Protocol of the Session on June 24, 2004

1994 bin ich hierher gekommen, weil damals u. a. Herr Werner Müller, heute ein bedeutender Konzernführer in der Energiewirtschaft, mir gegenüber die Auffassung vertreten hat, dass es in der Bundesrepublik unbedingt zu einem Konsens über den weiteren Weg in der Energiewirtschaft kommen

müsse. Es gab dann erste, wie ich finde, sehr unideologisch geführte Konsensrunden, an denen sich alle Parteien und alle gesellschaftlichen Gruppen in der Bundesrepublik beteiligt haben. Man ist damals aber nicht zu einem Abschluss gekommen. Trotzdem sah es jedenfalls im Jahre 1994 so aus, als ob man sich verständigen könnte. Wenn man mir damals gesagt hätte, dass man im Jahre 2004 in den politischen Gremien, in den Parlamenten nach wie vor auf derselben Linie streiten würde wie im Jahre 1994, als ich hier angefangen habe, hätte ich es nicht geglaubt. Möglicherweise ist das aber Ausdruck des Stillstandes in der Bundesrepublik, der ja auch von Ihnen sehr oft beklagt wird.

Vor einigen Wochen war ich in Bayern. Sie wissen, der Grund war der Europawahlkampf. Ich war in Oberfranken und habe dort mit Bauern, die sicherlich keine Wähler der Grünen sind, mehrere Biomasse-Projekte besichtigt. Das war ausgerechnet in den Tagen, in denen ich einen sehr überraschenden Wahlkampfhelfer bekommen habe. Edmund Stoiber hatte einige Tage zuvor erklärt, Deutschland brauche neue Atomkraftwerke und die Laufzeiten der alten Kraftwerke müssten unbedingt verlängert werden.

(Walter Hirche [FDP]: Recht hat er!)

- Herr Kollege, die oberfränkischen Bauern, die mir stolz ihre Biomassekraftwerke gezeigt haben, haben gesagt: Na, das mag der sagen, aber in Bayern kommt das bei uns nicht in die Tüte. - Als wichtigsten Grund gegen den Wiedereinstieg in die Atomenergie haben bayerische Bauern mir gegenüber ausdrücklich angeführt: Frau Harms, was machen wir denn mit dem Müll? Dafür gibt es doch eh keine Lösung. - Ich empfehle Ihnen also eine kurze Stippvisite in Bayern.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Gucken Sie sich einmal an, was man dort in Sachen Energiewende auf die Beine stellt. Das würde dann vielleicht auch die energiepolitische Diskussion in Niedersachsen sehr beflügeln.

Das nukleare Fossil Edmund Stoiber

(David McAllister [CDU]: Na, na, na! Er ist ein erfolgreicher Ministerpräsi- dent!)

ist ja keine Einzelerscheinung. Leider gibt es auch andere CDU- und FDP-Politiker, die immer wieder dafür eintreten, neue Atomkraftwerke zu bauen

oder die alten zumindest noch sehr lange am Netz zu lassen.

(Zuruf von der CDU: Sehr richtig!)

- Herr Kollege, Sie sagen „sehr richtig“. Dann sagen Sie den Leuten aber bitte auch, was das heißt.

Wir hatten im Bundestag eine EnqueteKommission zum Schutz der Erdatmosphäre. Dort hat es aufgrund einer Initiative, die auch von CDU und FDP mitgetragen wurde, eine Gruppe gegeben, die in der energiewirtschaftlichen Entwicklung den Weg auf nuklearer bzw. fossiler Basis geprüft hat. Es wurde für Deutschland, immer in Bezug auf die Klimaschutzziele hochgerechnet, bilanziert: Wie viele Atomkraftwerke brauchen wir, um die Klimaschutzziele in Deutschland einigermaßen zu erfüllen? Meine Damen und Herren, Sie kennen die Zahlen. Sie können jetzt gerne schmunzeln. Ich finde aber, wenn man für die Atomenergie eintritt, Herr Kollege, muss man auch einmal Butter bei die Fische tun.

(David McAllister [CDU]: Sie reden seit zehn Jahren immer das Gleiche!)

- Ich rede nicht seit zehn Jahren das Gleiche, sondern ich versuche, der Mehrheitsmeinung der Bundesbürger auch hier Gehör zu verschaffen.

(Beifall bei den GRÜNEN - Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Herr Kollege, Sie reden ja so gerne von der Mehrheitsmeinung.

(David McAllister [CDU]: Seien Sie doch innovativ!)

Hochgerechnet müsste man, um Klimaschutzziele auch im Sinne von Herrn Töpfer in der Bundesrepublik einigermaßen zu erreichen, in den nächsten Jahren 55 neue Atomkraftwerke errichten. Das mögen Sie nicht glauben. Dies haben Ihre Kollegen im Bundestag aber so mit abgesegnet.

(David McAllister [CDU]: Bei Ihnen kommt der Strom ja aus der Steckdo- se! - Walter Hirche [FDP]: Das ist eine falsche Darstellung, Frau Harms! Ich war Mitglied dieser Enquete- Kommission!)

Herr Hirche, für Niedersachsen würde das, wenn wir bei dem alten Anteil blieben, zehn bis elf neue Atomkraftwerke bedeuten. Wer sagt, wir brauchen

die Atomenergie, sollte den Leuten auch sagen, wo im Land Niedersachsen in Zukunft zehn bis elf neue Atomkraftwerke mit einer Kapazität von ungefähr 1 500 Gigawatt - diese Kapazität müsste erreicht werden - gebaut werden sollen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich weiß, dass diese Diskussion für Sie unangenehm ist.

(Zuruf von der FDP: Überhaupt nicht!)

Warum ist sie unangenehm? - Sie ist unangenehm, weil 70 % der Bundesbürger und mehr gegen die Fortsetzung der Nutzung der Atomenergie sind. Wenn Edmund Stoiber mit seiner Initiative ein Ergebnis gehabt hat, dann dies, dass in dem erwähnten Sinne noch einmal bilanziert worden ist. Sie reden immer davon, dass Sie des Volkes Stimme hören wollen, dass Sie die Meinung der Mehrheiten berücksichtigen wollen. Warum eigentlich nicht bei diesem Thema, meine Damen und Herren?

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wenn Sie in den Sommerferien in Niedersachsen z. B. die vielen Initiativen besuchen würden, die Kinder aus Weißrussland und aus der Ukraine aufnehmen - seit Ende der 80er-Jahre gibt es in dieser Hinsicht wachsende gute Beziehungen -, könnten Sie immer wieder erleben, warum die Ablehnung der Atomenergie tatsächlich nicht nachlässt, sondern immer stärker begründet wird. Wir brauchen die Atomenergie in der Bundesrepublik nicht. Sie ist eine Technologie, die verschwindet.

(Walter Hirche [FDP]: Nein! Finnland beweist das Gegenteil!)

Es gibt weltweit kein Revival dieser Technologie, Herr Hirche. Ich füge hinzu: Tschernobyl ist der eine Grund, warum es nicht dazu kommt. Man muss dieses Risiko nicht eingehen, um Energieversorgung tatsächlich sicherzustellen.

(Walter Hirche [FDP]: Man muss ge- legentlich auch an Arbeitsplätze und Wirtschaft denken!)

Der andere Grund ist - auch das möchte ich hier ansprechen, weil Sie sicherlich wieder mit dem Klimaschutz argumentieren werden -, dass wir die Atomtechnik nicht zur Exporttechnologie machen können. Das ist völlig aussichtslos.

(Walter Hirche [FDP]: Wer baut denn in Finnland? - Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Schauen Sie sich die Situation an, schauen Sie nach Korea, Pakistan und Indien. Schauen Sie sich auf der Welt um. Überall wird immer wieder mal nach Massenvernichtungswaffen gesucht. Ich möchte keine Verantwortung für den Export einer solchen Risikotechnologie übernehmen. Vielmehr möchte ich, dass wir unsere Energiewirtschaft in Niedersachsen und in der Bundesrepublik zukunftsfähig machen, dass wir auf Effizienztechnologie und regenerative Technologie setzen. Sie wissen ganz genau, dass der Zug der Zeit schon längst in die Richtung gefahren ist.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Da- vid McAllister [CDU]: Wann geht Ihr Zug nach Brüssel?)

Bremsen Sie ihn nicht weiter. Denn das Einzige, was Ihre Initiativen immer wieder bewirken, ist, dass dieser zukunftsfähige Zug gebremst wird. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen auch in Zukunft sehr spannende Debatten zum Thema Atomenergie.

(Starker, lang anhaltender Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Frau Harms, wir wünschen Ihnen alles Gute. Machen Sie im Sinne von Niedersachsen gute Arbeit im Europäischen Parlament.

(Lebhafter Beifall bei allen Fraktionen)

Für die CDU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Herr Dr. Runkel das Wort. Ich erteile es ihm.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Harms, ich bedauere es außerordentlich, dass Sie uns verlassen werden, bieten Sie mir doch immer wieder Gelegenheit, Ihren sachlich und fachlich unbegründeten Ängsten vor der Atomenergie hier etwas Fachkompetenz entgegenzusetzen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Oh! bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Energiepolitik für die Zukunft, das ist in der Tat Umweltpolitik mit Vorrang für Umweltverträglichkeit, Sicherheit und Klimaschutz. Aber so, wie wir von CDU und FDP es verstehen, ist es zugleich auch Wirtschaftspolitik mit Vorrang für Wirtschaftlichkeit, Preisgünstigkeit und Versorgungssicherheit.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Für eine moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ist eine sichere, umweltgerechte und wirtschaftliche Energieversorgung die Grundvoraussetzung für die Standortsicherung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Manche von Ihnen werden sich an die beiden Energiekrisen der 70erJahre erinnern. Ich war damals bei der Bundeswehr und erinnere mich noch recht gut an autofreie Sonntage, die Sie ja vielleicht herbeisehnen. Aber ich erinnere mich auch gut an die damit einhergehende tiefe Wirtschaftskrise. Die damalige künstliche Verknappung der Energie führte uns drastisch vor Augen, wozu Abhängigkeit von Ölimporten führen kann. Von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, hören wir in der letzten Zeit immer häufiger, wir sollten verstärkt auf moderne Gaskraftwerke setzen. Gaskraftwerke eignen sich aus Gründen des hohen Brennstoffkostenanteils zwar in erster Linie als Spitzenlastund weniger als Grundlastkraftwerke. Aber davon einmal abgesehen: Sie produzieren natürlich - wie alle Kraftwerke, die fossile Brennstoffe verbrennen - CO2 und tragen damit zum befürchteten Klimawechsel bei. Darüber hinaus bringt uns eine zu große Abhängigkeit von Gas sowohl Risiken in der Versorgungssicherheit - Gas muss weitestgehend importiert werden - als auch wirtschaftliche Risiken, denn die steigende Nachfrage und die Koppelung an den Ölpreis treiben selbstverständlich auch den Gaspreis in die Höhe. Vor dem Hintergrund der Endlichkeit der fossilen Brennstoffe, aber auch der spaltbaren Materialien für Kernreaktoren - darauf komme ich gleich zurück - ist eine zielorientierte Politik in Richtung nachhaltiger, erneuerbarer Energien und eines sparsamen Umgangs mit Energien unbedingt notwendig.

(Walter Meinhold [SPD]: Warum leh- nen Sie den Antrag der Grünen dann ab?)

- Herr Meinhold, ich meine, dass wir uns wenigstens darin einig sind. - Dabei wird im Übrigen jeder Verbraucher aus wirtschaftlichen Gründen - Energie kann eben nicht zum Nulltarif bereitge

stellt werden, Herr Meinhold - um Sparsamkeit bemüht sein; denn das Portmonee ist bekanntlich eines der empfindlichsten Körperteile eines jeden Menschen.

Frau Harms, der von Ihnen schon zitierte Bundesminister a. D. Dr. Werner Müller - jetzt Vorsitzender des Vorstandes des RAG-Konzerns - nahm kürzlich an einem Symposium zum Thema „Zukunft der Stromversorgung in Deutschland und Europa“ teil. Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie hätten da übrigens einmal etwas lernen können, wenn Sie denn da gewesen wären; aber Sie verlassen sich ja lieber auf Ihre Experten, Frau Harms, die, wie wir in Ihrem Antrag lesen müssen, durch Einsparung von Leitungsverlusten 20 % Strom sparen können, obwohl die gesamten Leitungsverluste der heutigen Stromnetze nur etwa 4,3 % betragen. Das ist das Perpetuum mobile, aber vielleicht zu schwierig für Sie. Auf diesem Symposium sagte Dr. Müller: Dem Leitbild der Nachhaltigkeit wird Energiepolitik nur dann gerecht, wenn sie die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stärkt und so einen aktiven Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung leistet. Er fügte dann hinzu, dass er froh sei, so etwas jetzt, wo er nicht mehr Minister einer rot-grünen Bundesregierung sei, auch wieder öffentlich sagen zu können. Recht hat er, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)