene Anträge zumindest zwei dieser nicht abgesprochenen Verschärfungen bei der Unterbringung von Personen aus sicheren Herkunftsstaaten in Erstaufnahmeeinrichtungen und bei den Leistungskürzungen wieder auf den eigentlichen Verhandlungsstand zurückholen. Es gab aber weitere Verschärfungsversuche, so beim Zugang zur Härtefallkommission, bei der Dauer der Anspruchseinschränkung und beim Gewahrsam in Wartezentren, die eine entsprechende Tendenz des Bundes und einiger Länder unterstreichen, meine Damen und Herren.

Schon ohne diese ist meine Fraktion zusammen mit weiten Teilen unserer Partei der Meinung, dass der Bund-Länder-Kompromiss in wesentlichen Punkten die menschenrechtsbasierte Flüchtlingspolitik konterkariert und eben nicht den Herausforderungen gerecht wird, die Sie gerade beschrieben haben.

(Björn Thümler [CDU]: Das ist falsch! - Editha Lorberg [CDU]: Sie haben auch ein bisschen Verantwortung für Niedersachsen! - Gegenruf von Ott- mar von Holtz [GRÜNE]: Hört doch mal zu!)

Ich nenne nur ein Beispiel: Der Gesetzentwurf ist mit dem Titel „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ überschrieben. Aber keine Maßnahme in diesem Gesetzespaket trägt zur Asylverfahrensbeschleunigung bei, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den GRÜNEN - Ulf Thiele [CDU]: Aber selbstverständlich! - Wei- tere Zurufe von der CDU)

Die Anhörung im Innenausschuss des Bundestages hat die massive Kritik an dem Gesetzentwurf zu Gehör gebracht, Herr Thümler. Und da Sie immer sagen, das wäre unsere Meinung, möchte ich einige Stellungnahmen zitieren, die am Montag in einer öffentlichen Anhörung kundgetan wurden.

Die evangelische und die katholische Kirche halten die Absenkung des Leistungsniveaus für bestimmte Gruppen von Flüchtlingen für verfassungswidrig - nicht nur wir, Herr Thümler. Auch den grundgesetzlichen Ausschluss von Geduldeten, die aus einem sicheren Herkunftsstaat stammen, von Arbeitsmöglichkeiten und Bildungsoptionen halten die Kirchen für nicht sachgerecht. Sie befürchten, dass durch das Wiederauflebenlassen der Kettenduldungen - irgendwann einmal haben wir alle uns gemeinsam dafür eingesetzt, diese abzuschaffen - die im August 2015 in Kraft getretene Bleiberechtsregelung des § 25 b des Aufenthaltsgesetzes leerlaufen könnte.

Frau Polat, ich darf Sie kurz unterbrechen. Der Kollege Thiele möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.

Im Moment nicht, danke.

(Zuruf von der CDU: Wann dann?)

Außerdem finden die beiden Kirchen, die Unterscheidung in Personen mit und ohne Bleiberechtsperspektive entspreche nicht dem auf individuelle Prüfung ausgerichteten Asylrecht, Herr Thümler, weil nämlich eine Vorfestlegung per Gesetz stattfindet.

Der Caritas-Präsident Peter Neher mahnte an - ich zitiere -: „Auch wenn die große Zahl an Flüchtlingen entschlossenes Handeln aller Akteure in Politik und Gesellschaft erfordert, müssen die Standards der Asylverfahren und des Verfassungsrechts aufrechterhalten werden.“ Insbesondere das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminium dürfe nicht beschnitten werden. - So die Caritas. Die Diakonie unterstützt dies.

Das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten sehe der deutsche Caritasverband insgesamt kritisch, sagte Präsident Neher. Er halte es für umso bedenklicher, als an die Einstufung bestimmter Staaten als sichere Herkunftsstaaten über Sonderregelungen für das Asylverfahren hinaus weitergehende Folgen geknüpft werden, so etwa die Absenkung sozialer Leistungen oder der Ausschluss vom Arbeitsmarkt. - Das sind eben die Rechtsfolgen für diesen Personenkreis.

Für die Frage, ob weitere Länder in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten aufgenommen werden sollten, hätten das Bundesverfassungsgericht und die Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union Maßstäbe aufgestellt, denen der vorgelegte Gesetzentwurf nicht gerecht werde. - Diesen Punkt teilen übrigens auch andere Verbände.

Neher hält es zudem für schwierig, an die Bleibeperspektive bzw. an die Herkunft aus einem sicheren Herkunftsstaat anzuknüpfen, da dies den Ausgang des Asylverfahrens antizipiere. - Das ist das Problem, Herr Thümler. Das Problem ist nicht der § 16 a. - Es sei im Übrigen nicht ersichtlich, durch wen und in welcher Form diese Prognose getroffen werde. - Sie schließen vorab kategorisch durch eine Prognose, die per Gesetz festgelegt ist, bestimmte Menschen von Leistungen aus, Herr Thümler!

(Zuruf von der CDU)

Auch der DGB lehnt die Erweiterung ab.

(Angelika Jahns [CDU]: Wie stehen Sie zu den Ausführungen Ihres Minis- terpräsidenten?)

Eine Verlängerung des verpflichtenden Aufenthalts in einer Erstaufnahmeeinrichtung auf bis zu sechs

Monate bzw. bis zur Abschiebung - das ist optional - lehnt der DGB aus menschenrechtlichen und integrationspolitischen Gründen ab. - Damit, Herr Thümler, würden Sie beispielsweise die Situation in unseren Erstaufnahmeeinrichtungen verschärfen. Dieser Vorschlag von CDU und CSU hätte sich durchgesetzt, wenn SPD und Grüne nicht für eine Option für die Länder gekämpft hätten, meine Damen und Herren.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Der UNHCR lehnt diese Änderungen ebenfalls ab. Beschränkungen der Fortbewegungsfreiheit nach Europa- und Völkerrecht seien nur unter bestimmten Bedingungen zulässig, die hier weder ersichtlich noch im Gesetzentwurf überzeugend dargelegt seien.

(Mechthild Ross-Luttmann [CDU]: Was ist denn Ihre Meinung? Stehen Sie hinter dem Ministerpräsidenten?)

Claudius Voigt, Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender, sagte in der Anhörung - - -

Entschuldigung, Frau Polat, aber von Herrn Thiele gibt es erneut den Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Nein.

(Zurufe von der CDU)

Meine Damen und Herren, zum Verfahren: Wenn gebeten wird, eine Zwischenfrage zu stellen, entscheidet der Redner, ob er sie zulässt. Ich bitte, dieses Verfahren zu akzeptieren. Alles andere bringt doch nichts.

Jetzt liegt eine weitere Bitte nach einer Zwischenfrage vor, und zwar von Frau Joumaah. Kann ich davon ausgehen, Frau Polat, dass Sie keine Zwischenfragen zulassen? - Okay, dann ist das erledigt, und Sie haben wieder das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen möchten uns auch inhaltlich mit diesem Gesetzespaket auseinandersetzen. Wir wollen deut

lich machen, dass Sie versuchen, der Bevölkerung weiszumachen, dass dieses Paket die Lösung dieser großen Herausforderung sei, dass dem aber mitnichten so ist. Und das ist das Gefährliche an dem, was Sie hier tun, Herr Thümler.

(Beifall bei den GRÜNEN - Christian Grascha [FDP]: Sie unterschätzen die Menschen!)

Claudius Voigt sagte - ich zitiere -:

„Die politische Diskussion um die ‚Gastarbeiter‘ der 60er- und 70er-Jahre und die ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ der 80er-und 90er-Jahre gingen bereits in die gleiche Richtung.“

(Zuruf von Mechthild Ross-Luttmann [CDU])

„Auch diesen Gruppen war damals eine ‚geringe Bleibeperspektive‘ zugeschrieben worden. Unter anderem war dies der Grund, warum soziale Teilhabe verweigert oder nicht für notwendig erachtet wurde.“

(Zuruf von Mechthild Ross-Luttmann [CDU])

Meine Damen und Herren, ich habe es vorhin schon einmal gesagt: Zwischenrufe sind zwar erlaubt, aber sie dürfen nicht zu einer Art Gegenrede vom Platz im Plenum aus werden. Das stört die Debatte. Dies gilt jetzt auch für Sie, Frau RossLuttmann. Ich habe das auch vorhin moniert, als das von der anderen Seite kam. Frau Polat soll jetzt ungestört reden können, und ich bitte, das zu beachten. - Bitte schön!

„Erst sehr viel später hat man erkannt, dass die damalige Politik ein integrations- und sozialpolitischer Irrweg war, die später aufwendig und schmerzhaft korrigiert werden musste.“

(Glocke des Präsidenten)

Meine Damen und Herren, anzuerkennen ist durchaus, dass der Bund nun endlich in eine dynamische finanzielle Unterstützung einsteigt, die zu einer überfälligen Entlastung der Länder und Kommunen beiträgt. Gleichzeitig bietet das Gesetzespaket darüber hinaus nur wenige Lösungsansätze für Länder und Kommunen, um die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen der Flüchtlingsaufnahme zu bewältigen. Nicht ohne Grund

diskutieren einige Fraktionen schon über weitere Maßnahmen, die notwendig sind.

(Christian Grascha [FDP]: Ein Tritt vor das Schienbein des Ministerpräsiden- ten!)

Meine Damen und Herren, wir haben immer wieder - weil Sie das gestern gefragt haben, Herr Nacke - Vorschläge eingebracht, die auch tatsächlich zu einer Entlastung beigetragen haben. Ich erinnere beispielsweise an die Altfallregelung für Bestandsverfahren. Das hätte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf einen Schlag von einer Vielzahl von Asylverfahren für Flüchtlinge aus Krisen- und Kriegsgebieten wie Syrien, Irak, Eritrea, Afghanistan entlastet.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Frau Polat, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Wir haben auch Vorschläge für eine gesteuerte Zuwanderung gemacht. Das, was wir hier und heute erleben, ist eine ungesteuerte Zuwanderung, weil die Menschen keine alternativen Fluchtrouten haben. Warum verlängern wir nicht unser humanitäres Aufnahmeprogramm, sodass die Menschen sagen: Wir gehen nicht auf eigenem Wege über die Balkanroute, sondern stellen wieder VisaAnträge?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Frau Polat, Sie müssen Ihre Rede jetzt beenden.