Protocol of the Session on November 16, 2006

Weil das heute in unserer Gesellschaft nicht mehr richtig verstanden wird, gibt es diese falsche Zweckorientierung. Wenn man dann sagt, dies alles müsse sich an den Arbeitsplätzen orientieren – man kann ja sagen, einer der ersten bedeutenden Geisteswissenschaftler europäischer Geschichte war der alte Sokrates. Was hat der Mann den ganzen Tag getan? Er hat herumgelungert, hat nie mehr eine vernünftige Arbeit gemacht, seine Frau hat ihn später verprügelt. Er war eigentlich Schuhmacher. Oder was hat Aristoteles gemacht? Der hat eine Akademie betrieben, wo sich lauter Herumlungerer den ganzen Tag unterhalten haben. Oder Epikur in seinem Garten. Oder nehmen Sie Jesus von Nazareth: Der hat auch nicht richtig doll gearbeitet. Davon liest man nicht viel. Er hat Tote zum Leben erweckt, aber deswegen hat er nicht Medizin studiert.

(Heiterkeit bei allen Fraktionen – Bernd Reinert CDU: Ich gebe Ihnen mal ein Buch darüber!)

Diese enge Funktionalisierung des Sinnwissens auf Berufstätigkeit – da ist mir doch ein Taxifahrer lieb, der interessant zu unterhalten weiß. – Danke.

(Beifall bei der GAL, der SPD und bei Dietrich Rusche und Jens Grapengeter, beide CDU)

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Dann kommen wir zur Abstimmung, zunächst zum SPD-Antrag aus der Drucksache 18/5271. Wer diesem zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Das ist mit Mehrheit abgelehnt.

Nun zum CDU-Antrag aus der Drucksache 18/5214. Wer möchte diesen Antrag annehmen? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Bei vielen Enthaltungen ist der Antrag angenommen.

Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 49 und 51, den Drucksachen 18/5188 und 18/5190, Berichte des Rechtsausschusses: Bearbeitungszeiten in den Hamburger Familiengerichten und: Mitwirkung der Jugendämter in strittigen Sorgerechtsfällen und anderen gesetzlich begründeten Aufgaben.

[Bericht des Rechtsausschusses über die Drucksache 18/4292: Bearbeitungszeiten in den Hamburger Familiengerichten (Große Anfrage der SPD-Fraktion) – Drucksache 18/5188 –]

[Bericht des Rechtsausschusses über die Drucksache 18/4623: Mitwirkung der Jugendämter in strittigen Sorgerechtsfällen und anderen gesetzlich begründeten Aufgaben II (Große Anfrage der SPD-Fraktion) – Drucksache 18/5190 –]

Wer wünscht das Wort? – Herr Klooß, Sie haben es.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! In Hamburg sind es die Namen Jessica und Elias, in Bremen ist es der Name Kevin, die uns in den letzten Wochen und Monaten in schrecklicher Weise vor Augen geführt haben, unter welchen Bedingungen und auf welche Weise Kinder in unserem Land leben und erzogen werden.

Es ist keine Frage, dass es Verantwortung der Eltern ist, für das Kind zu sorgen. Der Staat und die Gesellschaft müssen hinter diesem Erziehungsvorrang der Eltern zurückstehen. Sie müssen das grundgesetzlich in Artikel 6 geschützte Recht der Eltern achten und respektieren. Das Grundgesetz bestimmt aber auch, dass die staatliche Gemeinschaft über die Betätigung dieses Rechts, also die Art und Weise, wie Erziehung ausgeübt wird, zu wachen hat. Tatsächlich sprechen Verfassungsrechtler von einer Wächterfunktion, die sich allein am Wohl des Kindes auszurichten hat.

Es muss die selbstkritische Frage aller Politiker und Bürger sein, ob die staatliche Gemeinschaft dieser Wächterfunktion hinreichend nachkommt. In den Fällen, die ich eingangs erwähnt hatte, ist dies zum Teil in tragischer Weise nicht geschehen. Ein wichtiger Teilaspekt hierbei ist, was Verwaltung und Justiz besser machen können,

um zukünftig schneller und effizienter in Fällen zu reagieren, in denen eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls durch die Eltern zu befürchten ist.

Der Fall des kleinen Elias wirft die Frage auf, ob die Verfahren zur Entziehung des Sorgerechts schnell genug durchgeführt werden. Im Fall Elias hatten die Allgemeinen Sozialen Dienste am 27. Januar 2006 den Sorgerechtsentzug beantragt. Über diesen Antrag wurde erst gut einen Monat später, am 28. Februar 2006, entschieden. Das ist ein Monat, in dem der kleine Elias weiter unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Wohnung der Eltern leben musste, obwohl die Behörden bereits von diesen Umständen wussten. Es ist keine Frage, dass in einem solchen Fall jeder Tag für das Wohl des Kindes von Bedeutung ist.

Bei unseren Beratungen im Rechtsausschuss hat der Senat mitgeteilt, dass in Fällen der Kindeswohlgefährdung zumeist eine sofortige einstweilige Anordnung auf Sorgerechtsentzug durch das Familiengericht ergehe. Warum dies im Fall Elias nicht geschehen ist, haben wir nicht erfahren. Die rechtliche Möglichkeit dazu hätte jedenfalls bestanden. Die sachlichen Voraussetzungen – nämlich eine massive Gefährdung des Kindeswohls – lagen zweifellos vor.

Ohne den genannten Einzelfall weiter heranziehen zu wollen, wird eines schnell klar: Die Einleitung eines Verfahrens zur Sorgerechtsentziehung durch die Behörden muss von vorn herein als eine Eilsache eingestuft werden, welche in der Regel der Erlass einer einstweiligen Anordnung zu folgen hat. Nur so kann weiterer Schaden von den Kindern abgewandt werden.

(Beifall bei der SPD)

Es ist nicht die Position der SPD, Kinder ihren Eltern zu entziehen und sie aus Familien herauszureißen.

(Wolfhard Ploog CDU: Das dürfen Sie auch nicht, Herr Klooß!)

Uns allen ist sehr wohl bewusst, dass die Fremdunterbringung von Kindern außerhalb der Familien in höchstem Maße problematisch ist. Daher ist zu Recht ein Großteil der Verfahren, die von den Behörden bei den Familiengerichten anhängig gemacht werden, darauf gerichtet, geeignete Maßnahmen zu finden, um die konkrete Situation des Kindes zu verbessern. Dass solche Verfahren, in denen Gutachten eingeholt werden müssen und Eltern sowie gegebenenfalls das Kind selbst anzuhören sind, nicht innerhalb von Tagen erledigt werden können, bedarf keiner weiteren Erklärung. Unser besonderes Augenmaß muss aber den Fällen gelten, in denen wegen der massiven Gefährdung des Kindes die einzige zur Abwehr dieser Gefahr geeignete Maßnahme die Sorgerechtsentziehung per einstweiliger Anordnung ist.

Dass solche Verfahren statistisch nicht erfasst werden und der Senat hierzu keine stichhaltigen Angaben machen konnte, ist ein großes Versäumnis. Der Senat täte gut daran, in diesen ganz besonderen Fällen – die ja keineswegs die Regel sind – auf eine gesonderte Datenerfassung zu achten, sodass später nachzuvollziehen wäre, wie lange derartige Verfahren tatsächlich dauern.

Was dem Senat bislang an Daten hierzu zur Verfügung steht, ist vollkommen unzureichend. Man fragt sich, wie auf diese Weise überhaupt zu kontrollieren sei, dass die Behörden ihrer Wächterfunktion nachkommen. Der Senat

muss dafür sorgen, dass die zuständigen Behörden in personeller wie in fachlicher Hinsicht dazu in der Lage sind, die ihnen zustehenden rechtlichen Mittel zum Wohle des Kindes zu nutzen und einzusetzen. Das heißt gegebenenfalls, dass Ihnen rechtliche Unterstützung durch das Rechtsamt oder auch externe Anwälte gewährt wird. Die rechtlichen Instrumentarien, unsere Kinder zu schützen, sind da. Sie müssen nur konsequent zur Anwendung kommen.

(Beifall bei der SPD)

Es wird in dieser Gesellschaft viel zu wenig für diejenigen getan, die Schutz und Hilfe am meisten nötig haben, die Kinder. Wenn Eltern sich ihrer natürlichen Aufgabe der Sorge um das Kindeswohl verweigern, müssen die Gesellschaft und der Staat diese Stelle einnehmen. Ein Senat, der hier hilflos mit den Schultern zuckt und bar jeder Selbstkritik ist, ist seinen Pflichten, die ihm das Grundgesetz auferlegt, nicht gewachsen.

(Beifall bei der SPD – Wolfhard Ploog CDU: Keine Dinger hier, Herr Klooß. Wie können Sie so etwas behaupten?)

Das Wort hat Herr von Frankenberg.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Es ist ein wichtiges Thema, das uns heute hier beschäftigt. Es ist intensiv beraten worden, nicht nur anhand dieser Drucksachen, sondern auch anhand von anderen Drucksachen, mit denen wir uns in der Vergangenheit beschäftigt haben. Ich sehe, was die grundsätzlichen Ausführungen angeht, große Einigkeit im Hause. Wir sind uns alle einig, dass es bei Kindeswohlgefährdung keine unnötigen Verzögerungen geben darf.

(Dr. Andrea Hilgers SPD: Gar keine!)

Es muss schnell, aber ausgewogen und sachgerecht entschieden werden. Fehlentscheidungen wären katastrophal. Ich glaube, da sind wir uns alle einig.

(Beifall bei der CDU)

Ich stelle fest, dass der Bürgerschaft, aber auch dem Senat, das Thema wichtig ist. Es genießt hohe Aufmerksamkeit und es wird auch genau auf Einzelfälle geachtet. Wichtig ist, dass wir uns einerseits auch einmal Einzelfälle in den Ausschüssen der Bürgerschaft ansehen. Man kann so beispielhaft Strukturen und Arbeitsweisen erkennen und so einiges nachvollziehen.

Wir müssen jedoch auf eines achten – das hat nicht viel mit dem Fall Elias speziell zu tun, sondern dies ist eine allgemeine Anmerkung, die ich anlässlich dieses Themas machen möchte, da mich dies auch umtreibt: dass man die Privatsphäre trotzdem achtet. Wenn man den Vorname, den Anfangsbuchstaben des Nachnamens und die Lebensumstände nennt, ist die Anonymität des Falles nicht mehr gegeben. Darauf muss man aber achten. Dies ist auch ein Appell an die Medien: Anonymisieren Sie, vielleicht auch mit Änderung der Vornamen, denn vieles wird anhand der Lebensumstände bereits preisgegeben. Wenn wir den Menschen im Einzelfall helfen wollen, ergibt es wenig Sinn, wenn er danach im Stadtteil oder in der Region stigmatisiert ist. Das ist ein wichtiger Punkt, was Einzelfälle angeht.

(Beifall bei der CDU)

Wir haben hier zwei Themenkomplexe, die gemeinsam diskutiert werden, in meinen Augen auch durchaus zu Recht. Das gehört ja alles zusammen. Der Ausschuss hat sich mit dem Fall Elias beschäftigt, die Entscheidung ist innerhalb von vier Wochen ergangen. Das ist, so, wie der Fall wohl lag, durchaus vertretbar, denn die Senatsauskunft beruhigt, dass Verfahren wegen Kindeswohlsgefährdung immer Eilsachen seien. Das ist ganz wichtig. Es gibt auch am Wochenende bei den Familiengerichten einen Eildienst. Insofern ist die organisatorische Aufstellung sachgerecht.

Ansonsten darf ich darauf hinweisen, dass einstweilige Anordnungen in diesem Zusammenhang häufig verfügt werden. Warum es in diesem Fall nicht geschehen ist, möchte ich nicht beurteilen. Ich gehe davon aus, dass ein Richter, wenn er dies nicht tut, gute Gründe hat. Aber das ist hier nicht unsere Aufgabe.

Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das Thema erneut ansprechen. Wichtig ist, dass wir klar machen, dass wir auf die Einzelfälle achten, die bekannt werden, und dass die Vernachlässigung von Kindern ein Thema für das Parlament ist. Dieses Signal muss von der Debatte heute ausgehen.

Gut finde ich auch die Anregung der CDU-Fraktion, die in den Ausschussberatungen aufgekommen ist, dass wir die Rechtsstellung der Pflegeeltern stärken sollten. Da gibt es Verbesserungsbedarf. Diesem Thema sollten wir uns zuwenden, wobei wir bedenken müssen, dass die Grenze all dieser Tätigkeit Artikel 6 des Grundgesetzes ist, der Vorrang des Rechts der Eltern, und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Herr Klooß hatte sich ja so ähnlich geäußert. Ich glaube, wir sind uns einig, dass unser Ziel nicht ist, Kinder aus der Familie wegzunehmen und als obrigkeitsstaatlicher Staat zu handeln. Das kann nur das letzte Mittel sein. Wir müssen zunächst versuchen, den Familien zu helfen.

Ich komme so zum zweiten Teilthema, das heute hier angemeldet worden ist, zu den Jugendämtern und den Allgemeinen Sozialen Diensten. In der letzten Zeit sind wir einen großen Schritt weitergekommen. Ich danke dem Senat ausdrücklich, dass er dieses Thema endlich angefasst hat. Wir haben einen grundlegenden Reformprozess in Gang gesetzt, der bereits vor dem Bekanntwerden des Falls Jessica begonnen hat, durch die Ereignisse aber im Brennpunkt stand. Der Sonderausschuss hat einen umfangreichen Forderungskatalog erarbeitet. Bei der Reform der Allgemeinen Sozialen Dienste ist eine Runderneuerung im Gang und vieles ist zurzeit im Umbruch. Gerade auch das Thema Datenabfrage ist wichtig. Wir brauchen natürlich ein Bild der Lage. So wie es bis vor kurzem war, mit Akten, die von Hand ausgezählt wurden, muss es der Vergangenheit angehören. Insofern kommt dem Thema Datenverarbeitung eine große Bedeutung zu. Wir haben uns in dieser Woche am Dienstag im Familien-, Kinder- und Jugendausschuss intensiv damit auseinandergesetzt. Wir haben dort – das will ich nicht verhehlen – einen Dissens zwischen Opposition und CDU-Fraktion gehabt, die einen sagen, das gehe nicht schnell genug und müsse noch besser werden. Ich möchte aber festhalten, dass die Richtung stimmt und dass es voran geht. Die Sozialen Dienste werden erneuert. Was auch ganz wichtig ist: Bei der Personalausstattung in den Bezirken – darüber haben wir ja schon mehrfach gesprochen – haben wir einen echten Durchbruch erzielt. Wir haben geringe Vakanzen

und es gibt sogar externe Neueinstellungen. Das ist eine wirklich gute Sache.

(Beifall bei der CDU)

Wichtig sind auch vereinheitlichte Verfahren und dass nicht jede Dienstelle des Allgemeinen Sozialen Dienstes ihren eigenen Stiefel macht, sondern dass wir einheitliche Handlungs- und Vorgehensweisen haben. Ich möchte aber eines betonen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Dienststellen brauchen auch unser Vertrauen. Ich kann mir vorstellen, dass im Moment großer Druck auf ihnen lastet. Da ist zum einen das öffentliche Interesse – unsere heutige Debatte tut das kund –, aber auch die Medien berichten immer wieder schnell und die Amtsleitung achtet sehr genau, was dort passiert. Ich kann mir vorstellen, dass dies für die Menschen, die dort arbeiten, eine große Belastung ist. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, dass wir ihnen Anerkennung für ihre schwierige Tätigkeit zollen. Wir wissen, dass Reformen schwierig sind.

(Beifall bei der CDU und bei Dr. Andrea Hilgers SPD)

Die Frage ist, wie es weiter geht. Das Thema ist – das wissen wir alle – nicht mit der heutigen Debatte abgeschlossen. Es ist ein Prozess, wir werden immer wieder darüber reden. Schön ist, dass wir uns im Grundsatz einig sind. Insofern, denke ich, können wir in Zukunft zu gemeinsamen Lösungen kommen. Wir werden uns demnächst mit der Stellungnahme des Senats zum Ersuchen der Bürgerschaft vom Februar zum Bericht des Sonderausschusses "Vernachlässigte Kinder" befassen. Das ist eine gute Gelegenheit, gemeinsam unaufgeregt eine Zwischenbilanz zu ziehen. Dort werden wir sicherlich einige Schritte weiterkommen. Heute nehmen wir dies erst einmal zu Kenntnis, aber die Arbeit am Thema geht weiter.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort erhält die Abgeordnete Blömeke.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Berichte des Rechtsausschusses geben in der Tat Anlass, dass wir hier über zwei wichtige Themen debattieren können, zum einen über die Rolle der Familiengerichte zum Schutz der Kinder, zum anderen – Herr von Frankenberg hat es angesprochen – über die Arbeit der Allgemeinen Sozialen Dienste im Zusammenhang mit den Erwartungen, die wir an sie richten.

Zum ersten Punkt, zu den Familiengerichten: Den Familiengerichten – das ist uns allen klar – kommt beim Schutz der Kinder eine ganz bedeutende Rolle zu, denn sie sind diejenigen, die das Sorgerecht entziehen können, die entscheiden müssen, und zwar schnell. Das ist unstrittig. In dem Bericht wurde deutlich geschildert – wir wissen es auch –, dass es in Fällen der dringenden Eilbedürftigkeit einen Eildienst gibt, sodass mein Schwerpunkt nicht auf der zeitlichen Schiene liegt. Diese ist wichtig, aber mindestens so wichtig wie die Bearbeitungszeit an den Familiengerichten ist die Kooperation mit den Jugendämtern. Hier sind nämlich zum Schutz gefährdeter Kinder dringend Verbesserungen erforderlich, die der Senat bislang nicht angegangen ist. Leider werden in der Praxis die Familiengerichte oft erst zu spät angerufen,