Protocol of the Session on December 14, 2004

Mir scheint, die Reihenfolge ist eine andere: Die ideologischen Rezepte sind fertig - manche schon seit mehr als 20 Jahren -, aber Ihnen fehlt nur noch der Anlass, und dazu missbrauchen Sie PISA.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Kritisiert wird zu Recht, dass die soziale Herkunft Einfluss auf die Bildungschancen hat. Als Konsequenz wird mehr Beachtung für den vorschulischen Bereich gefordert. Nur frage ich mich, lieber Herr Kollege Jüttner: Wer hat die vorschulische Sprachförderung denn eingeführt? - Auf die Idee waren Sie nicht gekommen.

(Beifall bei der CDU - Widerspruch bei der SPD - Wolfgang Jüttner [SPD]: Sie sind noch ziemlich neu hier!)

Das nützt im Übrigen auch den Migrantenkindern, die Sie sonst ja so gerne zitieren, heute aber vergessen haben. Inzwischen hat sich ja auch bei Ihnen die Einsicht ausgebreitet, dass wir in Deutschland sagen dürfen: Wer hier zurecht kommen will, muss unsere Sprache beherrschen.

(Zustimmung bei der CDU)

Das war nicht selbstverständlich. Unsere Landesregierung hat an dieser Veränderung des Bewusstseins maßgeblich mitgewirkt und betreibt nun - Innenminister und Kultusminister voran - die Politik der Integration. Ihr Lieblingsthema, aber heute kam es überhaupt nicht dran.

Wer hat denn die Bildungsvereinbarungen, also den Orientierungsplan, mit den Kindertagesstätten im Land abgeschlossen? Wer hat denn die Kindertagesstätten überhaupt erst im Kultusministerium angegliedert, als Zeichen der Betonung der Bildungsabsichten? Das waren nicht Sie! Sie hatten 13 Jahre lang Zeit, Ihre klugen Forderungen in die Tat umzusetzen. Aber Sie haben dem Absturz in das PISA-Tal in keiner Weise vorgebeugt. Das Ergebnis haben wir jetzt. Und dass diese Landesregierung nun bereits das eine oder andere geschafft hat, scheinen Sie nicht einmal mitbekommen zu haben. Das finde ich schade.

Die Kritik von SPD und Grünen am Sitzenbleiben und an den Noten ist völlig daneben. Beides sind keine Strafmaßnahmen. Zensuren dienen der Beurteilung des Lernerfolgs. Wenn die KMK-Präsidentin, Frau Ahnen von der SPD, Bildungsstandards fordert und das damit begründet, dass Bildungsstandards „auf das Ergebnis schulischer Bildung abheben“, so ergänze ich von mir aus: Gerade die Note ist es, die angibt, in welchem Maße das erstrebte Ergebnis erzielt worden ist.

(Zuruf von der SPD: Hinterbänklerin!)

Herr Jüttner, vielleicht diskutieren Sie diesen Zusammenhang einmal mit Frau Ahnen.

Absurd ist Ihre Forderung nach Abschaffung der Noten zugunsten von Lernberichten.

(Zustimmung bei der CDU)

Haben Sie eigentlich einmal erlebt, wie das bei Elternabenden in Grundschulen ist, nachdem die Eltern in den Zeugnissen Sätze wie diesen gelesen haben: Fritzchen kann im Zahlenbereich von 1 bis 20 das und das? - Kein Mensch weiß, ob das gut oder schlecht ist. Was die Eltern in diesem Zusammenhang fordern, ist eine direkte Übersetzung der Lernberichte in Noten. Das ist Schulrealität. Lernberichte und Noten ergänzen einander, wir können sie nicht gegeneinander ausspielen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herr Kollege Jüttner, auch das Sitzenbleiben - da können Sie vielleicht aus eigener Erfahrung sprechen, einige andere hier im Hause auch, ich übrigens auch - ist keine soziale Diskriminierung. Wiederholer integrieren sich nämlich im Allgemeinen sehr schnell. Sie stehen leistungsmäßig besser da, und das ist gut für ihr Selbstwertgefühl. Die neue Klasse ist ein Neuanfang, eine Chance. Die sollte man auch nutzen.

(Glocke der Präsidentin)

Wichtig im Schlepptau der PISA-Auswertung ist natürlich die Forderung nach Ganztagsschulen als Antwort auf schulische Benachteiligung. Dazu muss ich sagen: Sie sind nötig, aber nicht nur für sozial Benachteiligte, sondern für alle. Für Kinder von Rechtsanwälten und Ärzten genauso wie für Kinder von Friseurinnen und Briefträgern - aber freiwillig, entsprechend den Bedürfnissen der Eltern und nicht nach dem Bildungsstand. Herr Jüttner, ansonsten bekommen Sie die nächste soziale Benachteiligung.

(Glocke der Präsidentin)

In diesem Zusammenhang: In sechs Jahren rotgrüner Regierung ist der soziale Abstand zwischen den Schichten in Deutschland größer geworden. Ursprünglich hatten Sie als Allheilmittel die Gesamtschule propagiert. Aber die hat ja nun auf der ganzen Linie versagt, was die Integration angeht.

(Zurufe von der SPD)

Das ist das Ergebnis von Studien aus den 80erJahren, 90er-Jahren und von heute. Daran können Sie verfolgen: Wer sechs Jahre lang Einheitsunterricht in der Grundschule hatte, ist in der siebten Klasse gegenüber den Schülern aus den gegliederten Schulsystemen deutlich benachteiligt. Insbesondere die Schwachen fallen immer weiter ab. Da wollen wir in diesem Hause doch einmal ganz klar feststellen: Zur Chancengleichheit haben Gesamtschulen nicht beigetragen. Aber Sie versuchen, genau diesen Einheitsschulgedanken auf dem Weg über die Ganztagsschulen wieder in die Diskussion hineinzubringen.

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Ich komme zum Schluss. - Aber in Deutschland müssen nicht nur die Schwachen besser werden, sondern alle. Was Sie allerdings wollen, ist nicht ein Höchstmaß an Leistung, sondern ein Höchstmaß an Gleichheit. Da Sie die Schwachen nicht gewaltsam hochpushen können, drücken Sie alle nach unten. Genau da stehen wir jetzt. Aber daraus haben Sie noch keine Konsequenzen gezogen. Insofern ist Ihre Argumentation schief. Das mag ja an PISA erinnern, wird aber der entsprechenden Studie nicht gerecht.

Ich schließe mich der Aufforderung der FDP an: Missbrauch von PISA stoppen: Erst lesen und denken, dann sprechen. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich Frau Kollegin Korter das Wort. Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da ich lesen kann, Herr Schwarz, möchte ich mit einem Zitat beginnen:

„In der Länderrangfolge haben sich unsere Kinder kaum verbessert. Der Leistungsrückstand in Mathematik beträgt gegenüber den Siegerländern ein ganzes Jahr. Kinder aus bil

dungsfernen Schichten haben nach wie vor keine Chance.“

So fasste unter der Überschrift „PISA - das ewige Waterloo Deutschlands“ am 6. Dezember die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Bildung, Ulrike Flach, die Ergebnisse von PISA 2003 zusammen. Ulrike Flach ist zufälligerweise in der FDP. Hat sie PISA 2003 auch falsch gelesen?

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, auch PISA 2003 hat noch einmal deutlich gemacht, dass der große Skandal unseres Bildungssystems in der scharfen sozialen Selektivität liegt.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Daran können auch kleine Rangplatzveränderungen nichts ändern. Dagegen helfen keine kurzfristigen Maßnahmen, kein blinder Aktionismus und erst recht keine frühe Sortierung und Auslese von Kindern. Was wir brauchen, ist eine tief greifende Reform des Schulsystems, wie wir als Grüne sie bereits vor einem Jahr auf Landesebene mit der neunjährigen Basisschule vorgeschlagen haben und zum Dialog anbieten.

PISA sagt nicht, dass allein eine andere Schulstruktur automatisch zu besseren Leistungen führen würde. Das wäre auch unseriös. PISA sagt aber sehr deutlich, dass unser gegliedertes Schulsystem für die scharfe soziale Selektivität hauptverantwortlich ist.

(Karl-Heinz Klare [CDU]: Wollen Sie denn die Realschule und das Gymna- sium abschaffen?)

So steht in der Zusammenfassung des PISABerichts 2003 auf Seite 24 - ich habe genau nachgelesen, Herr Schwarz -:

„Für Deutschland ist ein enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und mathematischer Kompetenz festzustellen, der vor allem auch“

- und das ist das Entscheidende

„über die Beteiligung und Beteilungschancen an den unterschiedlichen Schulformen vermittelt wird.“

Das ist der eigentliche Skandal unseres Schulsystems.

Aber Sie, meine Damen und Herren von CDU und FDP, haben überhaupt kein Konzept, wie Sie diesem Skandal begegnen wollen. Sie halten krampfhaft an Ihrer Schulstruktur fest, die noch aus der Ständegesellschaft stammt.

(David McAllister [CDU]: Ständege- sellschaft? Was reden Sie da?)

Für die Anforderungen der Zukunft, meine Damen und Herren, brauchen wir aber eine andere Lernkultur in einer gemeinsamen Schule.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD - Karl-Heinz Klare [CDU]: Das ist doch Quatsch, was Sie sa- gen!)

- Hören Sie ruhig einmal zu, Herr Klare; denn das dürfte auch Ihnen einleuchten. Sie waren ja lange in der Schule.

Wer in einem gegliederten Schulsystem - und das ist das Entscheidende - die Möglichkeit zur Abschulung hat, der hat nicht die Notwendigkeit der individuellen Förderung jedes Kindes, die Notwendigkeit, jedes Kind mitzunehmen.

Es wird Zeit, dass wir endlich mutig und ideologiefrei die richtigen Schlüsse aus den internationalen Vergleichsstudien ziehen.

(Lachen bei der CDU)

- Die Ideologie vertrete ich nicht. Diesen Schuh müssen Sie sich schon selbst anziehen.