Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU und die FDP haben im Zuge ihrer Verwaltungsreform das Widerspruchsverfahren weitgehend abgeschafft. Seit dem 1. Januar 2005 müssen Bürgerinnen und Bürger, die etwa gegen kommunale Abgabenbescheide vorgehen wollen, innerhalb eines Monats beim Verwaltungsgericht Klage erheben. Voraussetzung hierfür ist die sofortige Zahlung der vollen Gerichtsgebühren, die selbst dann, wenn die Kommune zwischenzeitlich ihren Bescheid korrigiert, nicht in voller Höhe zurückerstattet werden.
Mittlerweile zeigen sich die negativen Folgen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in den unterschiedlichsten Bereichen. Um die bürgerfeindlichen Auswirkungen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens zu verschleiern und um eine kostenträchtige Klagelawine abzuwenden, zeigt sich zunehmend ein scheinbar bürgerfreundliches, aber dennoch rechtsstaatlich bedenkliches Ausweichverhalten.
Die größte Aufmerksamkeit hat in diesem Zusammenhang bisher die Stadt Braunschweig erlangt. Der dortige CDU-Oberbürgermeister hat erklärt, dass er es für nicht nachvollziehbar hält, dass tausende Bürger beim Verwaltungsgericht klagen müssen, weil die Landesregierung das Widerspruchsverfahren abgeschafft hat. Deshalb hat er sich mit Schreiben vom 17. Januar 2005 an 43 000 Grundeigentümer gewandt. In diesem Schreiben heißt es:
„Da viele von Ihnen … mit den Bescheiden in Bezug auf ihre Höhe nicht einverstanden sind, musste mit einer aufwendigen und kostenträchtigen Klagewelle gerechnet werden. Dieses wäre weder im Interesse der Stadt noch der Abgabenpflichtigen gewesen. Deshalb haben wir uns ein anderes Verfahren ausgedacht:
1. Wir heben den betreffenden Abgabenbescheid vom 10. Januar 2005 auf, damit Sie nicht mehr im Zugzwang sind, innerhalb von einem Monat Klage zu erheben, wenn Sie mit dem Bescheid nicht einverstanden sind.
2. Sie erhalten von uns heute mit gleicher Post einen neuen Abgabenbescheid in der ursprünglichen Höhe des Bescheides vom 10. Januar 2005 ohne Rechtsbehelfsbelehrung. Damit wird die gesetzliche Klagefrist von einem Monat nicht in Gang gesetzt. Sie haben vielmehr ein Jahr lang Zeit, ggf. eine Klage zu erheben. …
3. Wie Sie wahrscheinlich der Presse entnommen haben, wird es ein, zwei ‚Musterverfahren‘ von Klägern geben, die sofort klagen, und darüber wird dann gerichtlich entschieden. Wir werden Sie alle von dem Ausgang des Musterverfahrens unterrichten und Sie alle gleich nach diesem Ausgang behandeln und bescheiden. …
Dieses Verfahren verhindert unnötige Rechtsstreitigkeiten und sichert allen Abgabepflichtigen eine gleiche Behandlung zu, ganz gleich, ob sie nun klagen oder nicht. Das Risiko des Unterliegens in einem Rechtsstreit tragen für Sie dementsprechend lediglich ein oder zwei ‚Musterkläger‘. Ich denke, das ist eine gute Lösung auch für Sie alle. Ich habe diese bürgerfreundliche Lösung daher trotz der im Grunde so nicht üblichen Verfahrensregelungen getroffen und hoffe, dass Sie sie alle annehmen. …“
1. Wo ist das von der Stadt Braunschweig erdachte „andere Verfahren“ gesetzlich geregelt, und wie ist dieses im Grunde so nicht übliche Verfahren mit dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verwaltung zu vereinbaren?
2. Wird die Landesregierung gegebenenfalls im Wege der Aufsicht verhindern, dass in Niedersachsen zur Verschleierung der Folgen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens eine
3. Welche weiteren Fälle sind der Landesregierung bekannt, in denen versucht wurde, den für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger äußerst nachteiligen Auswirkungen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens auszuweichen, und wie hat die Landesregierung hierauf jeweils reagiert?
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Landesregierung ist angetreten, die Verwaltung zu modernisieren und zu verschlanken. Sie hat sich vorgenommen, das Verwaltungsverfahren zu vereinfachen mit dem Ziel, Entscheidungen zu beschleunigen und zu entbürokratisieren. Wichtig sind nicht formalisierte Abläufe, sondern sachgerechte, bürgernahe Entscheidungen. In diesem Sinne hat die Landesregierung vorgeschlagen, das Vorverfahren zu den Verwaltungsgerichten grundsätzlich abzuschaffen.
Nach umfangreichen Erhebungen bei den damaligen Bezirksregierungen und aufgrund der einhelligen Stellungnahmen der kommunalen Spitzenverbände haben wir festgestellt, dass sowohl im übertragenen Wirkungskreis als auch im eigenen Wirkungskreis der Kommunen das Vorverfahren zu den Verwaltungsgerichten nur ausnahmsweise sinnvoll ist. Das Vorverfahren dient nicht in dem Maße der Selbstkontrolle der Verwaltung, wie häufig angenommen wurde; denn das Vorverfahren bestätigt in der Regel die angegriffene Entscheidung. Insoweit steht der Aufwand in keinem sinnvollen Verhältnis zum Ergebnis.
Die Anhörungen durch die Landesregierung und durch den Landtag haben ergeben, dass Ausnahmen von der Abschaffung des Vorverfahrens sinnvoll sein können, wenn sie in einzelnen Rechtsgebieten zu befriedigenden Lösungen führen oder eine Überlastung der Gerichte zu befürchten gewesen wäre. Es ist aber auch deutlich geworden, dass die Abschaffung des Vorverfahrens keinen rechtsstaatlichen Bedenken begegnet, da der verfassungsgemäß garantierte Weg zu den Gerichten gewährleistet ist.
Die Stabsstelle Verwaltungsmodernisierung in meinem Hause steht seit Herbst 2004 im engen Dialog mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vieler Gemeinden, Städte und Landkreise sowie der Region Hannover. Wir können feststellen, dass die Kommunen den Rahmen des Verwaltungsverfahrensrechts nutzen. Dieser Wettbewerb um bürgernahe Lösungen ist gewollt. Die Verwaltung hat die gesetzliche Pflicht, die Verfahrensbeteiligten zu beraten, ihnen Auskunft zu erteilen und Betroffene vor einer Entscheidung anzuhören.
Seit dem Jahreswechsel informieren viele Kommunen ihre Bürgerinnen und Bürger wesentlich aktiver als früher über das Beratungsangebot der Verwaltung. Kommunen, wie etwa der Landkreis Soltau-Fallingbostel legen ihren Bescheiden Informationsblätter bei, in denen sie darauf aufmerksam machen, dass der Empfänger sich wegen eines Rechenfehlers, eines Zahlendrehers oder anderer offensichtlicher Unrichtigkeiten an die Verwaltung wenden möge, um gegebenenfalls im Wege der Abhilfe einen korrigierten Bescheid zu erhalten.
Ein Abgabenbescheid ist nach § 157 Abs. 1 Satz 3 der Abgabenordnung mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen. Der Verzicht auf eine Rechtsbehelfsbelehrung führt nicht zur Rechtswidrigkeit der Bescheide.
Für den Fall, dass Sie gleich nachfragen, wo das steht und wie wir darauf gekommen sind, möchte ich auf den Kommentar von Herrn Orlopp zur Abgabenordnung verweisen. Dort steht zu diesem § 157 Abs. 1 Satz 3: Eine unterlassene oder fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung führt nicht zur Fehlerhaftigkeit des Bescheides. Folgen ergeben sich ausschließlich aus § 356 Abs. 2; die Rechtsbehelfsfrist beginnt nicht zu laufen.
Insofern ist klar, dass dieses tatsächlich nicht rechtswidrig ist. Die einzige Folge ist - das habe ich eben zitiert -, dass die Frist für die Erhebung einer Klage auf ein Jahr verlängert wird.
Das Verhalten des Oberbürgermeisters der Stadt Braunschweig stellt in der gegebenen Situation eine pragmatische Lösung dar, die dem Rechtsfrieden dient, da nach Abschluss der Musterverfahren alle betroffenen Bürger entsprechend dem Ergebnis dieser Verfahren beschieden werden. Es handelt sich um einen Sonderfall, da die Berechnungsgrundlagen der Gebühren im Streit sind. Deren Höhe hängt vom Ausgang eines Rechtsstreits
Auch auf Landesebene wird seit vielen Jahren bei der Beihilfe auf Rechtsbehelfsbelehrungen verzichtet, um in diesem Massenverfahren unbürokratisch und ohne Zeitdruck fehlerhafte Bescheide verbessern zu können.
Die Abschaffung des Vorverfahrens, aber auch der Ausnahmekatalog sind auf fünf Jahre befristet. Wir werden in den nächsten Monaten zusammen mit den Landesbehörden, den kommunalen Spitzenverbänden und den Kammern eine Konzeption zur Evaluation des Gesetzes einleiten. Im Zuge dieser Gespräche werden wir Wege erörtern, wie die Beratung der Bürger durch die Behörden weiter verbessert werden kann. Wir werden auch erörtern, ob es sinnvoll ist, im Bereich der Kommunalabgaben den Handlungsrahmen der Behörden im Interesse der Bürger zu erweitern. Unsere laufenden Gespräche stimmen mich zuversichtlich, dass das Gesetz ein voller Erfolg ist.
Zu 1 und 2: Die Stadt Braunschweig hat die Verfahren nach der Abgabenordnung und der Verwaltungsgerichtsordnung durchgeführt. Der Verzicht auf eine Rechtsbehelfsbelehrung führt nicht zur Rechtswidrigkeit der Bescheide. Die Rechtsfolgen einer unterlassenen Rechtsbehelfsbelehrung sind in den Gesetzen abschließend im Sinne einer Fristverlängerung geregelt. Die Landesregierung sieht insoweit keine Notwendigkeit, kommunalaufsichtlich tätig zu werden.
Zu 3: Eine Reihe von Kommunen sucht Verwaltungsabläufe zu vereinfachen und bürgernah ohne formalisiertes Vorverfahren zu gestalten. Die Landesregierung bewertet dies positiv, weil es im Interesse der Bürgerinnen und Bürger ist. Insofern bin ich dem Braunschweiger Oberbürgermeister dankbar dafür, dass er diesen Weg gefunden hat. Ich glaube, dass dies im Interesse der Bürger ist. Ferner glaube ich, dass der von Ihnen kreierte Fall, mit dem Sie die Notwendigkeit der Wiedereinführung des Widerspruchsverfahrens belegen wollten, ungeeignet ist, weil das Braunschweiger Beispiel ein Musterbeispiel dafür ist, wie Kommunen und Bürgermeister im Sinne der Bürgerinnen und Bürger handeln. - Vielen Dank.
Herr Minister, vor dem Hintergrund Ihrer Ausführungen, dass den Bürgerinnen und Bürgern der verfassungsgemäße Weg zu den Gerichten offen steht, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Gerichts- und Anwaltskosten den eigentlichen Klagegrund um ein Vielfaches übersteigen, und angesichts der Tatsache, dass - wie wir gestern gehört haben - bei den Straßenmeistereien beschäftigte Mitarbeiter mit zwei Kindern netto nur 1 500 Euro pro Monat beziehen, frage ich Sie: Schneiden Sie denjenigen Bürgerinnen und Bürgern, die nicht über erhebliche finanzielle Mittel verfügen, nicht den Klageweg ab? Ist das nicht ein Staatsverständnis, das mit dem Rechtsstaatsprinzip nichts mehr zu tun hat?
Ich hatte ja anzudeuten versucht, dass es sich hier um einen Sonderfall handelt. Wenn ich mich recht erinnere, Herr Bachmann, geht es dabei ja darum, dass dort die Abfallgebühren strittig sind, weil Verträge abgeschlossen worden sind, die ein Vielfaches der Abnahmemenge garantieren, und das Ganze insofern wahrscheinlich teuer ist. Deshalb wird das Ganze jetzt auch für den Bürger relativ teuer. Jetzt wird geklagt, um Klarheit darüber zu bekommen, ob die Kosten tatsächlich auf die Bürger abgewälzt werden können. - Das nur noch einmal zum Hintergrund.
Liebe Frau Bockmann, auch dann, wenn in diesem Bereich ein Widerspruchsverfahren gesetzlich noch vorgeschrieben wäre, hätte es gerade in diesem Fall auch zu einer oder zwei Musterklagen kommen müssen, um diesen Fall dann auch gerichtlich feststellen lassen zu können. Meiner Meinung nach ist es sinnvoll, dass der Oberbürgermeister versucht, diese eine oder zwei Musterklagen für alle gültig zu machen. Dieser Weg ist sehr sinnvoll. Das wäre auch mit dem Widerspruchs
verfahren so gewesen. In diesem Fall ist es ganz genau so. Insofern weiß ich nicht, warum Sie diese sehr gute Möglichkeit angreifen. Das macht überhaupt keinen Sinn.
Sehr geehrte Frau Bockmann, ich möchte nur noch einmal darauf hinweisen, dass es auch in Verwaltungsgerichtsverfahren Prozesskostenhilfe gibt. Das heißt, dass diejenigen, die mittellos sind, über die Prozesskostenhilfe unterstützt werden. Insofern muss man ganz deutlich sagen, dass diese Leute nicht unerhört beschwert werden.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Braunschweiger Bescheide, die keine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten, nach spätestens einem Jahr Bestandskraft erlangen, wenn zwischenzeitlich nicht Klage erhoben wird, frage ich die Landesregierung: Wie wollen Sie sicherstellen, dass den Bürgern die daraus resultierenden Risiken nicht aufgebürdet werden?
Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass dieses Klageverfahren nach einem Jahr umgesetzt sein wird. Für den Fall, dass dies bis dahin nicht geschehen sein sollte, hat der Oberbürgermeister sichergestellt, dass die betreffenden Bürgerinnen und Bürger einen neuen Bescheid bekommen. Dann würde das Ganze verlängert, wenn das der Fall ist. Sie sehen, dass wir Oberbürgermeister
haben, die wirklich im Interesse der Bürgerinnen und Bürger handeln. Sie sollten dies akzeptieren und auch einmal loben.
Ist der Landesregierung bekannt, dass einige Kommunen die Abgabenbescheide für das Jahr 2005 bereits im Dezember 2004 erlassen haben, um ihren Bürgerinnen und Bürgern das Widerspruchsrecht nach wie vor zu erhalten?
Ich muss leider zugeben, dass ich nicht aus jeder Kommune die Abgabenbescheide kenne und auch nicht weiß, wann sie jeweils abgeschickt worden sind. Aber unabhängig davon, ob diese Bescheide im Dezember 2004 oder erst im Jahr 2005 abgeschickt worden sind, haben die Bürgerinnen und Bürger auf jeden Fall alle Möglichkeiten, wenn sie so hervorragend regiert werden, wie dies in Braunschweig der Fall ist. Es gibt überhaupt keine Probleme. Es ist völlig egal, wann der Bescheid abgeschickt worden ist.