Protocol of the Session on October 29, 2003

Meine Damen und Herren, bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung geht es auch noch um etwas anderes. Es geht um die Zukunft des Schuldprinzips und damit um das Strafrecht überhaupt. Wenn den Wegsperrgesetzen keine Grenzen gesetzt werden, wird Strafrecht zu einem uferlosen Recht der inneren Sicherheit, das nicht mehr Täter, sondern nur noch Risikofaktoren kennt. Ein von Misstrauen gekennzeichnetes Menschenbild steckt dahinter. Der Mensch mutiert zum Sicherheitsrisiko. Ich frage mich auch kriminologisch, Herr Noack: Haben wir bald wieder den genetisch disponierten Kriminellen, wie Sie es hier dargestellt haben?

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, mit dem Begriff der Prävention wird mittlerweile viel Schindluder getrieben. Er wird von den innenpolitischen Hardlinern umdefiniert. Die eigentliche Bedeutung besteht darin, einer negativen Entwicklung vorzubeugen, ohne dabei allerdings die Rechte unbeteiligter oder unschuldiger Menschen einzuschränken. Davon kann mittlerweile keine Rede mehr sein. Wir haben in Niedersachsen die präventive Telefonüberwachung ohne konkreten Anfangsverdacht. Bei der Sicherungsverwahrung handelt es sich um präventives Einsperren. Damit werden möglicherweise Falsche eingesperrt. Manche Nationen füh

ren bereits Präventivkriege und haben damit dem internationalen Recht schwere Schäden zugefügt.

(Glocke des Präsidenten)

- Herr Präsident, ich komme sofort zum Ende.

Der präventive Sicherheitsstaat ist eine abschreckende Vision. Ich finde davon jedenfalls nichts in der Niedersächsischen Verfassung. In Artikel 1 steht „Niedersachsen ist ein freiheitlicher, republikanischer, demokratischer, sozialer und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichteter Rechtsstaat“. Von innerer Sicherheit und Präventionsstaat steht darin überhaupt nichts. Konservative haben nicht das Interpretationsmonopol, was die angeblichen Kernaufgaben des Staates angeht. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Als nächster Redner hat sich Herr Lehmann von der Fraktion der FDP gemeldet.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die meisten Punkte zu diesem Thema sind gesagt worden.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Was ich allerdings überhaupt nicht verstehe, ist das, was zuletzt von Herrn Briese ausgeführt wurde. Zum Schluss konnte ich Ihre Äußerungen nicht mehr nachvollziehen, wenn Sie sich in Bereichen ereifern und sagen, es seien auch schon präventiv Kriege geführt worden. Was das mit diesem Thema zu tun hat, ist mir wirklich schleierhaft.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Aber jetzt zur Sache. FDP und CDU werden mit dem Gesetz, das wir in wenigen Minuten beschließen werden, mehr Schutz für die Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen schaffen. Wir schaffen mehr Sicherheit, und zwar eine Sicherheit, die eben nicht mit den bestehenden Gesetzen geschaffen werden kann. Es ist schon dargelegt worden: Nur wenn im Strafurteil die Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten wurde,

kann sie hinterher noch durchgeführt werden. Das wollen wir ändern.

(Unruhe)

Herr Lehrmann, warten Sie bitte einen Augenblick! - Meine Damen und Herren, es ist wirklich unheimlich laut. Wer diskutieren möchte, der geht hinaus, und die anderen hören dem Redner zu.

Herr Lehmann, Sie haben das Wort.

Danke schön, Herr Präsident. - Die Frage, die von der Opposition aufgeworfen wird, lautet, ob wir eine solche Regelung überhaupt brauchen; sie schränke die Rechte der eventuell Betroffenen zu sehr ein. Ich halte die Bedarfsdiskussion in diesem Fall für fatal. Es geht nicht um die Frage, ob Bedarf besteht oder nicht, sondern es geht um die Frage, welchen Schutz wir für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erreichen müssen, und nicht um die Frage, wie viele davon letztendlich betroffen sind.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Wir haben in der Anhörung gehört, dass in Niedersachsen zurzeit ungefähr sechs Fälle in Betracht kommen, auf die das Gesetz Anwendung findet. Sechs Fälle heißt: Sechs Personen gefährden nach der derzeitigen Einschätzung der Justizvollzugsanstalten - die Fälle wurden interdisziplinär aus verschiedensten Bereichen zusammengetragen und bewertet - mit großer Sicherheit viele bzw. eventuell mehrere Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Land. Das heißt, wir müssen für die Sicherheit dieser Mitbürgerinnen und Mitbürger etwas tun. Dann ist es falsch, Herr Helberg, wenn Sie sagen, wenn sich jemand nur einmal der Therapie entziehe, sei er praktisch schon in der Unterbringung. So ist es gerade nicht. Im Gesetz ist ausdrücklich vorgesehen - das begrüßen wir ausdrücklich -, zwei sachverständige Gutachter einzuschalten - einen Gutachter, der die Begutachtung extern vornimmt, d. h. der den Betroffenen nicht kennt, und ein Gutachter, der ihn aus dem Vollzugsbereich kennt. Dadurch wird eine möglichst objektive Begutachtung vorgenommen, wie hoch das Gefährdungspotenzial der betreffenden Person tatsächlich ist.

Alles zusammengeführt - das Verhalten der Person, die Begutachtung und die Äußerungen über

die Person, eingebunden in ein unstreitig rechtsstaatliches Verfahren -, gewährleistet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass wir nur die Extremfälle erfassen. Nur die sind uns in der Anhörung genannt worden. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass diese Personen nicht wieder - ich sage es einmal etwas platt - auf die Menschheit, auf die Niedersachsen losgelassen werden und ihr Gefährdungspotenzial entfalten können.

Es ist ganz wichtig festzustellen, dass es nicht um Petitessen geht. Wir sperren nicht jeden weg, und wir wollen auch nicht jeden einfangen und wegsperren. Darum geht es überhaupt nicht. Es geht um den Schutz für Leben, für Freiheit, für den Leib und für die sexuelle Selbstbestimmung. Ich meine, diese wichtigen Kernelemente sollten es uns wert sein, eine Regelung zu treffen, die es uns ermöglicht, in ganz bestimmten, wenigen Fällen - aber dafür in Fällen, denen wir genau auf den Grund gehen - die Sicherheit für die niedersächsischen Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Deshalb wird die FDP-Fraktion diesem Gesetz gerne zustimmen.

(Beifall bei der FDP)

Das Wort für die Landesregierung hat die Ministerin Frau Heister-Neumann. Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf will eine bedenkliche Sicherheitslücke schließen. Derzeit müssen auch hochgradig gefährliche Straftäter nach Verbüßung ihrer Haft entlassen werden, sofern nicht ein Gericht bei der Verurteilung auch Sicherungsverwahrung angeordnet oder sich die Anordnung vorbehalten hatte. Es geht eben nicht um irgendeine Straftat. Es geht nicht um irgendwelche Straftäter, sondern es geht um besonders gefährliche Straftäter, und es geht auch um Gewaltverbrechen, meine Damen und Herren.

Insbesondere in Fällen, in denen sich die Gefährlichkeit erst im Vollzug zeigt, haben wir momentan keinerlei Handhabe. Meine Damen und Herren, Sie werden mir sicherlich beipflichten, dass auch die Mitarbeiter im Vollzug, die über Jahre hinweg mit den entsprechenden Straftätern zu tun haben, in

gewisser Hinsicht sicherlich schon eine Einschätzung der Persönlichkeitsentwicklung dieser Menschen vornehmen können.

Zweifellos reden wir über eine geringe Anzahl von Fällen; denn nur ein kleiner Teil der Straftäter ist wirklich derartig gefährlich, dass eine Unterbringung nach verbüßter Straftat notwendig ist. Es wäre aber wirklich weltfremd zu behaupten, dass es solche Straftäter nicht gibt bzw. niemals geben wird. Wir haben im Fachausschuss schon darüber berichtet: Auch unsere Justizvollzugsanstalten, denen wir vorab einen Entwurf des Gesetzes übersandt haben, haben nach sorgfältiger Prüfung sechs Gefangene benannt, die wegen ihrer Gefährlichkeit für eine Unterbringung in Frage kämen. Die Gefährlichkeitsprognosen in diesen Fällen sind sehr wohl fundiert. Sie wurden durch die jeweils zuständige Vollzugskonferenz erstellt. Dabei handelt es sich um den mit der Behandlung des Gefangenen befassten, interdisziplinär besetzten Mitarbeiterstab aus allgemeinem Vollzugsdienst, Abteilungsleitung, Sozialdienst, psychologischem Dienst, Psychiatern sowie Vollzugs- und Anstaltsleitern, die alle ihr Fachwissen einbringen, das sie über Jahre hinweg auch in Zusammenarbeit mit den Gefangenen aufgebaut haben.

Natürlich ersetzen diese Prognosen auch nicht die noch im Unterbringungsverfahren einzuholenden Gutachten. Wir wissen nicht, ob die zwei vorgesehenen Sachverständigen diese Prognosen bestätigen werden. Entscheidend ist für mich jedoch: Wenn unsere Justizvollzugsanstalten bei derzeit sechs Gefangenen Bedenken haben, diese zu entlassen, müssen wir gerüstet sein, um angemessen reagieren zu können.

(Beifall bei der CDU)

Wenn wir abwarten, bis etwas passiert, ist es für das potenzielle Opfer in jedem Fall zu spät. Der vorliegende Gesetzentwurf ist deshalb ein wesentlicher Beitrag zum Opferschutz. Dabei ist uns das verfassungsrechtliche Risiko einer möglicherweise fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Landes sehr wohl bewusst, meine Damen und Herren, und zwar nicht erst seit heute und auch nicht erst seit letzter Woche, seitdem sich das Bundesverfassungsgericht damit beschäftigt hat.

(Friedhelm Helberg [SPD]: Warum warten Sie die Entscheidung nicht ab?)

- Darauf komme ich noch zu sprechen, Herr Helberg. - Anlässlich der ersten Lesung habe ich bereits deutlich gemacht, dass wir froh und glücklich wären, wenn wir auf Bundesebene eine in das Strafrecht eingebettete Regelung der nachträglichen Sicherungsverwahrung erreichen könnten. Bedauerlicherweise hat Rot-Grün bisher aber eine solche Regelung verhindert.

(Zustimmung bei der CDU)

Der Bund entzieht sich seit Jahren seiner Verantwortung als Gesetzgeber und zieht es vor, das Problem an die Länder abzuschieben und auf die dort vorhandene Kompetenz zur Gefahrenabwehr zu verweisen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Ursula Körtner [CDU]: Schweinerei!)

Diese Haltung stammt nicht nur von der ehemaligen Bundesjustizministerin, sondern sie hat sich in der letzten Woche in der Stellungnahme der Bundesregierung gegenüber dem Bundesverfassungsgericht erneut offenbart.

Zum Schutz unserer Bürger haben wir uns daher unmittelbar nach unserem Regierungsantritt entschieden, zweigleisig vorzugehen. Zum einen unterstützen wir den Gesetzentwurf des Bundesrates mit dem Ziel, die nachträgliche Sicherungsverwahrung bundeseinheitlich zu regeln. Dieser Entwurf liegt im Bundestag bereits vor. Zum anderen machen wir konsequent - solange keine strafrechtliche Regelung existiert - von unserer Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Polizeirechts Gebrauch. Dabei ist uns bewusst, dass dies nur die zweitbeste Möglichkeit ist; denn gefahrenabwehrrechtlich kann keine umfassende Regelung getroffen werden.

Meine Damen und Herren, wir wollen - anders als die Opposition - mit der Verabschiedung des Gesetzes nicht warten, bis das Bundesverfassungsgericht entschieden hat. Einer der sechs benannten niedersächsischen Gefangenen soll im November entlassen werden. Ich muss deutlich sagen: Ich habe ein besseres Gewissen, wenn wir bis dahin die Möglichkeit schaffen, die Notwendigkeit einer nachträglichen Sicherungsverwahrung zu prüfen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Aber auch über diesen konkreten Einzelfall hinaus: Wir wissen nicht, wann und vor allem wie das

Bundesverfassungsgericht entscheiden wird. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass es eine fehlende Gesetzgebungskompetenz der Länder feststellen wird. Das muss aber nicht zwingend dazu führen, dass alle bestehenden Ländergesetze für nichtig erklärt werden. Ich könnte mir auch vorstellen, dass das Bundesverfassungsgericht die bestehenden landesgesetzlichen Regelungen für so lange anwendbar erklärt, bis der Bundesgesetzgeber in Ausübung seiner Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht eine entsprechende Regelung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung geschaffen hat. Dafür spricht vor allem, dass sich auch das Bundesverfassungsgericht der Gefährlichkeit dieser Täter bewusst ist und das auch in dem jetzigen Verfahren zum Ausdruck gebracht hat. Wenn wir jetzt nicht handeln, riskieren wir bis zum Tätigwerden des Bundesgesetzgebers die Verletzung fundamentaler persönlicher Rechte durch Schwerstkriminelle, deren Gefährlichkeit allseits bekannt ist. Bei dieser Güter- und Risikoabwägung entscheide ich mich für den Schutz des einzelnen Bürgers und der einzelnen Bürgerin in unserem Land.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine Damen und Herren, deshalb halte ich die Verabschiedung dieses Gesetzes bereits zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur für sinnvoll, sondern auch für notwendig, und bitte Sie alle sehr herzlich, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Jörg Bode [FDP]: Das machen wir doch gerne!)

Für die SPD-Fraktion hat sich die Abgeordnete Frau Bockmann zu Wort gemeldet. Frau Bockmann, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach den heutigen Plenarbeiträgen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung steht eines erneut fest: Im Bereich der Sicherheitspolitik klafft bei den Regierungsfraktionen bzw. bei der Landesregierung eine riesengroße Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Das Fatale an dieser Situation ist, dass der Bevölkerung nicht erfüllbare Ansprüche als Wirklichkeit verkauft werden.

Zu Ihrer gesetzgeberischen Aktivität: Richtig ist, dass auch andere Bundesländer Gesetze zur nachträglichen Sicherungsverwahrung haben.